Mittwoch, Oktober 30

Die umstrittene Religionsgemeinschaft fand unter Nationalräten der Rechtspartei willige Helfer. Nicht allen ist das heute peinlich.

Zu wenig anderen Themen gab es in den letzten Jahren so viele Vorstösse im Bundeshaus wie zu Ritalin und anderen Psychopharmaka. Von 2011 bis 2021 waren es 26 Motionen, Postulate und Interpellationen. 24 davon stammten von einer kleinen Gruppe von SVP-Nationalräten. Und alle hatten sie eine pharma- und psychiatriekritische Note.

So reichte die Thurgauer SVP-Frau Verena Herzog eine Motion mit dem Titel «ADHS ist keine Krankheit!» ein. Sie forderte darin den Bundesrat auf, er solle dafür sorgen, dass «die wirklichen Ursachen, die sich hinter der ‹Diagnose› ADHS verbergen, angepackt werden und damit die viel zu hohe Verschreibungspraxis in der Deutsch- und Westschweiz massiv reduziert wird».

Ein Zufall ist die Häufung von Anti-Ritalin-Vorstössen aus den Reihen der SVP nicht. Im Hintergrund zog das Ehepaar Kurt und Petra Neuenfelder* die Fäden, wie es auf seiner Website dokumentiert hat. Die Autoren der Vorstösse, Oskar Freysinger, Erich von Siebenthal, Andrea Geissbühler, Yvette Estermann und Verena Herzog, seien Mitglieder der Arbeitsgruppe «Nein zu Psychopharmaka» gewesen. Gegründet haben will Petra Neuenfelder diese Gruppierung 2012 – und «damit wurden zahlreiche politische Vorstösse möglich».

Tarnorganisation von Scientology

Die Neuenfelders – die Ehefrau ist in der Zwischenzeit offenbar gestorben – waren nicht einfach besorgte Bürger. Die beiden haben die Schweizer Sektion der Citizens Commission on Human Rights (CCHR) geleitet. Laut eigenen Angaben ist das eine gemeinnützige Organisation, die sich für Menschenrechte in der Psychiatrie einsetzt. Laut Sektenexperten ist CCHR indes eine Tarnorganisation der umstrittenen Religionsgemeinschaft Scientology. Ohne diese Verbindung transparent zu machen, stellen CCHR-Mitglieder in Schweizer Fussgängerzonen immer wieder Pavillons auf und verteilen Flugblätter, auf denen «Psychiatrie tötet» steht.

Ebenfalls kein Zufall ist, dass es SVP-Politiker waren, die sich auf eine Zusammenarbeit mit Scientology-Leuten eingelassen haben. Yvonne Gilli, einstige Nationalrätin der Grünen und heute Präsidentin der Ärztevereinigung FMH, sagte schon 2012 im «St. Galler Tagblatt», die Verbindungen zwischen der SVP und CCHR wunderten sie nicht. Die Partei biete solchen Gruppierungen einen politischen Boden, sagte Gilli und verwies auf die Nähe des ehemaligen Vereins zur Förderung psychologischer Menschenkenntnis (VPM) zur Rechtspartei.

Ritalin und ADHS sind schon länger ein zentrales Thema für CCHR und Scientology. Vor einigen Jahren gelang es CCHR sogar, die kritische Haltung zur «Übermedikation» in ein Dokument der Vereinten Nationen einzuschmuggeln, wie Susanne Schaaf von der Beratungsstelle Infosekta aufgezeigt hat. Der im Februar 2015 publizierte Bericht des Uno-Kinderrechtsausschusses über den Zustand der Kinderrechte in der Schweiz geht im Abschnitt zur psychischen Gesundheit auch auf Ritalin ein. Der Ausschuss zeigte sich besorgt über die «exzessive Diagnosestellung von ADHS» hierzulande und die «daraus folgende Zunahme der Verschreibung von psychostimulierenden Drogen», vor allem von Ritalin.

Die Verschreibungspraxis werde trotz der «wachsenden Evidenz von schädigenden Auswirkungen dieser Drogen» weitergeführt. Der Ausschuss kritisierte ebenfalls, dass Kindern mit Schulausschluss gedroht würde, wenn ihre Eltern einer Behandlung mit Psychostimulanzien nicht zustimmten. Bei all diesen Punkten stützten sich die Uno-Leute laut Schaaf stark auf die von CCHR eingereichte Stellungnahme ab. Dies, während differenziertere Ausführungen zur Ritalinverschreibung, etwa vom Bundesrat, nicht berücksichtigt wurden.

Einfluss auf Uno-Bericht

Die vier Empfehlungen an die Schweiz – etwa das Ergreifen der Massnahmen, um jeglichen Druck auf die Kinder und deren Eltern zu vermeiden, eine Behandlung mit psychostimulierenden Drogen zu akzeptieren – habe der Ausschuss vom CCHR-Dokument übernommen, zum Teil wortwörtlich. Der Uno-Bericht verstaubt nicht einfach in irgendeiner Schublade: Schweizer Ritalin-Kritiker zitieren ihn bis heute gerne, um ihre Position zu untermauern.

