Samstag, Dezember 21

Keine enge Anbindung der Schweiz an die EU, und für dynamische Abkommen braucht es das Ständemehr: Das wollen die Initianten von Kompass Europa. Politisch macht ihre Initiative tüchtig Druck, rechtlich ist sie gelinde gesagt anspruchsvoll.

Solothurn, Münchenstein, Brig und Herisau waren letzte Woche dran, diese Woche sind es Bern, Bulle, Siders und Nyon. Die Tournee zur Kompass-Initiative läuft auf vollen Touren, die Initianten, allen voran Urs Wietlisbach und Marcel Erni von der Partners Group, treten zusammen mit Mitstreitern in Restaurants, Fachhochschulen oder Mehrzweckhallen auf. Auffällig oft in der Romandie, dem Landesteil der Europhilen, wo man den Welschen die Gefahren der durch das neue EU-Abkommen drohenden «EU-Passivmitgliedschaft» näherbringen will.

Seit dem 1. Oktober sammelt die Organisation Kompass Europa, in der viele erfolgreiche Schweizer Unternehmer mitwirken, Unterschriften für ihr Begehren. Über mangelnde Aufmerksamkeit für ihr Engagement können sich die Initianten nicht beklagen. Noch wenig ausgeleuchtet ist die Frage, was die Initiative taugt. Wer den Text erarbeitet hat, wollen die Initianten nicht sagen. Die NZZ hat sich mit erfahrenen Rechtsexperten darüber unterhalten. Nach einer ersten Einschätzung kann man sagen, dass das Begehren juristisch anspruchsvoll ist. Punktuell wirft es Auslegungsfragen auf und wirkt systematisch unstimmig. Seine politische Wirkung wird dadurch aber kaum geschmälert.

Höhere Hürde für «dynamische» Verträge

Die Kompass-Initiative setzt in der Verfassung an mehreren Stellen an, so beim Artikel über die Aussenwirtschaftspolitik (Art. 101 Abs. 1 BV). Der Bund soll eine «eigenständige» Politik verfolgen – sich also nicht einseitig auf den EU-Binnenmarkt ausrichten, sondern Offenheit gegenüber Staaten aus aller Welt zeigen. Als Beispiel nennen die Initianten das vom Bundesrat kürzlich unterzeichnete Abkommen mit Grossbritannien über die gegenseitige Anerkennung im Bereich der Finanzdienstleistungen. Zudem soll der Bund bei der Aussenwirtschaftspolitik die Eigenständigkeit der Kantone wahren, sprich deren Vollzugsspielräume respektieren. Es geht den Initianten also auch um den Föderalismus – wobei man es paradox finden kann, dass ausgerechnet die Konferenz der Kantonsregierungen zu den feurigsten Befürwortern des geplanten EU-Abkommens zählt.

Weiter will die Initiative das obligatorische Staatsvertragsreferendum ausweiten (Art. 140 Abs. 1 BV). So sollen Abkommen, «die eine Übernahme wichtiger rechtsetzender Bestimmungen vorsehen», zwingend von Volk und Ständen angenommen werden müssen. «Übernahme» ist kein scharfer Rechtsbegriff. Die Intention aber ist klar: Es geht um völkerrechtliche Verträge, in denen sich die Schweiz gegenüber dem Vertragspartner verpflichtet, künftige Rechtsakte zu übernehmen und landesrechtlich umzusetzen. Wenn die Schweiz einen solch weitgehenden Vertrag abschliessen möchte, dann nur mit dem doppelten Mehr, sagen die Kompass-Leute.

Die Bestimmung ist auf die Binnenmarktabkommen ausgerichtet, über die derzeit mit der EU verhandelt wird. In jedem dieser Abkommen soll die dynamische Rechtsübernahme als institutionelles Element vorgesehen sein – samt Sanktionsmöglichkeiten der EU, sollte die Schweiz ihrer Pflicht nicht nachkommen. Der Bundesrat hat bis jetzt nicht offiziell geklärt, wie er mit Blick auf die Volksabstimmung vorgehen will und ob er für die Zustimmung das Volks- oder auch das Ständemehr für nötig erachtet.

Abgesehen von dieser speziellen Kategorie von «dynamischen» Verträgen will die Kompass-Initiative das obligatorische Staatsvertragsreferendum nicht ausweiten. Wichtige Abkommen, die keine dynamische Komponente enthalten, werden nicht erfasst. Die Initiative der Unternehmer geht damit deutlich weniger weit als die Volksinitiative «Staatsverträge vors Volk», die 2012 an der Urne abgelehnt wurde. Diese wollte das obligatorische Referendum auch für völkerrechtliche Verträge festschreiben, die hohe Ausgaben nach sich ziehen oder mit denen die Rechtsprechung in wichtigen Bereichen an ausländische Institutionen übertragen würde.

