Donnerstag, November 13

Die Demokratin Harris erhält von allen Seiten Ratschläge, mit wem sie in die Wahlschlacht ziehen soll. Mit Josh Shapiro könnte sie Pennsylvania holen, heisst es, oder mit Mark Kelly dessen Heimatstaat Arizona. Doch die Überlegung dahinter beruht auf einem Irrtum.

Die Präsidentschaftskandidatin der amerikanischen Demokraten, Kamala Harris, steht vor ihrer ersten wichtigen Entscheidung: Wen soll sie den Wählerinnen und Wählern für das Amt des Vizepräsidenten vorschlagen? Die Spekulationen über den sogenannten Running Mate im Kampf um das Weisse Haus haben sich in den letzten Tagen überschlagen. Oft war dabei die Ansicht zu hören, dass sich Harris von geografischen Gesichtspunkten leiten lassen werde. Ein Politiker aus einem wahlstrategisch wichtigen Teilstaat werde ihr helfen, dort ihren Rückstand auf den Republikaner Donald Trump wettzumachen.

Tatsächlich hat Harris in ihrer engeren Wahl offenbar mehrere Politiker aus hart umkämpften Swing States. Genannt werden vor allem Josh Shapiro, der Gouverneur von Pennsylvania, und Senator Mark Kelly aus Arizona. Beides sind Staaten, die Joe Biden vor vier Jahren den Republikanern entreissen konnte, nun aber wieder zu Trump tendieren. Vor allem Pennsylvania, der bevölkerungsmässig fünftgrösste Teilstaat der USA, gilt als «must win» – ohne die dortigen 19 Elektoren wird es für die Demokraten extrem schwierig, landesweit zu siegen.

Bricht Harris mit der Tradition?

Aus historischer Perspektive ist Harris’ angebliche Strategie jedoch sehr unüblich. Entgegen einer unausrottbaren Legende werden Vizepräsidentschaftskandidaten kaum je mit dem Kalkül ausgewählt, den Sieg in ihrem Heimatstaat zu sichern. Man muss in den Annalen der amerikanischen Präsidentschaftswahlkämpfe beinahe 50 Jahre zurückblättern, um den letzten solchen Fall zu entdecken. Damals, im Jahr 1976, ging der Demokrat Jimmy Carter, ein Südstaatler, mit Senator Walter Mondale aus dem nördlichen Swing State Minnesota ins Rennen. Es lässt sich argumentieren, dass dieser Schachzug zu Carters knappen Siegen in mehreren Staaten des amerikanischen Nordostens beitrug.

In jüngerer Zeit flossen geografische Überlegungen zwar immer wieder in das Running-Mate-Auswahlverfahren ein, aber sie spielten eine untergeordnete Rolle. Joe Biden, Donald Trump, Barack Obama, Bush Vater und Sohn, Bill Clinton und Ronald Reagan errangen alle das Weisse Haus, ohne einen Vize-Kandidaten aus einem wahlstrategisch wichtigen Staat an ihrer Seite zu haben. Dasselbe galt für ihre unterlegenen Gegenkandidaten.

Amerikanische Medien überbieten sich zwar alle vier Jahre mit Mutmassungen darüber, wie wichtig ein bestimmter Running Mate wäre, um diesen oder jenen Staat zu erobern. Aber die Präsidentschaftskandidaten ignorieren diesen Rat beharrlich und gewichten andere Kriterien viel höher. Um nur die jüngsten Beispiele zu nennen: Biden ging mit der Kalifornierin Harris ins Rennen, obwohl der Golden State eine demokratische Bastion ist; Trump entschied sich vor acht Jahren für Mike Pence aus dem tief republikanischen Indiana und setzt nun auf Senator J. D. Vance aus Ohio, obwohl dieser Staat schon seit einer Weile nicht mehr als Swing State gilt.

