Freitag, April 25

Philip Cheung / 54242157v

In der Wüste hinter Los Angeles blüht der Schwarzmarkt. Polizisten wie Sergeant Derek Stokes stürmen und zerstören jede Woche illegale Marihuana-Plantagen. Unsere Reporterin war dabei.

In einem letzten Versuch, sein Leben zu retten, bat Franklin Bonilla jene Leute um Hilfe, die er wie der Teufel das Weihwasser mied: Er wählte die Nummer der Polizei.

«911 – was ist Ihr Notfall?», meldete sich jemand. «Ich wurde angeschossen», sagte Bonilla auf Spanisch. Wo er genau sei, wollte die Stimme am anderen Ende wissen.

Es war ein Dienstagabend Ende Januar in der Mojavewüste. Im schwindenden Tageslicht verlor die Einöde ihre letzten Konturen. Noch war es nicht dunkel genug, dass man die Lichter von Los Angeles hätte erkennen können, die in klaren Nächten wie ein unheimlicher Heiligenschein über dem Mount Saint Antonio leuchten. Es könnte sein, dass Bonillas Todesangst die Erinnerung daran verdrängte, wie er an diesen gottverlassenen Ort gelangt war, jedenfalls antwortete er: «No lo sé» – ich weiss nicht. Dann wurde die Verbindung unterbrochen.

Im Finsteren suchte ein Helikopter nach Bonilla. Sein Telefon konnte einige Dutzend Kilometer ausserhalb der Kleinstadt Adelanto geortet werden. Die Polizisten brauchten nicht lange, und ihre Scheinwerfer ertasteten zwei verlassene Geländewagen, die beide mit offenen Türen an einer Weggabelung standen. Zwischen den Wagen waren reglose Körper aufeinandergestapelt, als hätte jemand versucht, etwas Ordnung zu schaffen.

In einiger Distanz dazu ein weisser Camper. Nebenan sass in einem SUV ein Mann zusammengesackt am Steuer, vor ihm eine vom Kugelhagel durchlöcherte Windschutzscheibe. Am Boden vor den Fahrzeugen lag der Haufen aus vier teilweise angesengten Leichen. Jemand hatte offenbar versucht, sie mit Benzin zu übergiessen und zu verbrennen.

Franklin Bonilla fand man erst bei Tagesanbruch. Seine Leiche lag weiter abseits. Von hier aus musste er die Polizei gerufen haben. Bonilla war nur 22 Jahre alt geworden. Sein Mittelname lautete Noel. Er wohnte in der kalifornischen Kleinstadt Hesperia. All das teilte das Sheriff-Department von San Bernardino später mit und veröffentlichte ein Selfie von einem schwarzhaarigen Jungen mit Flaum am Kinn und einer regenbogenfarbig verspiegelten Sonnenbrille.

Wenige Meter von ihm entfernt war Bonillas zwei Jahre älterer Bruder Kevin gestorben. Nur ein Opfer konnte nicht identifiziert werden. Die sechste Leiche war so stark entstellt, dass die Polizei statt einer Fotografie eine Zeichnung publizierte, um mithilfe der Öffentlichkeit nach ihrer Identität zu suchen. Die Männer seien alle «hispanischer Abstammung», hiess es in der Mitteilung, die auch den zitierten Gesprächsverlauf des Notrufs enthielt. Die Medien berichteten später, dass Franklin und sein Bruder aus Honduras eingewandert seien.

Das Töten geht weiter

Die Morde mussten während der Abwicklung eines grossen Cannabis-Transportes passiert sein. Zu diesem Schluss kamen zwei Ermittlerinnen des Morddezernats. Offenbar gingen die beiden Polizistinnen von zwei Szenarien aus: Entweder hatte eine kriminelle Gruppierung erfolgreich versucht, der Konkurrenz mit Waffengewalt eine Drogenlieferung zu stehlen, oder es handelte sich um einen blutigen Revierkampf zwischen zwei Gangs, die mit illegalem Cannabis Geschäfte machen.

