Sonntag, September 29

Viele junge Menschen tragen eine Geschlechtskrankheit in sich, ohne es zu merken. Seit einem Jahr bietet die Stadt kostenlose Tests an. Doch die Nachfrage übersteigt das Angebot.

In einer Seitengasse der Zürcher Langstrasse herrscht ein Kommen und Gehen. Hinter den Türen der Kanzleistrasse 80 verbirgt sich aber kein Nachtklub, keine Kneipe, und die Leute sind auch nicht in Partystimmung. Wer hierherkommt, tut dies aus einem ernsten Grund: um sich auf eine Geschlechtskrankheit testen zu lassen.

Im ersten Stock befindet sich das sogenannte Test-In, eine Teststelle für sexuell übertragbare Infektionen. Termine sind hier lange im Voraus ausgebucht, den nächsten gibt es erst in vier Wochen.

Das geht schon ein Jahr so. Seit Juni 2023 bietet die Stadt Zürich im Rahmen eines dreijährigen Pilotprojekts «Gratistests für sexuell übertragbare Infektionen» an. Stadtzürcherinnen und Stadtzürcher bis 25 Jahre sowie Inhaber einer Kulturlegi können sich seitdem an verschiedenen Teststellen des Vereins Sexuelle Gesundheit Zürich – dem Test-In, der Fachstelle Sexualpädagogik in Zürich und dem Checkpoint Zürich – anonym und kostenlos auf Geschlechtskrankheiten untersuchen lassen.

Die Universität Zürich begleitet das Projekt wissenschaftlich.

Anlass für das Projekt sind die steigenden Fallzahlen von Geschlechtskrankheiten, insbesondere unter jungen Erwachsenen. Laut den neusten verfügbaren Daten des Bundesamts für Gesundheit (BAG) aus dem Jahr 2022 tragen gerade Angehörige dieser Altersgruppe viele unerkannte Infektionen in sich – Frauen zwischen 15 und 24 Jahren am häufigsten Chlamydien, junge homosexuelle Männer vor allem Gonorrhö und Syphilis.

Laut dem Bulletin des BAG hat sich die Zahl der Gonorrhö-Diagnosen in der Schweiz seit dem Jahr 2000 bei beiden Geschlechtern verzehnfacht. Im Jahr 2022 lag der Grossraum Zürich mit fast 107 Fällen pro 100 000 Einwohnern klar an der Spitze. Bei anderen Infektionen wie Syphilis, Hepatitis B und C und HIV gab es deutlich weniger Fälle, die sich im Laufe der Jahre kaum verändert haben.

Hohe Chlamydien- und Gonorrhö-Rate in Zürich

Gemeldete Fälle pro 100 000 Personen

Laut Simon Ming, Mediensprecher des BAG, ist ein unmittelbarer Rückschluss von der Anzahl getesteter Fälle auf die tatsächliche Entwicklung der Fallzahlen in der Bevölkerung aber nicht möglich. Vielmehr führt die Behörde den Anstieg auf zwei Hauptgründe zurück: Erstens werden mehr Infektionen übertragen, zweitens wird vermehrt getestet. Laut Ming steigt mit der Zahl der durchgeführten Tests auch die Anzahl der gefundenen Fälle.

Francisca Boenders, die Geschäftsführerin des Vereins Sexuelle Gesundheit Zürich (SeGZ), bestätigt: «Das Testvolumen bei den Risikopersonen ist gestiegen.»

Von Juni 2023 bis Ende April 2024 sind gemäss der städtischen Gesundheitsdienste Zürich 3152 Konsultationen durchgeführt worden. Bei 4 Personen wurde eine HIV-Infektion festgestellt, in 124 Fällen Chlamydien, in 83 Fällen Gonorrhö und in 9 Fällen Syphilis. Ein Fall von Hepatitis C war unklar, wie die städtischen Gesundheitsdienste auf Anfrage mitteilten. Die übrigen Personen wiesen keine Infektionen auf.

