Samstag, September 28

Revolution gegen die Tyrannei des Regietheaters? Der russische Dissident inszeniert an der Wiener Staatsoper und erntet minutenlange Proteste. Da muss sogar der Musikdirektor Philippe Jordan die Friedensfahne für Serebrennikow schwenken.

«O ciel!» – o Himmel: Der letzte Aufschrei der Elisabetta bricht sich druckvoll und lang anhaltend Bahn aus dem Mund von Asmik Grigorian, «direttissimo» in die Ohren und Herzen des Publikums, gleissend hell und fokussiert wie der Flammenstrahl eines Hochleistungsbrenners. Die spanische Königin reagiert mit ihrem Ausruf auf den Tumult, der sich kurz zuvor ereignet hat: Don Carlo, ihr einstiger Geliebter und nunmehriger Schwiegersohn, wurde durch eine geisterhafte Macht vor dem Tod bewahrt.

Doch schon vor dem Beginn des letzten Aktes von Verdis «Don Carlo» war es in der Staatsoper zu einem tumultartigen Pallawatsch gekommen, wie man in Wien sagt. Nachdem während der Premiere der Regiearbeit von Kirill Serebrennikow immer wieder Schmährufe zu hören gewesen waren, entwickelten sich zwischen Gegnern und Befürwortern der szenischen Vorgänge nun minutenlang verbale Gefechte – wahrscheinlich noch lauter als bei der TV-Diskussion der Spitzenkandidaten zur österreichischen Nationalratswahl, die am selben Abend im ORF stattfand.

Auf Balkon und Galerie, aber auch in den Logen wurde schreiend debattiert, bis schliesslich Philippe Jordan im Orchestergraben ein weisses Tüchlein über seinen Taktstock legte und diesen wie eine Friedensfahne schwenkte – das zeigte Wirkung. Grigorian, die auf einer Bank ungewollt lange auf ihre letzte Arie «Tu che le vanità» und ihr Treffen mit dem geliebten Carlo warten musste, konnte endlich loslegen.

Da fliegen die Fetzen

Warum die Erregung, was hatte das Wiener Blut der ortsansässigen Opernfreunde derart in Wallung gebracht? Nun: Elisabetta hatte die himmlischen Mächte nicht in einem Kloster und schon gar nicht im Spanien des 16. Jahrhunderts angerufen, sondern in der klinisch-grauen Halle eines Instituts für Kostümkunde. In dieses hat der aus Russland geflohene Regisseur das Geschehen von Verdis Oper verlegt. Serebrennikow, auch für Bühne und Ausstattung verantwortlich, fokussiert sich in seiner zweiten Arbeit an der Staatsoper auf die Prunkroben, die am spanischen Königshof des goldenen Zeitalters zu repräsentativen Anlässen getragen wurden.

Den Marquis von Posa, Schillers Kämpfer für Demokratie und Freiheit, macht er zu einem Aktivisten, der gegen Konsumwahn und Fast Fashion kämpft. Als Posa König Philipp davor warnt, das aufständische Flandern in einen Friedhof zu verwandeln, lässt Serebrennikow Bilder von Kleiderbergen einspielen, textilen Massengräbern sozusagen. Die Deputierten aus Flandern verortet er irgendwo zwischen Letzter Generation und Pussy Riot, und beim Aufstand des Volkes gegen Philipp fliegen die Fetzen, genauer: Kleidungsstücke.

Solche Bilder tun weh, wenn auch nicht unbedingt aus dem Grund, den der Regisseur intendiert haben mag. Aber in der betongrauen Nüchternheit des Bühnenambientes kreiert Serebrennikow auch berührende Momente, etwa wenn die Schauspieler-Doubles in den vier historischen Kostümrepliken mit ihren singenden Rollenkollegen auf subtile Weise interagieren. Da knüpfen Vergangenheit und Gegenwart ein zartes Band.

Stimmig wirkt auch die Sängerbesetzung dieser ersten Premiere der neuen Saison. Neben der alles überstrahlenden und doch feinnervigen Natürlichkeit Asmik Grigorians zu bestehen, ist nicht leicht: Eve-Maud Hubeaux gelingt es als Prinzessin Eboli, ihr dichter, dunkel-glänzender Mezzo beeindruckt in allen Lagen und Gemütszuständen durch edle Homogenität. Den Posa zeichnet Étienne Dupuis mit einer enormen vokalen Bandbreite – Joshua Guerrero ist in der Titelpartie etwas einförmiger in Richtung südländischen Schmachtgesangs unterwegs. Von stets gefasster vokaler Potenz ist Roberto Tagliavinis Philipp II.