Beide Möglichkeiten schreckten die Kalifornier auf. Hatten sie nicht vor acht Jahren einen Volksentscheid gefällt, um genau solche Blutbäder zu verhindern? Nach der jahrzehntelangen Prohibition waren die Gefängnisse überfüllt mit Menschen, die wegen Cannabis-Delikten sassen, die organisierte Kriminalität rund um den Schwarzmarkt forderte jedes Jahr Hunderte von Toten. Um alldem ein Ende zu setzen, stimmten im Jahr 2016 57 Prozent der Bevölkerung für die Legalisierung von Anbau, Handel und Konsum von Cannabis . Die «Desert-Killings», so nannte man nun den Sechsfachmord in den Medien, waren für viele ein Beleg dafür, dass die liberale Drogenpolitik Kaliforniens versagt hatte. Dass es eigentlich genauso schlimm war (manche sagten sogar: schlimmer) wie vor der Legalisierung: Der Schwarzmarkt blühte. Das Töten ging weiter.

Die Erwartungen an die Legalisierung waren hoch. Einerseits würden die Gefängnisse entlastet. Vor der Legalisierung war der illegale Anbau von Cannabis ein Verbrechen und konnte mit einer Haftstrafe belegt werden. Auch wer mit der geringsten Menge Cannabis erwischt wurde, selbst Minderjährige, landete im Gefängnis. Nun sollte einerseits eine Lizenz erwerben können, wer Cannabis anbauen wollte. Und selbst wer ohne Bewilligung im grossen Stil Cannabis anbaute, würde maximal mit einer Busse von ein paar hundert Dollar bestraft.

Auf den ersten Blick klang das überzeugend. Später sollte sich zeigen: Fast alles an dieser Lösung war falsch.

2017 hingegen durfte man noch träumen. Der Harvard-Ökonom Ethan Nadelman, prominenter Befürworter der Drogenlegalisierung und ehemaliger Regierungsberater, war überzeugt: «Allein in Kalifornien wird die Legalisierung dazu führen, dass die Zahl der in Haft Gesetzten um jährlich 20 000 Personen sinkt.» Und: «Cannabis wird zur Milliardenindustrie werden!» Mehr noch. Wenn erst einmal Cannabis im legalen Markt aufblühe, werde das Experiment auf den richtig harten Stoff übertragen: Kokain, Heroin, you name it!

Legalisiert die Drogen, lautete das Mantra – dann wird alles gut.

Stokes und seine Männer

Wäre alles gut gekommen, dann wäre einer wie Sergeant Derek Stokes heute arbeitslos. Oder zumindest würde er nicht tagelang durch die Wüste brettern und illegal angebautes Marihuana eigenhändig aus dem Boden reissen. Stokes könnte sich in Ruhe auf seine Frühpensionierung mit Mitte fünfzig vorbereiten, sich auf die Hochzeit seiner Tochter freuen und vor allem mit seinem Jagdgewehr auf dem Rücken in aller Ruhe den Jepson Peak, den Bighorn Peak oder jeden anderen Dreitausender des San-Bernardino-Bergmassivs besteigen. Aber so ist es nicht gekommen.

Stokes arbeitet für eine Abteilung, die sich Gangs and Narcotics Division nennt. Der Cannabis-Schwarzmarkt gehört seit fast zwanzig Jahren zu seinen Spezialgebieten. Stokes hatte damit mehr zu tun, als eigentlich im Budget vorgesehen wäre. Kurz nach der Legalisierung geriet der illegale Anbau in seinem County ausser Kontrolle. Die nationale Behörde, die von Nixon im sogenannten «Krieg gegen die Drogen» geschaffen wurde, die DEA, hatte andere Prioritäten – zum Beispiel die Opioid-Krise, die inzwischen längst mehr Todesopfer fordert als die Crack-Epidemie der 1980er Jahre. Abgeschnitten von föderaler Unterstützung, entschloss sich der Sheriff von San Bernardino 2022 zu einer ausserordentlichen Budgeterhöhung (finanziert mit den Sondersteuern auf legalem Cannabis), um eine spezialisierte Einheit zu schaffen: das Marihuana Enforcement Team (MET). Mit der Leitung betraute er Stokes.