Ein Stromabkommen wäre möglich

«Die Übernahme wichtiger rechtsetzender Bestimmungen muss in einem Bundesgesetz oder einem völkerrechtlichen Vertrag, der dem obligatorischen Referendum untersteht, ausdrücklich vorgesehen und auf einen eng begrenzten Sachbereich beschränkt sein.» Wer diesen Teil des Initiativtextes (neu: Art 164. Abs. 3 BV) nicht auf Anhieb versteht, ist nicht allein. Gemäss einem Rechtsexperten dürfte diese Bestimmung «Generationen von Juristen die Wände hochjagen». Sie verknüpfe mehrere Anliegen, die von der Systematik her woanders hingehörten.

Der neue Absatz zielt vereinfacht gesagt darauf hin, ein institutionelles Rahmenabkommen zu verhindern. Das Parlament dürfte einen Staatsvertrag, der in mehreren Bereichen die Übernahme von EU-Rechtsakten vorsieht, nicht genehmigen. Die «Übernahme wichtiger rechtsetzender Bestimmungen» wäre auf einen «eng begrenzten Sachbereich» beschränkt. Was das konkret bedeutet und wann ein Abkommen den «eng begrenzten Sachbereich» der dynamischen Rechtsübernahme überschreiten würde, lässt Raum für Interpretationen. Die Initianten scheinen den Begriff grosszügig auszulegen. Laut ihnen wäre der Abschluss von sektoriellen Abkommen wie zum Beispiel einem Stromabkommen mit der EU weiterhin möglich – unter Einhaltung des doppelten Mehrs.

Allerdings ist ein überdachendes Rahmenabkommen, das von der Personenfreizügigkeit über den Verkehr bis zum Strom gelten würde, derzeit politisch nicht vorgesehen. In den laufenden Verhandlungen mit der EU geht es darum, die institutionellen Elemente – die dynamische Rechtsübernahme, die einheitliche Auslegung, die Überwachung und die Streitbeilegung – in jedem Abkommen einzeln festzulegen.

Noch offen ist, wie der Bundesrat und das Parlament die einzelnen Verträge den Stimmberechtigten vorlegen möchten. In getrennten Beschlüssen? Oder – viel wahrscheinlicher – in einem einzigen Genehmigungsbeschluss zusammengefasst, zu dem man nur Ja oder Nein sagen kann? Nach Auskunft des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements «wird sich der Bundesrat zu gegebener Zeit mit dieser Frage befassen und entsprechend einen Entscheid treffen».

Sollte das Bündel an Abkommen in einem einzigen Genehmigungsbeschluss unterbreitet werden, verstiesse dies wohl gegen den Geist der Kompass-Initiative. Das Volksbegehren dürfte bei der allfälligen Abstimmung über das EU-Vertragspaket allerdings noch hängig sein und keine direkte Wirkung entfalten.

Keine Folgen für Schengen/Dublin

Der grösste politische Hebel steckt in den Übergangsbestimmungen. Laut der Initiative sollen die bereits abgeschlossenen Verträge, die eine dynamische Rechtsübernahme vorsehen wie Schengen/Dublin, weiterhin Geltung haben. Auf sie hätte die Annahme der Kompass-Initiative keine Auswirkungen. Anderes gilt für «ein institutionelles Rahmenabkommen sowie vergleichbare Abkommen» zwischen der Schweiz und der EU: Wenn ein solcher Vertrag nur dem Volksmehr und nicht auch dem Ständemehr unterstellt worden wäre, wäre er von der «Bestandesgarantie» nicht erfasst.

Was heisst das? Nach Auffassung der Initianten müsste der Urnengang über das EU-Abkommen in diesem Fall wiederholt werden, es käme zu einer zweiten obligatorischen Abstimmung mit doppeltem Mehr. Ob man dies aus dem Initiativtext folgern kann oder muss, ist eine andere Frage. Klar ist: Im Aussenverhältnis zur EU wäre die Schweiz weiterhin an die eingegangenen Verträge gebunden. Sie könnte sich nicht einfach darauf berufen, dass sich die Schweizer bei der zweiten Abstimmung anders entschieden hätten.

Doch wer möchte es dazu kommen lassen? Für die Initianten «ist schlicht nicht denkbar, dass der Bundesrat die Abstimmung ansetzt und der EU gleichzeitig mitteilen muss, dass da noch eine Volksinitiative hängig sei, die eine zweite Abstimmung mit Ständemehr verlange», so Wietlisbach gegenüber der NZZ. Damit dürfte er richtigliegen. Anders gesagt: Die Kompass-Initiative zwingt Bundesrat und Parlament faktisch dazu, das EU-Abkommen dem obligatorischen Referendum zu unterstellen. Nur dann wäre es politisch auf der sicheren Seite.

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