Sonntag, Oktober 6

Niki Feijen / Getty

Die Deindustrialisierung hat Charleroi schwer getroffen. Aber zwischen den stillgelegten Hochöfen und Schutthalden gibt es in der drittgrössten Stadt Belgiens Platz für allerlei Kreativität – nicht immer ganz legal.

Den ganzen Tag ist es ruhig. Und dann, gerade als die gleissende Sonne sich endlich etwas senkt, folgen sich die düsteren Szenen wie in einem Trash-Film. Ein Drogendealer bereitet in aller Seelenruhe seine Ware vor. Eine Prostituierte zieht – warum auch immer – das Magnetband einer Musikkassette quer über die Strasse. Ein mutmasslicher Ladendieb wird vom Geschäftsführer unsanft in den Supermarkt zurückbugsiert. Werden hier, innerhalb weniger Strassenzüge, sämtliche Klischees über Charleroi bestätigt?

Denn diese könnten unbarmherziger nicht sein. Charleroi, so urteilte die niederländische Zeitung «de Volkskrant» 2008, sei die «hässlichste Stadt der Welt».

Nicht Belgiens, nicht Europas – der Welt.

Das hat gesessen – und wirkte gleichzeitig wie ein Startschuss für sensationslüsterne Entdecker aller Art. Unzählige Kamerateams, Zeitungsreporter, Social-Media-Influencer sind seither in den Süden Belgiens gereist, alle auf der Suche nach noch hässlicheren Ecken der 200 000-Seelen-Stadt. Ihre Publikationen wiederum ziehen Touristen aus halb Europa an, die auf den ultimativen Ekel-Kick hoffen, damit sich die Pantoffeln zu Hause noch wärmer als zuvor anfühlen.

Aber stimmt denn – abgesehen davon, dass Schönheit bekanntlich im Auge des Betrachters liegt – die Bezeichnung als «hässlichste Stadt der Welt»? Wer schon einmal durch Managua spazierte, sich in Conakry durchschlug oder auch nur Sheffield erkundete, weiss die Antwort: Natürlich nicht.

Das grösste Grubenunglück Belgiens

Charleroi war einst eine der wohlhabendsten Regionen Europas, dank den reichen Steinkohlevorkommen entwickelte sich die Stadt vor dem Ersten Weltkrieg zu einem Zentrum der Stahl- und Glasindustrie. Die Bevölkerung versiebenfachte sich im 19. Jahrhundert. Ohne den Reichtum aus dem französischsprachigen Landesteil wären die grausamen Kolonialfeldzüge und die rasche Modernisierung Belgiens jener Jahre nicht denkbar gewesen.

Aus zahlreichen Ländern strömten die Arbeitskräfte in die Minen und Fabriken, Franzosen, Polen, nach dem Zweiten Weltkrieg besonders viele Italiener. Hunderte schufteten am Morgen des 8. August 1956 im Steinkohlebergwerk Bois du Cazier, als plötzlich ein Feuer ausbrach. 262 Männer starben, mehr als die Hälfte von ihnen stammte aus Italien.

Es war das folgenschwerste Grubenunglück in der Geschichte Belgiens –ein Trauma, das bis heute nachhallt. Und es sollte ein trauriger Vorbote des wirtschaftlichen Niedergangs sein, der Charleroi wie so viele andere Kohlestädte in West- und Mitteleuropa ab den 1960er Jahren heimsuchte. Ein Bergwerk nach dem anderen stellte den Betrieb ein, eine Fabrik nach der anderen schloss.

Die Hüllen aber, sie verharren – manchmal in dem Zustand, in dem sie der letzte Mitarbeiter verlassen hat. Die «Tageszeitung» schrieb einst: In Frankreich werden die verwaisten Fabrikgebäude eingezäunt, in Deutschland abgerissen, in den Niederlanden wiederaufgebaut. In Belgien bleiben sie einfach so stehen.