An einem frühen Morgen Ende März sitzt Stokes wie meistens hinter dem Steuer seines Dienstwagens, eines Ford Ranger. Im Hintergrund plappert der Polizeifunk, Stokes lenkt den Pick-up mit 100 Kilometern pro Stunde über den Highway, während er am Aufnahmegerät an seiner Schutzweste herumfummelt, die bei Einsätzen vorgeschrieben ist. Die Knöchel seiner anderen Hand sind weiss, so fest ist sein Griff ums Lenkrad. In der Mojavewüste bläst der Wind stark, der Wegrand ist gesäumt von gekenterten Sattelschleppern.

Als Derek Stokes im Januar den weiss eingezeichneten Quadranten sah, von welchem aus Bonilla die Polizei angerufen hatte, musste er nicht lange überlegen, wo das war. Vor sich sah er die Sandwüste mit kniehohen blühenden Senfsträuchern, eine Melange aus Beige und Gelb. Aber mehr noch als sehen konnte Stokes den Ort riechen: gemähter Rasen mit einem Hauch von Stinktiersekret. Der Geruch von Cannabis.

Nein, einen mit dem Erfahrungshintergrund von Sergeant Stokes musste man nicht erst an den Tatort fahren, um eine Ahnung davon zu haben, was der Auslöser eines solchen Blutbads sein könnte.

Der Sechsfachmord in Adelanto war für Stokes wie ein Rauchzeichen, das sein nächstes Einsatzgebiet markierte. Die nächsten Wochen schickte er Spähtrupps in die Gegend um den Tatort, Helikopter suchten die Wüstenoberfläche nach illegalen Plantagen ab, Stokes’ Männer observierten verdächtige Gebäude, befragten Anwohner nach auffälligen Aktivitäten: Irgendwelche ungewöhnlichen Wassertransporte? Auffällige elektrische Anlagen, die neu entstanden waren? Unsympathische Männer, die mit vollautomatischen Waffen herumliefen?

Stokes und sein Team trugen so lange Hinweise zusammen, bis sie wussten, auf welchen Grundstücken mit hoher Wahrscheinlichkeit illegal Cannabis angebaut wurde.

Den zusammengekommenen Papierkram schickten sie an eine Richterin, die Durchsuchungsbefehle ausstellt. Einen nach dem anderen – eine schier nicht versiegende Kette an schriftlichen Einverständnissen, damit Stokes’ Team Schlösser aufsägen, Türen von verrosteten Campern eintreten, Schubladen aus Möbeln zerren, Schränke umkippen und Tausende von Marihuana-Pflanzen knicken, abschneiden, zertreten und konfiszieren durfte. Das ist es, was Stokes und seine Männer tun. Und sie machen das seit ein paar Jahren besonders häufig – genaugenommen, seit Kalifornien die Cannabis-Prohibition beendet hat.

Acht Jahre sind seit der Legalisierung vergangen. Und wenn man die Satellitenbilder anschaut, könnte man annehmen: Ethan Nadelman hat mit seiner Prophezeiung recht behalten. Die Wüste ist mit Treibhäusern übersät, in denen Cannabis angebaut wird. Das Problem: Die Produzenten tun es ohne Bewilligung. Journalisten der «LA-Times» haben die Bilder ausgewertet und kommen zum Schluss: Der Schwarzmarkt blüht. Die hauptsächlichen Investoren: mexikanische Drogenkartelle und die chinesische Mafia.

Wasserdiebstahl und nächtliche Schiessereien

Stokes war ursprünglich für die Legalisierung, daran erinnert er sich. Was er davon hält, wie sie umgesetzt wurde, muss man ihn gar nicht erst fragen. Die ersten zwei Jahre gingen komplett im Regulierungschaos unter. «Keiner wusste, wo was gilt. Am allerwenigsten wussten wir es», erzählt Stokes. Jedes County und jede Stadt in Kalifornien konnte selbst entscheiden, wie weit man mit der Legalisierung gehen würde – Verkaufsstellen verbieten? Dafür Kuriere erlauben? Keine Outdoor-Plantagen, dafür Indoor-Anbau in Kellern? Oder nur ausserhalb der Wohnquartiere? «In den ersten Jahren erwischten wir Leute beim illegalen Anbau, die sich ernsthaft um eine Lizenzierung bemüht hatten, sich aber nicht zurechtfanden im Bürokratiedschungel», erinnert sich Stokes. Unwissen schützt vor Strafe nicht, heisst es. Damals habe er es den Leuten noch abgenommen, sagt Stokes, wenn sie überrascht gewesen seien, ihn mit einem Durchsuchungsbefehl vor ihrer Tür zu sehen.

