Donnerstag, Oktober 3

Die US-Demokraten wollen die Arbeiterschaft im Rust Belt zurückgewinnen. Doch sie tun sich schwer damit.

Plötzlich reden alle über die «factory towns». Zuvorderst Kamala Harris: Es vergeht kaum eine Rede, in der die demokratische Präsidentschaftskandidatin nicht das Zauberwort fallenlässt. Ende September versprach sie in der Stahlmetropole Pittsburgh, die traditionellen Fabrikstädte zu beleben, unter anderem mit Steuerermässigungen für Unternehmen. 100 Milliarden Dollar will sie in die Förderung der heimischen Industrie stecken.

Verrostete Fabrikstädte wie Johnstown stehen in diesen Wochen im Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Ortschaft mit ihren knapp 20 000 Einwohnern liegt 90 Autominuten östlich von Pittsburgh, eingebettet in eine Hügellandschaft, die reich an Erz und Kohle ist. Der Schweizer Joseph Tschanz aus dem bernischen Konolfingen gründete die Stadt 1800. Im späten 19. Jahrhundert wurde sie zu einem Zentrum der Stahlproduktion. Noch heute gibt es eine aktive Drahtfabrik in Johnstown. Doch wie die gesamte Region erlebte die Stadt seit den siebziger Jahren einen dramatischen wirtschaftlichen Niedergang – die meisten Fabriken schlossen, die Bevölkerung schwand, Läden, Kinos und Restaurants gaben auf, die leeren Gebäude verfielen.

Doch es leben immer noch genügend Wähler dort, um die zwei Präsidentschaftskandidaten in den Westen des heiss umkämpften Swing State Pennsylvania zu locken. Sowohl Kamala Harris wie Donald Trump brausten jüngst in ihren schwarzen Fahrzeugkolonnen in Johnstown vor und hielten grosse Wahlkampfveranstaltungen.

Klinken putzen mit den Demokraten

Von diesem Trubel merkt man an diesem frühherbstlichen Sonntag nichts. Das Städtchen döst in seiner maroden Schönheit vor sich hin; die Bewohner sitzen in ihren Wohnzimmern und schauen American Football – die Steelers spielen gerade, das Team von Pittsburgh. Im Ortskern haben die Demokraten und die Harris-Kampagne kürzlich ein Wahlkampfbüro aufgemacht in einem schmucklosen Gebäude mit improvisierten Plakaten, die in den Fenstern hängen. Auch im Büro ist nicht viel los; drei Wahlkampfhelfer grüssen nett. Die eine Frau strickt, die zwei anderen Personen sprechen darüber, was sie zum Mittagessen speisen wollen.

Am Wochenende, wenn die Wählerinnen und Wähler nicht arbeiten, ziehen für Kamala Harris rund 3500 Freiwillige in Pennsylvania von Tür zu Tür – an diesem Wochenende seien es 100 000 Türen gewesen, wissen lokale Medien. Doch in Johnstown melden sich an diesem Tag bloss eine Handvoll Demokraten zum Freiwilligendienst. Eine Wahlkampfhelferin instruiert sie, wie die Applikation «Mini-Van» auf ihre Smartphones herunterzuladen und zu benutzen ist. Diese verbindet jeden freiwilligen Helfer mit der Datenbank NGP Van, welche die Demokraten nutzen. Dort sind alle Wähler mit Namen, Adresse und Parteizugehörigkeit gespeichert, die in Kontakt mit den Demokraten treten, ob via Telefon oder digitale Plattformen und Mailings.

Auch ein Skript mit Anleitungen zur Kontaktaufnahme mit den Wählern und eine Karte mit den zu besuchenden Adressen ist auf der App zu finden. Es gehe vor allem darum, die demokratischen Anhänger zur Abgabe ihrer Stimme zu motivieren, sagt die Wahlhelferin. «Ihr werdet aber auch auf Unabhängige und Republikaner treffen, die sich noch nicht entschieden haben, für wen sie abstimmen.» Diese solle man vorsichtig in ein Gespräch verwickeln. Schliesslich solle man herauszufinden versuchen, was die Wahlabsicht sei und ob sie per Brief oder an der Urne abstimmen würden. Nach jedem Kontakt wird die Information in die App getippt.

«Können alle Politiker bitte einfach aussterben?»

Und los geht’s mit dem Team, in das die NZZ-Journalistin eingebettet ist. Die Arbeitszone ist ein Quartier im Stadtinnern, wo relativ viele Demokraten wohnen. Wohlhabend ist es nicht, die Häuser sind klein und teilweise in einem schäbigen Zustand. An den meisten Türen meldet sich niemand, dort hinterlassen die Helfer Werbematerial, Literatur, wie es im Wahlkampf-Jargon heisst. Einige Anwohner reagieren abweisend: «Just keep on walking», sagt eine ältere Frau, die auf ihrer Veranda sitzt. «Können alle Politiker bitte einfach aussterben?», sagt ein junger Mann, bevor er die Tür zuknallt. Ein bärtiger Mann öffnet die Türe einen Spalt, um sie gleich wieder zu schliessen. An seinem Türpfosten klebt ein Kleber der National Rifle Association. Da hat die Software wohl einen Fehler gemacht.

Andere Wähler bekennen sich klar zu Kamala Harris: «Ich habe 2016 für Donald Trump gestimmt, aber meine Lektion schnell gelernt. Er spinnt völlig – ich gebe meine Stimme Harris», sagt ein etwa fünfzigjähriger Mann. Sein Nachbar sehe es auch so, aber der da drüben sei ein Trump-Wähler, der rede nicht einmal mit ihm.