Der Heimvorteil ist sehr gering

Könnte es sein, dass sich amerikanische Präsidentschaftskandidaten einfach konstant irren und dass sie die Chancen einer geografischen Austarierung ihrer «Wahltickets» besser nutzen sollten? Die amerikanischen Politologen Kyle Kopko und Christopher Devine, die dem Thema ein ganzes Buch gewidmet haben, nennen einen solchen Fall: Im Jahr 2000 wäre der Demokrat Al Gore nach ihren Berechnungen Präsident geworden, hätte er die populäre Gouverneurin Jeanne Shaheen aus New Hampshire anstelle des konservativen Joe Lieberman zu seiner Nummer zwei gemacht. Gore verlor damals mit einem hauchdünnen Rückstand in dem kleinen Neuenglandstaat – und damit auch das ganze Rennen um die Präsidentschaft.

Völlig unplausibel ist es deshalb nicht, dass der ideale Running Mate einen Swing State zum Kippen bringt. Doch dies dürfte nur in sehr speziellen Konstellationen gelingen. Zum einen zeigen politologische Forschungen, dass der Heimvorteil eines Vizepräsidentschaftskandidaten gering ist. Laut der erwähnten Untersuchung ist er praktisch inexistent, während zwei andere Politologen, Boris Heersink und Brenton Peterson, immerhin auf einen durchschnittlichen Bonus von etwa 2,5 Prozentpunkten kommen.

Zum anderen zeigt sich ein Effekt vor allem bei kleineren Gliedstaaten – dort scheint sich die Wählerschaft einem Vizepräsidentschaftskandidaten aus ihrer «Nachbarschaft» eher verbunden zu fühlen als in grossen. Der Wahlstatistiker Nate Silver hat errechnet, dass im bevölkerungsreichen Pennsylvania nur ein Bonus von 0,4 Prozentpunkten für Harris zu erwarten wäre, sollte sie mit dem dortigen Gouverneur Shapiro antreten.

Dass ein geschickt ausgewählter Vizepräsidentschaftskandidat den Sieg in seinem Heimatstaat herbeiführt und dieser Staat auch gleich noch das Zünglein an der Waage auf nationaler Ebene bildet, ist somit ein recht unwahrscheinliches Szenario. Es ist nur denkbar bei einem extrem knappen Rennen. Dies könnte in diesem November zwar der Fall sein. In aller Regel folgen die Präsidentschaftskandidaten aber einem anderen Kalkül: Es geht darum, das eigene Profil mit dem Running Mate zu ergänzen und zusätzliche Wählerschichten anzusprechen.

So nahm sich der areligiöse und moralisch kompromittierte Trump 2016 den bibelfesten Pence zur Seite, während Biden mit Blick auf die Stimmung in seiner Partei für eine nichtweisse, weiter links positionierte und weibliche Running Mate optierte. Umgekehrt war es für Barack Obama 2008 beinahe zwingend, mit Biden einen älteren, weissen Partner zu präsentieren. George W. Bush wiederum ging mit Dick Cheney ins Rennen, nicht weil dessen Heimat Wyoming wahlpolitisch wichtig gewesen wäre, sondern weil der republikanische Insider Cheney neben dem aussenpolitisch unerfahrenen Bush scheinbar für Sachverstand bürgte.

Der ideale Vize verursacht keine Kontroversen

Ausnahmen von dieser «Kompensationsstrategie» gibt es, aber sie sind selten: Bill Clinton brach mit der Tradition, indem er eine Art politischen Klon als Vize auserkor: Al Gore, der ähnlich jung war, ebenfalls einen Südstaat repräsentierte und in der Partei wie Clinton zu den Moderaten zählte. Harris hingegen geht eindeutig anders vor; ihre Kandidatenliste verrät den klaren Willen zur Ausbalancierung des Wahlzettels. Im Gespräch sind ausschliesslich Männer, solche mit weisser Hautfarbe und mit einer Distanz zum Washingtoner Establishment.

Vielleicht hält sie sich auch an eine alte politische Weisheit in den USA: Der beste Vizepräsidentschaftskandidat ist jemand, der bei der Präsentation Applaus erhält und von dem man nachher nie mehr etwas hört. Trumps Running Mate, J. D. Vance, gehört zweifellos nicht zu dieser Sorte, wie kürzlich das konservative «Wall Street Journal» beklagte. Statt Trump zu beflügeln, macht er seit seiner Nomination vor allem mit seinen kontroversen Standpunkten von sich reden.

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