Doch dann, fast über Nacht, veränderte sich die Wüstenlandschaft in San Bernardino. Von jeder Seite der Highways aus konnte man die Gewächshäuser sehen, an Weggabelungen stapelte sich der Müll aus leeren Kanistern und Plastikplanen. Die Anwohner beklagten sich über Wasserdiebstahl und nächtliche Schiessereien. Keine dieser Plantagen war bewilligt. Und die Betreiber gaben sich nicht einmal die Mühe, ihr Treiben vor den Nachbarn zu verstecken.

«Mitte 2021 konnten Sie im Lucerne Valley einen Stein in jede Richtung werfen und sicher sein, dass Sie ein illegales Treibhaus treffen», erzählt Stokes. Heute sind illegale Plantagen häufiger in Wohnhäusern versteckt oder auf Brachen unter der Erdoberfläche eingebuddelt. Für Touristen, die auf dem Weg nach Las Vegas die Mojavewüste durchqueren, mag die Landschaft flach vorbeiziehen. Doch dazwischen senkt sich der Boden zu Mulden, so gross wie Fussballfelder. Dort finden Stokes’ Männer oft Anlagen mit Tausenden von Pflanzen.

An diesem Morgen Ende März fährt Stokes in seinem Pick-up zu Plantagen, die sein Team Tage zuvor ausgespäht hat. Vier Durchsuchungsbefehle müssen an diesem Morgen durchgesetzt werden. Das mag nicht nach viel klingen. Aber im engmaschigen Netzwerk von Kriminellen warnt der erste den zweiten, und der zweite ruft den dritten an und so weiter, bis alle irgendwann Bescheid wissen, dass die Leute vom Marihuana Enforcement Team unterwegs sind, um im Auftrag des Gesetzes ihre Ernte im Wert von mehreren hunderttausend Dollar zu vernichten. Bevor alle die Fliege machen, müssen Stokes und sein Team schnell zuschlagen: ein Konvoi von sechs grauen Pick-ups voll mit Polizisten in grüner Kampfmontur.

Das Gesetz, das Stokes beharrlich durchsetzt, ist nur der letzte in einer ganzen Reihe von Versuchen, das Kraut mit dem strengen Geruch unter Kontrolle zu bringen.

Das erste Cannabis-Gesetz in den USA geht auf das Jahr 1619 zurück. Virginia schrieb den Anbau von Hanf für jeden Haushalt vor, weil man damit Tauwerk und andere nützliche Dinge herstellte. Die Gründerväter des modernen Staates George Washington und Thomas Jefferson bauten selbst Cannabis auf ihren Farmen an – und wie sie davon auch für die persönliche Gesundheit Gebrauch machten, kann man angeblich in ihren Tagebüchern nachlesen.

In der Mitte des 19. Jahrhunderts war Hanf die Nummer drei aller in Amerika angebauten Pflanzen, nach Baumwolle und Tabak. Die psychotropen Eigenschaften von Cannabis waren aber den meisten Amerikanern damals unbekannt. Angebaut wurde vor allem Hanf mit einem THC-Gehalt, der so tief war, dass ihn zu rauchen keinen Rausch verursacht hätte. Das sollte sich spätestens ändern, als Cannabis aus wärmeren Gegenden importiert wurde.