Indem asymptomatische Infektionen rechtzeitig erkannt und behandelt würden, könne die Übertragungskette unterbrochen und könnten gesundheitsschädigende Spätfolgen und hohe Folgekosten vermieden werden, schreibt die Stadt und zieht nach einem Jahr eine positive Zwischenbilanz.

Das Zürcher Pilotprojekt ist Teil des nationalen Programms des BAG, das sich zum Ziel gesetzt hat, bis zum Jahr 2030 die Neuansteckungen mit HIV, Hepatitis B und Hepatitis C in der Schweiz auf null zu reduzieren.

«Warum bist du hier?»

Kostenpunkt des Zürcher Pilotprojekts: 2,66 Millionen Franken. Für wissenschaftliche Begleitung, Beratung und Tests im Test-In und im Checkpoint Zürich – für monatlich 280 Personen. «Die Nachfrage ist gross», sagt Boenders, «die Wartefrist lang.»

Die meisten Besucher im Rahmen des Pilotprojekts sind unter 26 Jahre alt. Personen mit einer Kulturlegi, die ebenfalls Anspruch auf die Gratistests haben, machen mit 15 Prozent der Besucher nur einen kleinen Teil aus. Laut der Medienmitteilung der städtischen Gesundheitsdienste sind mit 53 Prozent etwas mehr als die Hälfte der Besucher männlich, 44 Prozent sind weiblich, und 3 Prozent identifizieren sich als nonbinär oder andere Personen.

Für die junge Zielgruppe gibt es laut Raphael Degen, Bereichsleiter und Beratungsperson bei SeGZ, mehrere Hürden, bevor sie sich testen lässt: «Den Mut, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, die Zeit für einen Besuch und die Kosten.» Viele würden lieber eine mögliche Infektion verdrängen, als 210 Franken für einen Test auszugeben. «Nehme ich das Geld in die Hand, oder finde ich es dann raus, wenn ich Symptome habe?», beschreibt Degen die Denkweise einiger Jugendlicher.

Das bestätigen die ersten Auswertungen des Projekts: In der anonymen Befragung der getesteten Personen haben 83 Prozent angegeben, dass sie sich seltener oder gar nicht testen lassen würden, wenn es das Pilotprojekt der kostenlosen Tests nicht gäbe.

Viele tragen unbemerkt eine sexuell übertragbare Infektion in sich, da keine Symptome vorliegen. Entgegen einer weitverbreiteten Annahme können solche Infektionen nämlich nicht nur durch Geschlechtsverkehr, sondern auch auf anderen Wegen übertragen werden – etwa bei unhygienischen Tätowierungen oder Piercings im Ausland.

So sitzen schliesslich Besucher aller Altersgruppen im Wartezimmer des Testzentrums, in dem Dutzende von bunten Broschüren aufliegen und gratis Kondome bereitstehen.

Noch immer viele Mythen

Egal aus welchem Grund sie kämen, der Ablauf des Besuchs sei immer gleich, erklärt Raphael Degen. Zuerst werde ein Fragebogen des BAG ausgefüllt, damit sich der Berater später bereits ein Bild von der Situation des Besuchers machen könne.

Und dann folge immer dieselbe Frage, sagt Degen: «Warum bist du hier?»

«Damit soll den Besuchern die Angst genommen werden», erklärt er. Manche Besucher und Besucherinnen seien nervös, weil sie eine Risikosituation erlebt hätten und diese nicht einordnen könnten. «Im Allgemeinen nehme ich sie aber als sehr transparent und dankbar wahr», sagt Degen.

In einem Beratungsgespräch werde dann entschieden, welche Tests in der Situation des Patienten sinnvoll seien und welche nicht. Denn auch wenn es für die Besucher kostenlos sei; jeder Test verursache Kosten.