Gesamtkunstwerkstatt

In seiner vierzehnten und vorletzten Premiere als Musikdirektor der Staatsoper – deren Direktor Bogdan Roščić will in seiner zweiten Amtsperiode auf diesen Posten verzichten – wirkt Philippe Jordan mit dem Staatsopernorchester im ersten Akt noch etwas spröde. Doch im Lauf der dreieinhalbstündigen Aufführung der Mailänder Fassung von 1884 kommen Saft und Glut ins Geschehen, hauptsächlich vonseiten des Blechs, das rabenschwarze, bedrohliche Blasen des Bösen auszubilden versteht.

Musste man Jordans Friedensangebot in textilem Weiss nun als eine Kapitulationserklärung vor dem – auch von ihm selbst – vielkritisierten Regietheater deuten? 2020 war Rosčić sein Amt als Direktor der Wiener Staatsoper ja unter anderem mit dem Vorhaben angetreten, das Haus auf szenischem Gebiet zu erneuern. Gemeinsam mit seinem Chefdramaturgen Sergio Morabito holte der ehemalige Präsident von Sony Classical Kräfte wie Calixto Bieito, Cyril Teste und Damiano Michieletto ans Haus. Barrie Kosky inszenierte Mozarts Da-Ponte-Zyklus, und Kirill Serebrennikow machte in seiner «Parsifal»-Deutung die Gralsburg zur Arrestanstalt und den Titelheldentenor Jonas Kaufmann zum Knastbruder.

Es gab Enttäuschungen, darunter auch Regiearbeiten des Chefdramaturgen mit seinem Kompagnon Jossi Wieler. Aber es gelang auch einiges: Frank Castorf setzte auf charmante Weise einen «Faust» von Charles Gounod in Szene, Simon Stone machte Violetta Valéry in Verdis «La traviata» zur Influencerin de luxe – vielleicht die stimmigste Neuinterpretation der letzten vier Jahre.

Man darf nicht vergessen: Die Wiener Staatsoper ist eine Gesamtkunstwerkstatt mit einer enorm hohen Produktionskapazität von derzeit 45 unterschiedlichen Musiktheaterwerken pro Saison – da kommt das Opernhaus Zürich nur auf etwas mehr als die Hälfte und die Mailänder Scala auf ein Drittel. Im Fundus des Operngrossisten lagern knapp 150 Inszenierungen (plus 50 Ballette). Die Angebotspalette ist reichhaltig: Neben Klassikern wie Franco Zeffirellis «La Bohème» von 1963 und der «Tosca»-Regie von Margarethe Wallmann aus dem Jahr 1958 bietet sie auch zeitlose und gegenwartsnahe Werkdeutungen.

Namentlich Letzteres wird vom Eigentümer der Staatsoper, der Republik Österreich, auch dezidiert eingefordert: Als die Staatssekretärin für Kunst und Kultur, Andrea Mayer, Roščićs Vertrag vor zwei Jahren bis 2030 verlängerte, lobte sie explizit seine «ersten Schritte zur Verjüngung der Regiehandschrift». Kirill Serebrennikow machte die Wiener Staatsoper nun zum Tollhaus. Aber hat es nicht auch sein Gutes, wenn die oft totgesagte alte Dame Oper lebt und erbebt, wenn über die künstlerischen Leistungen eines Hauses derart gestritten und debattiert wird?

Kaufmännisch steht die Staatsoper jedenfalls glänzend da: In der Spielzeit 2023/24 verzeichnete man bei einer Auslastung von 99,94 Prozent eine Gesamtbesucherzahl von 650 000 Gästen und einen Rekordkartenerlös von 42,6 Millionen Euro. Der Laden brummt. Anfang Dezember wird zudem im Künstlerhaus am Karlsplatz eine neue Spielstätte für Kinder- und Jugendprojekte eröffnet. Zumindest für diese Bilanz bekommt Bogdan Roščić in Wien keinen einzigen Buhruf zu hören.

Giuseppe Verdis «Don Carlo» aus der Wiener Staatsoper ist am 29. September ab 22 Uhr 25 auf Arte zu sehen.

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