Während des Mexikanisch-Amerikanischen Kriegs flüchteten in den 1940er Jahren Scharen von Mexikanern in die USA. Mit im Gepäck hatten sie eine Pflanze, mit deren Hilfe schon ihre Urahnen körperliche und seelische Schmerzen bekämpft hatten. Da die zumeist in Armut lebenden Einwanderer keinen Anschluss an medizinische Versorgung hatten, war Cannabis oft ihr einziges Hausmittel gegen Schmerzen oder Schlaflosigkeit. Bald schon überwucherte die Pflanze die Gärten der kalifornischen Neueinwanderer und erregte das Missfallen der Weissen.

Zu einer Fussnote der Geschichte wurde, wie die Pflanze mit dem botanischen Namen Cannabis irgendwann in dieser Zeit zum gebräuchlicheren Ausdruck «Marihuana» kam. Der Stanford-Ökonom Joseph Mello erwähnt sie in seiner kürzlich erschienenen Monografie «Pot for Profit – Cannabis Legalization, Racial Capitalism and the Expansion of the Carceral State». Demnach soll die weisse Elite begonnen haben, den Ausdruck wegen des fremdländischen, gefährlichen Klangs zu verwenden. Mello schreibt: «Regierungsmitarbeiter arbeiteten daran, Cannabis in den Köpfen der Amerikaner zu rassifizieren. Sie taten dies, indem sie aufhörten, den botanischen Namen Cannabis zu nennen, sondern in offiziellen Dokumenten nur noch das kolloquiale Wort auf Spanisch zu verwenden: Marihuana.»

Es war der Beginn eines Jahrzehnte dauernden Kriegs gegen Cannabis als populäre Droge unter schwarzen Jazzmusikern und der vorwiegend weissen Hippie-Generation, die während des Vietnamkriegs auf die Bühne der Weltöffentlichkeit trat. Die Ära der Prohibition gipfelte Ende der 1960er Jahre mit der Ankündigung von US-Präsident Richard Nixon, dass Drogen fortan als «Staatsfeind Nummer eins» bekämpft werden müssten. Gemeint war damit damals vor allem das «Kiffen». Persönliche Berater des damaligen Präsidenten gaben später zu, dass Nixon mit seiner Drogenpolitik vor allem zwei Feinde im Visier hatte: die linke Anti-Kriegs-Bewegung und die Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen.

Das ist vielleicht der bemerkenswerte Punkt an der Geschichte der amerikanischen Drogenpolitik: Auch nach Jahrzehnten der Prohibition, trotz sklerotischen politischen Institutionen, die seit Jahren entscheidungsunfähig sind, trotz Gerichten, die das Rad der Zeit zurückdrehen wollen: 65 Prozent der amerikanischen Bevölkerung finden, dass Cannabis-Konsum erlaubt sein soll. Trotz der sprichwörtlichen Spaltung des Landes können sich die Amerikaner offenbar auf mindestens einen Wert besinnen: Sie wollen ohne strafrechtliche Konsequenzen kiffen dürfen. Und (denn wir sind hier immer noch in den USA) sie wollen damit Geschäfte machen. Bleibt die Frage: Wer macht das grosse Geld?

Kiffer im Anzug

Wenn es einer schafft, im neuen Cannabis-Eldorado auf legale Weise Geld zu machen, dann Andrew DeAngelo. Der 57-Jährige hatte schon als Student der kalifornischen Universität Chapman «Weed» an seine Kommilitonen verkauft. Den Erlös investierte er in Theaterprojekte und Kunstinstallationen auf dem Campus, zum Ärger der Lehrerschaft liess er sich aber weder beim Dealen noch beim Kiffen erwischen und besass obendrein die Frechheit, sein Studium mit Bestnoten abzuschliessen.

Andrew DeAngelo glaubte schon an das Wirtschaftspotenzial von legalem Cannabis, als in Kalifornien noch jeder hinter Gitter landete, der sich mit einem Joint erwischen liess. Selbst Kinder durften eingesperrt werden. Anfang der 1990er Jahre zog DeAngelo zum Schauspielstudium nach San Francisco, wo er tagsüber studierte, abends Cannabis verkaufte und sich für die Legalisierung einsetzte. Als Kalifornien den Konsum von Marihuana für medizinische Zwecke 1992 erlaubte, stieg DeAngelo voll ins Geschäft ein. In Spitzenzeiten kamen über tausend Kundinnen und Kunden täglich in sein Geschäft, alle als «Patienten» registriert.