Brachiales Industrie-Erbe

Beim Spaziergang entlang der Sambre, des trüben, in ein Betonbett gezwängten Flusses, wird man noch heute beinahe erschlagen von der brachialen Industrie-Reminiszenz. Verstaubte Werkhallen, Kühltürme, die nichts mehr kühlen, Schornsteine auf offenem Feld, Brücken, die nirgendwohin führen. Charlerois Hauptbahnhof ist nur ein paar hundert Meter entfernt.

Menschen begegnet man derweil kaum. Hier ein Graffitikünstler, dessen Spielwiese unerschöpflich wirkt. Da ein Wachmann, der gleichgültig zuschaut, wenn man über ein Tor klettert. Dort ein Angler, für dessen Gesundheit man hofft, es möge ihm kein Fisch an den Haken gehen.

Im Hintergrund ragen bewaldete Hügel in die Höhe, achtzig, hundert Meter hoch. Leicht würde man sie als Teil der natürlichen Topografie abtun, aber die sogenannten Bergehalden (französisch: «terrils») sind menschengemacht. Unter der dichten Vegetation verbirgt sich der Schutt von jahrzehntelangem Kohleabbau.

Arm, gefährlich, korrupt

Bis zur Jahrtausendwende verlor Charleroi fast ein Fünftel der einstigen Bevölkerung. Wohnten in der Stadt um 1960 noch fast 250 000 «Carolos», wie die Bürger liebevoll genannt werden, dümpelt die Anzahl seit 2000 um die 200 000. Dafür stieg die Arbeitslosenquote rapide an. Noch heute gehört sie mit rund 15 Prozent zu den höchsten Belgiens – der landesweite Durchschnitt beträgt weniger als 7 Prozent.

Auch die Kriminalitätsrate stieg mit dem industriellen Niedergang an, und die Stadtregierung stellte sich später als korrupt heraus. Als brauchte das Elend noch eine Steigerung, stiess die Polizei 1996 im Stadtteil Marcinelle auf ein Kellerverlies, in dem Marc Dutroux vier Mädchen verhungern liess (siehe Infobox).

Charleroi war nun nicht mehr einfach ein besonders krasses Beispiel der Deindustrialisierung. Es war auch noch ein gefährlicher, verarmter und korrupter Ort, in dem die Machenschaften des «Monsters von Belgien» jahrelang unentdeckt bleiben konnten. Für die Zeitungsleute aus Amsterdam – die ohnehin gerne gegen ihre wirtschaftlich rückständigeren Nachbarn sticheln – war es ein Leichtes, die immerhin drittgrösste Gemeinde Belgiens auf den Hässlichkeits-Thron zu setzen.

Vom «Haus des Schreckens» zum Memorial

fum. Die Greueltaten schlugen weltweit Wellen: Sechs Mädchen entführte Marc Dutroux Mitte der 1990er Jahre, misshandelte sie und sperrte sie monatelang ein. Als die belgischen Behörden dem damals 39-Jährigen endlich auf die Schliche kamen, waren vier von ihnen tot. Das Verbrechen deckte das Versagen des belgischen Polizei- und Justizapparats schonungslos auf.

Jahrelang stand das «Haus des Schreckens» in Charlerois Stadtteil Marcinelle leer, die Fassade von einer Plane überdeckt. 2022 wurde es abgerissen und durch eine schlicht gehaltene Gedenkstätte ersetzt. Ein Kind, das einen Drachen in die Luft steigen lässt, ziert nunmehr die weiss getünchte Hauswand.

Wer tief fällt, geniesst eine gewisse Narrenfreiheit. Niemand erkannte das kommerzielle Potenzial des Negativnarrativs so gut wie Nicolas Buissart. Seit 2009 bietet er seine Urban Safaris durch Charleroi an. Der Lebenskünstler, der in seinem früheren Leben als Metzger und Schweisser arbeitete, steigt mit den Touristen in eine stillgelegte Fabrik. Er führt sie zur Metrolinie, die nie eingeweiht worden ist. Und er erklimmt den stadtnächsten Terril.