In keinem der 24 ominösen Vorstösse aus dem Bundeshaus ist die Rede von CCHR oder einer Arbeitsgruppe «Nein zu Psychopharmaka». Mehrere SVP-Politiker bestätigen heute allerdings, dass es regelmässige Treffen mit dem Ehepaar Neuenfelder gegeben hat.

Die Luzernerin Yvette Estermann, ausgebildete Komplementärmedizinerin, sagt, die Gruppe von SVP-Nationalräten habe mit den Neuenfelders diskutiert, welche Themen man angehen könnte. Immer wieder nahmen sie dabei ritalinkritische Medienberichte zum Anlass, Druck auf den Bundesrat auszuüben. Dabei habe man auch die konkrete Formulierung der Vorstösse besprochen.

Kooperation «zum Wohl der Nation»

Estermann bereut nichts, im Gegenteil. Dass die Neuenfelders bei Scientology waren, habe sie gewusst – und kein Problem damit gehabt. Ihr sei egal, woher jemand komme, solange man die gleichen Ziele verfolge. «Wir hatten Synergien, wollten gemeinsam die Jugend schützen. In der Bibel heisst es: An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Und unsere Arbeit hat Früchte getragen, zum Wohl der Nation.»

Der Grossteil der 24 Vorstösse, die aus der Arbeitsgruppe «Nein zu Psychopharmaka» hervorgegangen sein sollen, wurde zwar abgelehnt oder kam gar nicht zur Abstimmung. Ein Postulat von Verena Herzog hingegen fand 2019 eine Mehrheit in der grossen Kammer und mündete in einen Bericht des Bundesrates, der 2022 erschienen ist. Es geht darin um eine Methode, Schüler mit ADHS in den Unterricht zu integrieren, ohne auf Medikamente zurückgreifen zu müssen.

Verena Herzog ist mittlerweile, wie alle anderen genannten Mitglieder der Anti-Ritalin-Gruppe, aus dem Nationalrat zurückgetreten. Sie sagt heute, es habe sich um einen eher lockeren Austausch mit dem Ehepaar Neuenfelder gehandelt. «Ritalin und ADHS, das ist ein Thema, das mich schon seit Jahren umtreibt.» Für einzelne Kinder sei Ritalin in Kombination mit anderen Massnahmen tatsächlich ein Segen, aber immer noch würden viel zu viele Kinder rein medikamentös ruhiggestellt.

Ritalin zur reinen Symptombekämpfung, das sei verantwortungslos, findet Herzog nach wie vor. Sie sagt aber auch: «Was die Neuenfelders wollten, ging mir teilweise zu weit.» Sie habe lange nicht gewusst, dass das Ehepaar einen Scientology-Hintergrund gehabt habe, sagt Herzog. «Als ich das bemerkt habe, brach ich den Kontakt zu ihnen ab.»

Susanne Kempf, Geschäftsführerin der Schweizerischen Fachgesellschaft ADHS, hält die Allianz einzelner SVP-Politiker mit Scientology-nahen Kreisen für sehr heikel. «Auch uns sind natürlich die Ähnlichkeiten der Texte in entsprechenden politischen Vorstössen auf kantonaler wie auch nationaler Ebene zu dem Propagandamaterial von Scientology, beziehungsweise dessen Ableger CCHR, sofort aufgefallen», sagt sie.

Pseudowissenschaftlicher Deckmantel

Problematisch sei diese Beeinflussung insofern, als die Argumentation von Scientology vordergründig unter einem pseudowissenschaftlichen Deckmantel daherkomme, aus wissenschaftlicher Perspektive aber unhaltbar sei. «Das gefährdet eine adäquate, evidenzbasierte Behandlung, was für Betroffene fatal sein kann», sagt Kempf. Sie finde es erstaunlich, dass es Scientology immer wieder gelinge, Parlamentarier für die eigenen ideologischen Ziele zu instrumentalisieren.

Um dagegenzuhalten, braucht es laut Kempf Aufklärung über ADHS, aber auch politisches Engagement. In diesem Zusammenhang ist ein Vorstoss aus der SP zu sehen, der den Bundesrat auffordert, die Versorgung von ADHS-Patienten zu verbessern. Bekämpft wird der Vorstoss von Thomas de Courten, Parteikollege von Estermann und Herzog. Auf Anfrage betont de Courten jedoch, er habe weder von der Arbeitsgruppe «Nein zu Psychopharmaka» noch vom Ehepaar Neuenfelder je etwas gehört.

Es scheint, als ob die direkte Verbindung von Scientology ins Bundeshaus zumindest vorerst unterbrochen sei.

*Namen von der Redaktion geändert

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