Es war eine Zeit, in der DeAngelo auf der ganzen Welt als Gesicht der Cannabis-Wirtschaft auftrat, im massgeschneiderten Anzug, ein gesund aussehender Mann mit klarer Aussprache, so ziemlich das Gegenteil von dem, was man damals von der äusseren Erscheinung eines kiffenden Dealers erwartete.

Die Legalisierung für medizinische Zwecke, erzählte DeAngelo damals jedem, der es hören wollte, sei nur der Anfang eines riesigen wirtschaftlichen Booms. Die Zahlen gaben ihm recht. Keine andere Branche wuchs in diesen Jahren so schnell wie die von Marihuana und den daraus hergestellten Produkten wie essbaren Gummis oder dem hochkonzentrierten «Honig» zum tabakfreien Inhalieren.

Nach dem Ende einer strikten Phase der Prohibition zwischen 1930 und 1990 lockerten immer mehr Gliedstaaten ihre Gesetze, die den Konsum und den Verkauf von Cannabis unter Strafen stellten. Bis heute haben 23 Gliedstaaten den Konsum von Cannabis erlaubt, 38 Staaten haben zumindest den medizinischen Gebrauch entkriminalisiert.

Dies geschah auch aufgrund des politischen Drucks, die überfüllten Gefängnisse zu leeren, aber nicht nur. Viele Politiker sahen im wachsenden wirtschaftlichen Potenzial vor allem eins: eine Einnahmequelle durch zusätzliche Steuern.

Als Kalifornien 2016 Cannabis ganz aus der Unterwelt ans Licht der legalen Geschäftswelt holte, war der Geschäftsmann DeAngelo nur noch verhalten optimistisch. Er sah früh einen unauflösbaren Widerspruch auf sich zukommen: Laut Bundesgesetz ist Cannabis bis heute eine illegale Substanz. Oder mit anderen Worten: Für das Justizdepartement in Washington (DC) waren DeAngelo und seine Geschäftspartner immer noch dieselben herkömmlichen Kriminellen, in Kalifornien war er ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft, das Hunderte von Arbeitsplätzen sicherte und über die Jahre Millionen von Dollars an Steuern ablieferte.

Das zweite Problem, das DeAngelo erkannte: Wer legal Cannabis verkaufen will, muss nicht nur über die Lizenzen verfügen, sondern auch über ein dickes Portemonnaie, um überdurchschnittlich viele Steuern abzuliefern: Vier Steuersätze fallen vom Anbau bis zum Verkauf an. Ausserdem erlaubt die Steuerbehörde IRS nicht, dass Geschäfte wie die von DeAngelo ihre Ausgaben wie Löhne und Miete von der Steuer abziehen. Die Steuer wird also fällig auf dem Totalbetrag des Umsatzes.

All die Sonderbelastungen führen dazu, dass das legale Endprodukt in Kalifornien mindestens vierzig Prozent teurer ist als Cannabis vom Schwarzmarkt. Was das für sein Geschäft bedeutete, sah DeAngelo mit eigenen Augen, wenn er von seinem Büro aus auf den Bildschirm seiner Ladenkameras schaute. «Das Geschäft leerte sich von Tag zu Tag mehr», erzählt DeAngelo. In den letzten zwei Jahren ist der legale Markt gemäss Angaben des Department of Cannabis Control geschrumpft. Markt-Analysten berichten von Überkapazitäten, davon, dass Produzenten Mühe hätten, ihre Ware loszuwerden. Und immer wieder hört man Gerüchte in der Branche, dass billige Ware vom Schwarzmarkt in den Gestellen der Cannabis-Shops der kalifornischen Grossstädte lande.

Gerade noch rechtzeitig konnte DeAngelo seinen Betrieb verkaufen. Heute berät er hauptsächlich Cannabis-Unternehmer anderer Gliedstaaten. Denn eine Prophezeiung der Legalisierungs-Befürworter hatte sich als wahr erwiesen: Der internationale Markt für legalen Cannabis wächst, und die Branche zieht immer grössere Investoren an. Kürzlich hat etwa der amerikanische Tabak-Multi Philip Morris eine israelische Cannabis-Firma für 650 Millionen Dollar gekauft.