Das Gespräch sei ein wichtiger Teil des Besuchs und werde von den meisten jungen Personen sehr geschätzt, sagt Degen. Dabei kämen viele Fragen auf. Und Mythen, die noch immer vorherrschten. Zum Beispiel, dass ein Kondom vor jeder sexuell übertragbaren Infektion schütze. «Gerade gegen HIV bieten Kondome einen guten Schutz, andere Infektionen wie zum Beispiel Chlamydien oder Gonorrhö können aber auch als Schmierinfektion, also bei Oralsex oder mit den Händen, übertragen werden», sagt Degen.

Nach der Beratung werde getestet – Chlamydien und Gonorrhö mit einem Rachen-, Anus-, und Harnröhren- oder einem Vaginalabstrich. Syphilis, HIV oder Hepatitis C mit einem Blutschnelltest. Bei diesem Test sticht Degen mit einer feinen Einwegnadel schnell in die Fingerkuppe, dann saugt er mit einer Pipette einige Tropfen Blut auf und tröpfelt diese auf einen Teststreifen. Pufferlösung drauf und zwanzig Minuten auf das Ergebnis warten. Degen sagt: «Viele kennen diese Testart noch aus Corona-Zeiten.»

Und was, wenn der Test positiv ist?

Nun gelte es als Erstes, die Person zu beruhigen, sagt Degen. «Wir erklären, was das Resultat bedeutet und wie sie sich im Rahmen des Pilotprojekts kostenlos behandeln lassen können.» Bakterielle Infektionen wie Chlamydien, Gonorrhö und Syphilis mit Antibiotika, virale Infektionen wie HIV und Hepatitis B und C mit antiviralen Medikamenten, sogenannten Virostatika, die über einen längeren Zeitraum eingenommen werden.

Umstrittene Home-Tests

Die Nachfrage nach Tests bleibt hoch. So hoch, dass Startups daraus ein Geschäft machen. In den sozialen Netzwerken werben sie damit, Testpakete direkt nach Hause zu liefern, für rund 290 Franken.

«Man versucht, mit der Verunsicherung der Menschen ein Geschäft zu machen», sagt Raphael Degen. Auch die SeGZ-Geschäftsführerin Francisca Boenders steht solchen Tests kritisch gegenüber: «Es fehlt die individuelle Beratung zum eigenen Risikoverhalten und dazu, was zu tun ist, wenn die Tests reaktiv ausfallen.» Dies sei gerade für die junge Zielgruppe wichtig, um ihr Wissen und ihr Verhalten anzupassen, indem die «Safer-Sex-Botschaften» des BAG noch einmal thematisiert würden. Laut Boenders sind die Tests für zu Hause ohne die individuelle Beratung der falsche Ansatz.

Währenddessen bieten mehrere europäische Länder kostenlose Tests für die gesamte Bevölkerung an. Wäre ein solches Modell auch für die Schweiz denkbar?

«Das ist eine Geldfrage», sagt Raphael Degen. «Für die Prävention wäre es unendlich wichtig. Und dennoch: Die Menschen müssen Verantwortung für ihr Verhalten übernehmen.» Kostenlose Tests senken also die Hemmschwelle für Testungen, sollen aber nicht einen verantwortungsvollen Umgang mit der eigenen Sexualität ersetzen. Eine andere Möglichkeit wäre laut Degen ein günstiger, symbolischer Beitrag, zum Beispiel in der Höhe von rund 40 Franken. «Einen solchen Betrag kann man sich auch in der Lehre leisten.»

Ob die Stadt Zürich das Angebot nach Ablauf der drei Jahre 2026 aufrechterhalten wird, bleibt abzuwarten. Andere Städte haben aber schon Gefallen daran gefunden. In Luzern sollen junge Menschen und Besitzer einer Kulturlegi ebenfalls in einem dreijährigen Pilotprojekt kostenlos auf sexuell übertragbare Infektionen getestet werden.

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