Nie sagt er im Voraus, wo es hingeht, stets passt er seine Routen den Launen der Natur, der Teilnehmer und manchmal der Wachleute vor den Industrieruinen an. Einziger Hinweis an die Besucher: gerne gutes Schuhwerk anziehen. Selbst erscheint er derweil, bei über 30 Grad im Schatten, mit gefütterten Hausschuhen. Buissart, der seinen Gästen die düstersten Ecken präsentiert, aber um nichts in der Welt aus seiner geliebten Stadt wegzöge, verkörpert die Selbstironie bis in die Zehenspitzen.

Das Geschäft läuft, der 44-Jährige kann davon leben und sich als Hobby sogar noch den Betrieb eines Kleintheaters leisten. In der weitläufigen Stadt kennt er viele – und alle kennen ihn. Nur die Behörden haben lange Jahre so getan, als hätten sie nie von ihm und vor allem nicht von seinen Touren gehört. «Zuerst haben sie mich ignoriert – und dann kopiert», sagt er und lacht schelmisch. In der Tat bietet die Stadt seit 2016 mit einigem Erfolg einen eigenen Rundgang an, über den man die Zeitzeugen der Schwerindustrie ohne Führung erkunden kann.

Eldorado für Filmproduktionen

Auch das ist Teil des seit Jahren andauernden Bestrebens, mit der Vergangenheit Frieden zu schliessen und den Neuanfang zu wagen. Hunderte Millionen Euro wurden in den letzten Jahren in die öffentliche Infrastruktur und in die Sicherheit investiert – mit einigem Erfolg. Zwielichtige Ecken gibt es, wie eingangs geschildert, weiterhin, aber die Kriminalitätsrate ist rückläufig und im landesweiten Vergleich unspektakulär. Touristen können nunmehr, neben den historischen Architekturperlen wie dem Art-déco-Ratshaus, dem Unesco-geschützten Glockenturm oder dem international renommierten Foto-Museum, auch ein paar nette Einkaufsstrassen entdecken. Hässlich im Superlativ ist anders.

Die harten Gegensätze aber, sie bleiben. Hinter dem Neubau-Shoppingtempel ragen die rostigen Rohre eines früheren Stahlwerks in die Höhe – ein Eldorado für Künstler. Techno-Kollektive, Filmschaffende, Foto-Stylisten, Youtuber strömen nach Charleroi. Die Pop-Kultur nährt sich richtiggehend aus dem Industrie-Chic.

Manche lassen sich nieder, angezogen auch von den günstigen Immobilienpreisen, dem nahen Low-Cost-Flughafen und der Kulturförderung der Regionalregierung. Andere bleiben für die Dauer ihrer Produktion. Gemäss Angaben der Stadtbehörden sind 60 Prozent der Logiernächte beruflich bedingt, ein beträchtlicher Teil davon von Cineasten, die jeweils wochenlang vor Ort bleiben.

Und dann gibt es jene wie die vier jungen Niederländer, die ihre Autos neben einem stillgelegten Hochofen parkiert haben und beflissen daran herumwerkeln, als man vorbeifährt. Sobald die Luft rein ist, klettern sie wohl ins Innere der Industrieruine und veranstalten ihr persönliches, illegales Fotoshooting. Urbex, kurz für Urban Exploration, nennt sich dieser «Sport». Die Behörden wissen davon, können aber wenig dagegen ausrichten.

Ist Charleroi das belgische Äquivalent zum Arm-aber-sexy-Berlin der nuller Jahre? «Der Vergleich wird oft gemacht, und er hat etwas. Aber man sollte die Verhältnisse nicht aus den Augen verlieren – Berlin ist die Hauptstadt des grössten europäischen Staats, Charleroi eine Provinzstadt im Süden Brüssels», sagt Didier Gosset, Koordinator der Kulturplattform «Le Vecteur».

So wird Charleroi seinen morbid angehauchten Ruf so schnell nicht ablegen. Die Gegenwart ist hier immer auch Vergangenheit, was den herben Charme überhaupt erst ausmacht. Gentrifizierung jedenfalls ist ein Konzept, das die Carolos nur von anderen Städten kennen. Von dort, wo solche Ratings erstellt werden.

Exit mobile version