DeAngelo hat also quasi das Problem zu seiner ganz persönlichen Lösung gemacht. Als Berater profitiert er davon, dass Cannabis in den USA auf nationaler Ebene immer noch illegal ist, auf Ebene der Gliedstaaten allerdings ein Flickenteppich aus Gesetzen und Regulationen gilt, die sich nicht nur auf County-Ebene unterscheiden, sondern sogar je nach Stadt beträchtlich variieren.

«Der Cannabis-Markt wird bis zu einem gewissen Grad immer dual bleiben», sagt DeAngelo. «Da kann die Polizei noch so viele Plantagen ausheben, sie wird es nicht schaffen, den Schwarzmarkt auszumerzen.» Nach der Legalisierung 2016 habe er erlebt, wie im Norden Kaliforniens Hunderte von Cannabis-Bauern ihr Auskommen verloren hätten, weil sie die staatlichen Auflagen für legalen Anbau nicht erfüllt hätten. Kalifornien habe das System so pervertiert, dass die Aufhebung der Prohibition den legalen Markt abgewürgt und den Schwarzmarkt zum Florieren gebracht habe: Drogenlegalisierung als Dünger für organisierte Verbrechen.

«Waren Sie schon mal hier?»

Stokes setzt mit der Beharrlichkeit eines Sisyphos weiterhin auf Repression. Er hat keine Wahl: Solange Menschen in seiner Wüste erschossen werden wegen des illegalen Cannabis, wird er den Schwarzmarkt mit allen Mitteln bekämpfen.

Sein Konvoi ist nun auf einen schmalen Feldweg eingebogen. Auf den letzten Metern stellt Stokes die Sirene ein. Die anderen Fahrzeuge tun es ihm gleich. Vor einem Tor hält der Zug, und ein Polizist mit Seitenschneider springt aus dem vordersten Pick-up, um ein Vorhängeschloss am Tor zum Grundstück aufzutrennen. «Ich lasse den Wagen offen. Falls Schüsse fallen – hinter dem Motorblock sind sie am sichersten», sagt Stokes und fügt gleich an: «Wir wissen nie, wen wir auf Plantagen vorfinden, manchmal niemanden, manchmal eine ganze Gruppe mit Maschinengewehren.» Dann tritt er aufs Gas.

In der Mojavewüste weht der Wind so unerbittlich kalt, dass selbst die Hunde Schutz suchen in den warmen Gewächshäusern. Doch die Frau im Plüsch-Pyjama sitzt barfuss auf einem leeren Ölfass, die Hände sind mit Handschellen auf den Rücken gebunden.

«Ich hier putzen», sagt sie auf die Frage, was ihre Aufgabe auf der Plantage sei, und deutet auf Berge von Müll, Plastikplanen und leeren Kanistern, die abseits der Gewächshäuser herumliegen. Ihr Englisch ist gebrochen. Der Mann daneben trägt ebenfalls Handschellen und behauptet, er habe die Frau noch nie gesehen. Überhaupt: Er weiss von nichts, was auf dieser Plantage passiert, auch nicht davon, dass der angebaute Cannabis illegal sein soll.

Drinnen im Wohnwagen hat Stokes einen chinesischen Pass gefunden, einen Verlustschein des Kasinos und eine Kopie von einem früheren Strafbefehl, den das MET vor einigen Monaten auf einen anderen Namen ausgestellt hatte. «Sie waren schon einmal hier?», frage ich. Stokes nickt. «Kommt oft vor», erwidert er ohne jegliches Anzeichen von Resignation. Er zeigt auf die zerstörten Gewächshäuser gleich nebenan. Offenbar hatten dieselben Leute, die damals von ihm erwischt wurden, etwas später wieder mit dem Anbau begonnen.

