Mittwoch, Januar 15

Antonio Balasco / Imago

Seit Jahren weigert sich Italien, die Regeln über den Zugang zu seinen Küsten zu modernisieren. Nun regt sich ziviler Widerstand. Ein Augenschein in Posillipo, wo Neapels schönste Strände sind.

Klar, in langen Hosen, schwitzend, mit Kamera und Notizblock bewehrt, fällt man hier auf. «Sind Sie von der Gemeinde?», werden wir gefragt. Noch bevor wir uns erklären können, beschweren sich die Badegäste über die Mängel, denen sie täglich begegnen: den herumliegenden Abfall am Strand, die engen Platzverhältnisse, die Tatsache, dass sie die knappe Liegefläche mit Jugendlichen teilen müssen, die Ballspiele machen, die Reservationspflicht. Eine heisse Diskussion entspannt sich, jeder hat eine Geschichte zu erzählen.

Wir sind im Bagno Ideal, einem kleinen Strandabschnitt in Posillipo. Posillipo ist ein wohlhabendes Aussenquartier von Neapel, das sich entlang der Küste an einen Hügel schmiegt. Draussen im Meer sieht man die Konturen von Capri, im Hintergrund thront der Vesuv.

Klarissa Pica, die junge Aktivistin der Bewegung Mare Libero, hat das «Ideal» als Treffpunkt vorgeschlagen, weil sich hier das Problem des Meerzugangs besonders gut illustrieren lässt. Von der Küstenstrasse oberhalb des sandigen Streifens aus erkennt man es sofort: Etwa 70 Prozent des kleinen Strandes sind mit Liegestühlen und Sonnenschirmen belegt – Privatstrand. Wer sich hier niederlassen will, muss zahlen. Zahlreiche der Liegen sind leer.

Daneben befindet sich auf den verbleibenden 30 Prozent der Fläche der freie Strand, ein kleines Stück, das öffentlich zugänglich ist – theoretisch. Denn ohne vorherige Online-Reservation wird man nicht vorgelassen. Es ist eine nie rückgängig gemachte Massnahme aus Covid-Zeiten.

Um 17 Uhr 30 ist Schluss

Der Zugang wird vom Personal des benachbarten Privatstrandes kontrolliert. Wer die vielen Treppenstufen von der Strasse hinuntergeht, trifft auf einen kräftigen Mann, Sonnenbrille, T-Shirt, Tattoos. Mit einem Gerät scannt er den QR-Code auf den Handy-Displays der Gäste. Viele Touristen und Aussenstehende wissen nicht (und werden auch nicht darauf hingewiesen), dass man über den Privatstrand auch zum kostenlosen Strand gelangen kann. Sie bezahlen artig 15 Euro für Eintritt und Liegestuhl und wundern sich über die Preise und das Zutrittssystem.

Um 17 Uhr 30 ist Schluss – auch am öffentlichen Strand. Weil um diese Zeit die Tore des Privatstrandes geschlossen werden, gelangt auch niemand mehr in den öffentlichen Bereich, ausser vielleicht ein paar mutige Ortskundige, die über die nahen Felsen klettern oder den Strand vom Meer aus mit Surfbrettern und Gummibooten erkunden.

Im «Ideal» ärgern sich die Badegäste. Die Stadtbehörden würden kaum einen Finger rühren, um die Situation zu verbessern, sagen sie. Als wir uns zum nächsten Strand aufmachen, setzen sie ihre Gespräche stehend im seichten Wasser fort. Etwas Abkühlung tut gut. Es ist um die vierzig Grad, über Süditalien liegt eine schwere Hitzeglocke.

Der Aktivistin Klarissa Pica und Mare Libero sind die Praktiken ein Dorn im Auge. Die Organisation macht sich seit einigen Jahren für einen freien Zugang zum Meer stark und beruft sich auf die Rechtslage. Sie besagt, dass in Italien alle ohne Einschränkung im Meer baden dürfen. Der unmittelbar ans Wasser angrenzende Küstenstreifen jedenfalls muss immer zugänglich sein, selbst an Privatstränden. Eigentlich. Die Realität sieht anders aus.

Die Stadt des verweigerten Meers

In Neapel ist die Situation besonders gravierend. Die Stadt mit ihrer rund einen Million Einwohnern liegt direkt am Meer. Aber gerade einmal 4,7 Prozent der Strände sind wirklich frei zugänglich. Klarissa Pica, die in Venedig an der Architekturschule Iuav studiert hat und in ihrer Heimatstadt Neapel die regionalen Aktivitäten von Mare Libero koordiniert, hat die Zahlen minuziös erhoben. Sie fliessen in ihre Doktorarbeit ein, die sie gegenwärtig abschliesst. Den Titel dafür hat sie bereits: «La città del mare negato» – sinngemäss: Neapel, die Stadt des verweigerten Meers.

