Die Drohungen des US-Präsidenten haben die Wahlen in Kanada dominiert. Doch die Wirtschaft schwächelt nicht nur wegen der Zollpolitik des Nachbarn. Es sind dringend Reformen nötig.
Den kanadischen Liberalen ist gelungen, was vor wenigen Monaten noch kaum jemand für möglich gehalten hatte: Mit einem Wahlsieg von Mark Carney über die Konservativen sichern sie sich eine weitere Amtszeit in Ottawa. Noch zu Beginn dieses Jahres führte der junge konservative Aufsteiger Pierre Poilievre in den Umfragen mit mehr als 20 Prozentpunkten Vorsprung. Die Mehrheit der kanadischen Wähler hatte sich von der progressiven Politik von Carneys Vorgänger Justin Trudeau abgewendet – auch in seiner eigenen Partei.
Den massiven Stimmungsumschwung haben die Liberalen vor allem zwei Umständen zu verdanken: den Drohungen von Donald Trump und der Wahl von Mark Carney zum Kandidaten. Bereits kurz nach seinem Wahlsieg im November drohte Trump seinem Freihandelspartner Kanada mit hohen Zöllen und hat diese inzwischen teilweise verhängt. Auch erhob er Anspruch auf Kanada als 51. Gliedstaat der USA. Beides empfanden die Kanadier als existenzielle Bedrohung. Angesichts der Tatsache, dass das Land mehr als drei Viertel seiner Exporte in die USA schickt, muss es sich auf eine schwere Rezession gefasst machen. Auch die Drohung mit der Einverleibung Kanadas wird von den Kanadiern sehr ernst genommen, nachdem Trump sie regelmässig wiederholte und auch Anspruch auf Grönland und Panama erhob.
Die Stunde des Technokraten
Trump wurde zum Landesfeind Nummer eins für die Kanadier, was dem konservativen Poilievre enorm schadete. Er hatte sich in der kanadischen Politik als eine Art kleiner Trump positioniert, was nun plötzlich nicht mehr opportun war. Seine das Land spaltende Rhetorik wurde zum Anachronismus, nun war Einheit gegen den mächtigen südlichen Nachbarn gefragt. Poilievre hatte mit seiner Kritik an Trudeaus progressivem Kurs viele Wähler für sich gewonnen – doch war dies nicht mehr das dominierende Thema für die Kanadier. Eine Anpassung seiner Wahlkampfstrategie im letzten Moment ist ihm nicht gelungen.
Die Liberalen ihrerseits hatten das Glück, dass sie einen idealen Kandidaten für den «Machtkampf» mit Trump fanden. In anderen Zeiten hätte es der Technokrat und wenig mitreissende Redner Carney im Wahlkampf wohl schwer gehabt. Doch nun wurde seine Expertise in Finanz- und Wirtschaftsfragen zum stechenden Trumpf. Als früherer Chef sowohl der kanadischen wie der englischen Zentralbank und zudem auch mit Erfahrung im privaten Bankensektor schien Carney vielen Kanadiern als der beste Kapitän, um Kanada durch den heraufziehenden Konflikt mit den USA zu führen. Dies umso mehr, als er sich in der Vergangenheit auch als erfolgreicher Krisenmanager hervorgetan hatte – in Ottawa bei der weltweiten Finanzkrise von 2008 und in London bei den Verwerfungen um den Brexit.
Reformen sind dringend nötig
Mit Carney ist Kanada nun gerüstet für den Machtkampf mit den USA. Dessen Ausgang wird aber insbesondere davon abhängen, wie weit Trump gehen will. Kanada hat dabei, um mit Trump zu sprechen, klar die schlechteren Karten. Denn die Kanadier sind wirtschaftlich deutlich stärker abhängig von den Amerikanern als umgekehrt. Doch ein Handelskrieg wird auch die amerikanische Wirtschaft schädigen. In der ersten Amtszeit von Trump war es Kanada gelungen, den Präsidenten mit Gegenmassnahmen an den Verhandlungstisch zu bringen und ein neues Freihandelsabkommen auszuarbeiten.
Wenn sich Carney längerfristig behaupten will, muss er sich jedoch auch den Problemen im Innern Kanadas zuwenden. Die kanadische Wirtschaft schwächelt ohnehin, abgesehen von der Konfrontation mit den USA. Das Pro-Kopf-Einkommen ist seit 2020 pro Jahr um durchschnittlich 0,4 Prozent gefallen. Die Produktivität hat im Vergleich zu den USA in dieser Periode deutlich abgenommen, auch die Investitionen pro Arbeitnehmer. Der interne Markt muss liberalisiert werden. Noch schotten sich die Provinzen mit protektionistischen Massnahmen gegeneinander ab. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung mit der schwächelnden Wirtschaft, dem ungenügenden Wohnungsbau und der aktivistischen Immigrationspolitik wird wieder mehr Bedeutung erlangen, wenn der Konflikt mit den USA in den Hintergrund tritt. Carney muss deshalb rasch Reformen anstossen.