Dienstag, Oktober 8

Sonderverträge mit Produzenten, höhere Preise und Einfuhren ausserhalb des ordentlichen Swissmedic-Verfahrens: Mit solchen Massnahmen will die Regierung die Knappheiten bei Heilmitteln lindern. Doch eine rasche Besserung ist kaum zu erwarten.

Kann das sein? Kritik an «überhöhten» Medikamentenpreisen gehört zum Inventar auf der Schweizer Politikbühne – doch anderseits sind seit langem Klagen über zunehmende Knappheiten von Arzneimitteln zu hören.

Was wie ein Widerspruch klingt, muss es nicht unbedingt sein. Die Debatte über hohe Medikamentenpreise betrifft hauptsächlich patentgeschützte (und oft neue) Produkte. Die Engpässe betreffen dagegen in erster Line Heilmittel mit abgelaufenem Patentschutz und eher tiefen Preisen – einschliesslich Generika.

Gemessen an den Meldedaten der Wirtschaftlichen Landesversorgung (WL) hat sich das Knappheitsproblem verschärft. 2023 erhielt die WL total 280 Meldungen über Versorgungsstörungen bei Arzneimitteln und Impfstoffen – mehr als fünfmal so viel wie 2016, bei allerdings ausgebauter Meldepflicht (vgl. Grafik). Eine Meldepflicht bei Störungen gibt es bei «lebenswichtigen» Gütern.

Schmerzmittel und Antibiotika

Der Begriff «lebenswichtig» ist unscharf definiert, doch die betroffenen Wirkstoffe sind in einer Verordnung festgehalten. Auf Anfang 2024 hat die WL die Meldepflicht um rund 60 Prozent auf 320 Wirkstoffe ausgedehnt. Auch die Lagerpflicht wurde ausgedehnt, auf rund 120 Wirkstoffe. Die aktuelle Liste des Bundes über Versorgungsengpässe bei Arzneimitteln führt etwa 100 Präparate auf. Betroffen sind laut Bundesangaben zum Beispiel starke Schmerzmittel und Antibiotika.

Auch eine breitere Betrachtungsweise illustriert eine Verschärfung des Problems. Eine private Zusammenstellung auf der Website drugshortage.ch listet zurzeit rund 800 Knappheitsmeldungen über alle kassenpflichtige Medikamente auf. Dies liegt unterhalb des Spitzenwerts vom Januar 2024 (fast 1100), aber deutlich über den Durchschnittswerten von 2016 bis 2022. Produzent der Website ist Enea Martinelli, Chefapotheker der Berner Oberländer Spitalgruppe Spitäler fmi AG.

Die Knappheiten betreffen laut Martinelli viele unterschiedliche Krankheiten. Eines seiner Illustrationsbeispiele: «Die Verfügbarkeit von Antibiotika für die Therapie sexuell übertragbarer Krankheiten ist aktuell sehr eingeschränkt.» Ein weiteres Beispiel: «Auch gewisse Herzmedikamente sind knapp.»

Lieferengpässe sind ein globales Phänomen. In gewissen EU-Ländern ist das Problem laut Beobachtern zum Teil sogar noch grösser als in der Schweiz. Zu den vom Bund genannten Ursachen zählen «die Abwanderung kritischer Produktionsschritte in Niedriglohnländer, die starke Abhängigkeit von wenigen Produktionsstandorten in Asien und der Abbau von Lagerbeständen entlang der Wertschöpfungskette». Will heissen: Die Sicherheitsmargen in der Lieferkette sind im Interesse der Effizienz kleiner geworden, was bei Nachfrageschwankungen und Produktionsproblemen an einzelnen Orten rascher zu Engpässen führt.