Eine Rentnerin, welche die App als Republikanerin beschreibt, empfängt mit den Worten: «Ihr müsst mir nichts verkaufen, ich bin schon eine Harris-Wählerin. Und eine alleinstehende Katzenbesitzerin.» Aber ist sie nicht als Republikanerin registriert? Ja, sie sei lange in der lokalen Politik tätig gewesen, aber Trump, das gehe für sie nicht. Was ist ihr Hauptgrund, Harris zu wählen? «Sie ist nicht Trump. Ich mag ihre Politik nicht, aber Donald Trump hat gar keine Ideologie; er denkt nur an sich selbst. Er würde unsere Haut verkaufen.»

Den Demokraten rannten die Wähler davon

Die freundlichen Begegnungen auf der Türklinkentour mit den Demokraten dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Demokraten in Johnstown im Gegenwind stehen. Donald Trump erhielt 2016 im dazugehörigen Wahlbezirk 67 Prozent der Wahlstimmen, 2020 konnte er sogar noch einen Prozentpunkt zulegen. Die Fabrikstädte des Rust Belt erlebten zwischen 2012 und 2016 einen seismischen politischen Wandel.

Die Studie «Factory Towns» untersuchte vor ein paar Jahren rund zwei Dutzend Wahlbezirke in zehn industriellen Teilstaaten und kam zum Schluss, dass die Wähler den Demokraten davonrannten. Nachdem Barack Obama 2012 die Bezirke noch mit 100 000 Stimmen Differenz gewonnen hatte, verlor sie Hillary Clinton 2016 mit 600 000 Stimmen an Donald Trump. Pennsylvania, das als demokratisches Kernland galt, ist seither ein Swing State. Vor vier Jahren siegte Joe Biden dennoch äusserst knapp.

Den langen Prozess, wie die Demokraten die Arbeiterschaft im Rostgürtel verloren haben, beschreibt das kürzlich erschienene Buch «Rust Belt Union Blues» eindrücklich. Parallel zum wirtschaftlichen Niedergang verloren die Gewerkschaften ihre soziale und politische Bedeutung in den Fabrikstädten; in die Lücke sprangen evangelikale Mega-Kirchen und Schiessvereine, wo die Republikaner die Arbeiterschaft erreichen konnten. Derweil politisierten die Demokraten thematisch immer näher an den liberalen Geldgebern und Wählern in den privilegierten Küstenmetropolen. Mit trendiger Identitätspolitik entfremdeten sie die sozial konservativer eingestellte Wählerschaft im Rostgürtel zusätzlich.

Der linke Stratege Mike Lux verlangt seit Jahren, dass seine Partei sich wieder stärker um die Arbeiterschaft in Fabrikstädten bemüht. Auch er sagt, die Demokraten hätten lange an diesen Wählern vorbeipolitisiert. Die Finanzkrise 2008/09 sei eine Zäsur gewesen, sagt Lux. Dass Barack Obama der Wall Street mit Staatsgeldern geholfen habe, während viele Fabrikstädte endgültig pleitegingen, habe die Anti-Establishment-Bewegung angefeuert. Donald Trump habe das begriffen und 2016 die Arbeiterschaft für sich gewinnen können. «Er wirkte auf sie wie jemand, der für sie kämpft», sagt Lux im Gespräch, der als unabhängiger Stratege eng mit der Harris-Kampagne zusammenarbeitet.

Linker statt rechter Wirtschaftspopulismus

Doch Mike Lux sieht nach wie vor Potenzial in den Fabrikstädten des Rust Belt, langfristig, aber auch in diesem Wahljahr. Seine Erhebungen hätten gezeigt, dass die dortigen Wähler Trumps Kampfgeist und seine Anti-Establishment-Rhetorik nach wie vor schätzten, aber ihm heute deutlich skeptischer gegenüberstünden. Mit einem griffigen wirtschaftlichen Populismus könnten die Demokraten Stimmen der Arbeiterschaft zurückholen, meint Lux. Das Wirtschaftsprogramm von Kamala Harris findet er geeignet; insbesondere die Ansage, eine Senkung der Lebensmittelpreise zu erzwingen, komme gut an beim Wahlvolk der Arbeiterklasse.

Doch kann eine liberale, dunkelhäutige Politikerin aus Kalifornien wirklich die Arbeiterschaft im Rust Belt für sich gewinnen? Mike Lux gibt zu, dass das nicht einfach ist. Die Botschaft stimme, aber die Frage sei, ob Harris die richtige Botschafterin sei, um das Vertrauen wieder aufzubauen. Die Wähler würden die politische Identität der Vizepräsidentin nicht kennen, sie wüssten bloss, dass sie aus Kalifornien komme und für Abtreibungsrecht kämpfe. Harris müsse sich den Wählern zeigen.

Das tut Kamala Harris; keine Gegend hat sie in den vergangenen Wochen öfter besucht als Pennsylvania. Der Effort zeigt aber auch, dass der Teilstaat eine Achillesferse ihrer Kandidatur ist: Verliert sie Pennsylvania, kann sie nach Einschätzung von Lux den Traum vom Oval Office wohl begraben. Ohnehin lasse sich die Entfremdung der Demokraten von den Wählern im Rust Belt nicht mit kurzfristigen Wahlversprechungen rückgängig machen. Um diese tatsächlich zurückzugewinnen, brauche es Geldgeber mit einem viel höheren Engagement als bisher, sagt Mike Lux. Dieses Jahr könne es höchstens darum gehen, im Kopf-an-Kopf-Rennen gegen Trump einen Zentimeter gutzumachen.

So sehen es auch die Demokraten in Johnstown. Sie werden auch an den kommenden Wochenenden von Tür zu Tür gehen, in der Hoffnung, den einen oder anderen Wähler für Kamala Harris zu mobilisieren. Die grosse Reconquista des Rust Belt bleibt für die Demokraten aber ein Zukunftstraum.

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