Neben den erwähnten Einschränkungen hat das auch mit der Topografie zu tun. Der Küstenabschnitt in Posillipo ist zerklüftet, wer breite Strände sucht, muss ausweichen. Aber selbst das ist nicht einfach. Im nahen Bagnoli, einem Industriequartier, ist die Wasserqualität teilweise so schlecht, dass Baden verboten ist. An anderen Orten ist der Zugang durch Strassen und Eisenbahnlinien erschwert.

Viele Neapolitaner wissen sich zu helfen: Sie klettern auf die Wellenbrecher und breiten dort, so gut es halt geht, ihre Badesachen aus; sie mieten kleine Boote und dümpeln der Küste entlang; sie finden Lücken in einem Zaun oder hocken auf riesige Röhren, die irgendetwas, man stellt es sich besser nicht allzu genau vor, ins grosse Blau abführen.

Doch für die Mehrheit ist das keine Lösung. Deshalb stossen die Leute von Mare Libero am Fuss des Vesuvs auf besondere Sympathie. Am 14. Juli, dem Tag der Erstürmung der Bastille, haben sie in ganz Italien die Strände symbolisch zurückerobert, mit Transparenten und Veranstaltungen in den Strandbädern. «La presa della battigia» nannten sie die Aktion in Anlehnung an das Pariser Vorbild. «Battigia» heisst «Küstenstreifen» und benennt genau jenen Bereich an der Wasserkante, der laut Gesetz offen sein müsste.

Auch juristisch kommt Bewegung in die Sache: Das Verwaltungsgericht von Neapel hat die Limitierung der Plätze an den öffentlichen Stränden und die Reservationspflicht dieser Tage gerügt. Die Stadt muss das System nun überdenken. «Das passiert aber sicher nicht mehr vor dem Ferragosto», spotten die Badegäste im «Ideal».

Unwillen in Rom

Dass sich allmählich so etwas wie ziviler Ungehorsam breitmacht an den Küsten Italiens, hat auch mit dem Unwillen der Regierung in Rom zu tun, die Rahmenbedingungen an den Küsten generell zu modernisieren. Jahr für Jahr werden die bestehenden Konzessionen verlängert – zu Spottpreisen. Der «Corriere della Sera» machte kürzlich ein besonders krasses Beispiel aus Ligurien publik. Danach bezahlt ein privater Strandbetreiber dem Staat gerade einmal 5840 Euro für seine Konzession – pro Jahr. Dafür vermietet er seine Sonnenschirme für je 300 Euro – pro Tag. Eine typische italienische Mittelstandsfamilie kann sich das kaum mehr leisten. In die Bresche springen dafür ausländische Touristen, die noch jede Preiserhöhung mitgemacht haben.

Wenig erstaunlich, dass sich die Lobby der Strandbetreiber für die Weiterführung des bisherigen Regimes starkmacht. Sie kann dabei auf die Classe politique in Rom zählen. Mit Ausnahme der Regierung von Mario Draghi hat keine Exekutive es bisher gewagt, diese Pfründen anzutasten. Selbst Hinweise der nationalen Antimafiadirektion, gemäss denen auch das organisierte Verbrechen in dem Geschäft mitmischt und es auch zum Zweck der Geldwäscherei nutzt, haben in der Hauptstadt offenbar niemanden gross beeindruckt.

Die EU macht seit Jahren Druck auf Italien. Sie verlangt, dass das Land die Konzessionen regelmässig ausschreibt und das Geschäft auch für neue Interessenten öffnet. Auch die marode Staatskasse würde von höheren Konzessionsgebühren profitieren, sagt die EU. Die italienische Justiz hat die Brüsseler Sicht übernommen. Gemäss den obersten nationalen Gerichten sind die heutigen Konzessionen schon als ausgelaufen zu betrachten.

«Der derzeit unklare Rechtsrahmen könnte zu einer Revolution an den italienischen Küsten führen», sagt die Ökonomin Eleonora Poli. Sie hat für das Centre for European Policy Network, einen ordnungspolitisch ausgerichteten Think-Tank, gerade eine Studie über die Strandkonzessionen publiziert. «Beim derzeitigen Stand der Dinge könnte jeder Tourist das Recht beanspruchen, jeden italienischen Strand zu betreten und sich dort frei niederzulassen, um sich zu entspannen, auch die luxuriösesten und notorisch teuren Abschnitte, die derzeit von privaten Akteuren verwaltet werden», heisst es in der Studie.

Das bedeutet Rückenwind für die Mare-Libero-Leute und die zivilen Widerständler. Manche Strandbetreiber sind derweil in Sorge. Sie verlangen von der Regierung Klarheit und haben für diesen Freitag einen kurzen Warnstreik angesetzt. Am Vormittag gibt es da und dort weder Schirm noch Liegestuhl.

Möglich, dass sich die Regierung Meloni in Rom bald auf Giuseppe Tomasi di Lampedusa berufen muss, wenn sie will, dass wieder Ruhe einkehrt an Italiens Küsten. Der Schriftsteller, der mit seinem «Gattopardo» ein epochales Werk über den Machtverlust des sizilianischen Adels im 19. Jahrhundert schuf, schrieb darin den ikonischen Satz: «Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, muss sich alles ändern.»

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