Abhängigkeiten

Eine Analyse der EU-Verwaltung von 2021 betont, dass etwa 80 Prozent der in die EU importierten Wirkstoffe aus nur fünf Ländern stammen (China, USA, Vereinigtes Königreich, Indonesien, Indien) und allein 45 Prozent auf China entfallen. Laut einer Studie aus den USA von 2023 gibt es bei etwa einem Drittel der in den USA verwendeten Wirkstoffen weltweit nur einen einzigen Hersteller, und bei einem weiteren Drittel seien es lediglich zwei oder drei Produzenten.

Auch in der Schweiz befasste sich die Politik schon mehrmals mit diesem Thema. Der Bundesrat hat nun laut Mitteilung vom Donnerstag ein weiteres Massnahmenpaket zur Minderung von Engpässen bei Arzneimitteln angestossen. Das präsentierte Paket ist ein Sammelsurium von schon umgesetzten Schritten, im Parlament diskutierten Gesetzesänderungen, relativ konkreten Richtungsentscheiden für künftige Gesetzesänderungen und noch eher diffusen Absichtserklärungen.

Zugangshürde soll fallen

Auffällig sind vor allem drei Elemente. So sollen zur Linderung von Knappheiten künftig Importe von Medikamenten auch ohne offizielle Schweizer Zulassung für grössere Patientengruppen befristet möglich sein, sofern die Zulassung eines anderen Lands mit vergleichbaren Regeln vorliegt. Dies soll die Zugangshürden von Lieferanten für den Schweizer Markt senken. Bis jetzt ist ein solcher Import ohne Zulassung nur für einzelne Patienten möglich. Diese Reform braucht eine Änderung der Rechtsgrundlagen. Die Vorbereitungsarbeiten in der Verwaltung sind dem Vernehmen nach schon ziemlich weit fortgeschritten.

Eine Öffnung über eine zeitlich beschränkte Sonderregelung hinaus ist laut Bundesvertretern nicht auf der Agenda, da die Schweizer Zulassungsstelle Swissmedic für die Marktüberwachung detaillierte Unterlagen zu den Medikamenten aus dem eigenen Zulassungsverfahren brauche.

Geldanreize für Lieferanten

Der Bundesrat will zudem durch stärkere finanzielle Anreize für Produzenten/Lieferanten die inländische Versorgung stärken. Man mag darin einen Schritt in Richtung Subventions- und Industriepolitik nach französischem Muster sehen. Doch so weit wie in Frankreich solle es nicht gehen, sagte Anne Lévy, Chefin des Bundesamts für Gesundheit. Was genau kommen wird, ist laut Levy noch offen. Zu den geprüften Optionen zählen etwa Verträge mit Firmen, die für die Zusicherung einer gewissen Grundkapazität und Lieferbereitschaft finanziell abgegolten würden. Die Regierung will auch prüfen, ob bei einer schweren Mangellage eine bundeseigene Produktion durch die Armeeapotheke möglich ist.

Bei der periodischen Preisüberprüfung von lebenswichtigen Medikamenten soll der Bund überdies unter Umständen auf Senkungen verzichten können – um zu vermeiden, dass sich Produzenten aus dem Markt abmelden. Die Medikamentenpreise sind Teil der Gesetzesrevision, die zurzeit im Parlament steckt.

Die Schweiz kann das globale Problem nicht lösen. Aber sie könnte vielleicht ihre Position im Vergleich zu anderen Ländern mittelfristig ein bisschen verbessern. Die Schweizer Medikamentenpreise sind zwar im internationalen Vergleich hoch, und das gilt besonders auch für Generika. Doch in absoluten Zahlen sind die Preise bei vielen Präparaten mit Versorgungsstörungen überschaubar. «Etwa vier Fünftel aller Medikamente mit Lieferengpässen haben Preise unter 50 Franken», sagt der Chefapotheker Enea Martinelli. Die Kombination aus tiefen Preisen, geringen Volumen und teurem Zulassungsverfahren macht den Schweizer Markt für die Lieferanten solcher Produkte nicht übertrieben attraktiv. Geringere Marktzugangskosten, bessere Preisaussichten und Abgeltungen für Kapazitätsgarantien sollen das Bild ein Stück verbessern.

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