Jetzt schwärmen die Beamten aus, schneiden die Plastikplanen der Gewächshäuser auf, inspizieren alle Behältnisse: Wassertanks, Sprinkleranlagen, Dosen und Kanister mit Chemikalien. Dann zerstören sie alle Pflanzen. Sie laufen mit Scheren durch die Anlagen, und wo sie Setzlinge finden, zertreten sie auch die. Jeweils ein Mitglied des MET führt die Statistik, ein anderes verhört die auf dem Grundstück angetroffenen Personen, und ein weiteres steht auf dem nächstgelegenen Hügel, den Finger am Abzug eines Long Rifle.

Ganz zum Schluss kommt noch jemand von der Verwaltung mit einem Clip-Board hinzu, um alle Vergehen aufzunehmen, die dem Landbesitzer angelastet werden können: illegal gelagerte Abfälle, Verunreinigungen durch Chemikalien, die ins Grundwasser gelangen. «Das ist der einzige Hebel, den wir haben», erklärt Stokes. Denn nur wenn sie jemanden wegen eines vermuteten Umweltverbrechens anzeigen könnten, komme es auch zu einer strafrechtlichen Verfolgung.

Das Problem ist bloss: Oft wissen die Landbesitzer nicht einmal davon, dass jemand auf ihrem Land illegal Cannabis anbaut. Oder sie behaupten, es nicht zu wissen. Oder sie sitzen tatsächlich irgendwo in Oregon oder Maryland und zählen Koffer voller Bargeld, die der Kurier aus Baja California zur Abgeltung für die Landnutzung gebracht hat.

Und dann kommt der Moment, in dem der ganze Widerspruch der kalifornischen Cannabis-Politik zum Ausdruck kommt. Stokes gibt einem der Männer eine Anweisung. Der fischt einen Schlüssel aus seiner Hosentasche und geht auf die beiden Gestalten zu, die immer noch abseits mit ihren Händen auf dem Rücken gebunden sitzen. Ein feines Klicken, und die Handschellen öffnen sich. Zuerst die des Mannes, dann die der Frau. Jetzt sind sie frei.

Technisch betrachtet waren sie das immer, denn eigentlich wurden sie nicht verhaftet, sondern nur festgehalten für die Dauer der Durchsuchung. Niemand wird ins Gefängnis gesteckt, weil er illegal Marihuana anbaut. Niemand wird vom MET an die Migrationsbehörde ausgeliefert, weil er keine Aufenthaltsbewilligung für die USA hat. Stokes’ Leute finden keine Hintermänner und keine Hinterfrauen, sie erhalten keine Antworten, für wen all die Franklins und Kevins arbeiten, wem sie das Produkt verkaufen und wem sie das Geld abliefern.

Die Frau bleibt sitzen und blinzelt in die Wintersonne, die sich durch die Wolkendecke zwängt. Der Mann steht zögernd auf und schaut der abziehenden Truppe hinterher. Die beiden haben nichts zu befürchten. Aber ebenso wenig zu befürchten haben jene, die ihre Auftraggeber sind.

Denn das hat sich nicht verändert seit der Legalisierung von Cannabis: Diejenigen, die schon früher vom illegalen Drogenhandel profitiert haben, die Gang-Chefs und die Kartellbosse – sie gehen auch heute straflos aus. Und auch heute noch finden sie Leute wie die Brüder Bonilla, die verzweifelt genug sind, um das Risiko auf sich zu nehmen, nach einer gefährlichen Reise von Mittelamerika irgendwo in der kalifornischen Wüste ein blutiges Ende zu finden.

Die nächste Frage ist naheliegend, und Stokes nimmt sie gleich vorweg. «Ob mich das frustriert? Was soll ich sagen? Ich liebe meinen Beruf.» Es seien überall Feuer, die er auslösche. Und wenn es an derselben Stelle wieder brenne, dann komme er eben nochmals vorbei und lösche nochmals. Wie lange er das noch tun will, ist bereits ziemlich genau geplant. Stokes will nach seiner Pensionierung mit Mitte fünfzig und nach der Heirat der letzten Tochter mit seiner Frau aus Kalifornien wegziehen. Irgendwo, wo man wandern und jagen kann. Gerne irgendwo in der Wüste.

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