Mittwoch, Januar 29

Die Kanadier wollen eine neue Regierung. Doch damit das Land seine Herausforderungen meistern kann, muss es seine Wirtschaft reformieren. Eine Analyse der Problemfelder.

Donald Trump hat sich Kanada als erstes Opfer seiner Handelsdiplomatie ausgesucht und droht dem Nachbarland mit Zöllen von 25 Prozent. Für Kanada, das plötzlich im globalen Scheinwerferlicht steht, kommt das höchst ungelegen: Das einstige Musterland macht gerade eine Wirtschaftsflaute durch, die eine Krise in der Politik nach sich gezogen hat.

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Dabei geht es Kanada doch gut – könnte man bei einem flüchtigen Blick auf die aktuellen Wirtschaftsdaten meinen: Die Arbeitslosigkeit liegt bei gut 5 Prozent, für Kanada ein tiefer Wert, und die Inflation sank auf knapp unter 2 Prozent. Das Land ist eine der zehn grössten Volkswirtschaften der Welt, sein Erdöl und Erdgas ist im Zeitalter der strategischen Konfrontation mit China und Russland gefragt.

Doch die Kanadier sind unzufrieden mit ihrer Regierung. Die Umfragewerte von Premierminister Justin Trudeau waren so schlecht, dass er vorzeitig zurückgetreten ist und baldige Neuwahlen anstehen. Sein Nachfolger wird voraussichtlich Pierre Poilievre, der Kandidat der konservativen Oppositionspartei. Er verspricht Steuersenkungen, weniger Umweltauflagen und strengere Einwanderungsgesetze.

Die USA ziehen davon

Die Unzufriedenheit basiert vordergründig auf denselben Ursachen wie in den USA und in Europa: Inflation und Zuwanderung. Die Kanadier hatten wie andere Industriestaaten eine hohe Teuerung zu verkraften. Rekordhohe Immigration milderte zwar den Fachkräftemangel ab, trocknete aber den Markt für Mietwohnungen aus, was die Jüngeren zu spüren bekamen.

Die wirtschaftlichen Probleme Kanadas reichen jedoch weiter zurück. Das Land fiel gegenüber den USA in den letzten zehn Jahren – seit Justin Trudeau Premierminister ist – sukzessive zurück. Auch gegenüber Australien büsste Kanada an Wettbewerbsfähigkeit ein.

Das Hauptproblem der Kanadier: Sie arbeiten nicht effizienter als vor einem Jahrzehnt. Ihre Unternehmen investieren zu wenig in neue Maschinen, Produktionstechniken und Forschung. Die Wirtschaftsleistung pro Kopf war in den letzten zwei Jahren deshalb rückläufig.

Die ökonomische Misere kann nicht Trudeau allein angelastet werden. Der Ökonom und Blogger Noah Smith verweist darauf, dass 2015 der Erdölpreis deutlich nachgelassen hat – die kanadische Rohstoffbranche ist für einen Teil des Investitionsrückgangs verantwortlich.

Doch Jake Fuss, Leiter Steuerpolitik bei der konservativen Denkfabrik Fraser Institute, sagt, die Regierung Trudeau habe sehr wohl zum Rückgang der Investitionen beigetragen, vor allem in der Rohstoff- und Energiebranche: durch höhere Steuern und insbesondere durch eine Welle neuer Regulierungen. «Die Regierung hat wichtige Pipeline-Projekte gestoppt, die Umweltverträglichkeitsprüfungen verschärft und den Öltanker-Verkehr in British Columbia eingeschränkt.»

Auch Tony Stillo vom Wirtschaftsanalysebüro Oxford Economics sagt, dass Kanada in Bezug auf die Energieexporte eine Chance verpasst habe. Als Europa nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine neue Quellen für Erdöl und Flüssigerdgas suchte, war Kanada dafür nicht bereit.

Stillo sieht in der sehr hohen Einwanderung der vergangenen drei Jahre einen wichtigen Grund für den temporären Rückgang der Wirtschaftsleistung pro Kopf: «Viele Zuwanderer sind Studenten, die in Kanada zwar konsumieren, aber zunächst nur wenig zur Wirtschaftsleistung beitragen.» Auch andere Zuwanderer brauchten oft etwas Zeit, um produktiver zu werden. Stillo erwartet daher, dass sich das Bild in den kommenden Jahren aufhellen wird.

So viel Zuwanderung wie noch nie

Kanada blickt auf eine historische Immigrationswelle zurück. 2023 zogen netto 1,24 Millionen Personen ins Land, das sind gut 3 Prozent der Gesamtbevölkerung. Die Nettozuwanderung war fast doppelt so hoch wie in der Schweiz, die ihrerseits eine rekordhohe Zuwanderung verzeichnete. Kanada hatte lange eine pragmatische Sicht auf Einwanderer und galt mit seinem Punktesystem zur Aufnahme von Arbeitsmigranten international als Vorbild, weil es viele Hochqualifizierte anziehen konnte.

Nach der Pandemie hat Kanada unter Justin Trudeau die Tore aber sehr weit geöffnet. Nebst Einwanderern mit einer dauerhaften Arbeitsbewilligung kamen unzählige Neuankömmlinge mit einer temporären Arbeits- oder Studienerlaubnis ins Land. Der Prozess lief weitgehend ungesteuert ab.

Diese Immigranten sorgten in Kanada für ein Wirtschaftswachstum in die Breite, weil mehr Häuser und Infrastruktur wie Schulen gebaut werden mussten. Zudem entlasten die Migranten vorübergehend das Pensionssystem. In Kanada gilt aber wie überall: Zuwanderung kann die demografischen Probleme nicht lösen, nur abbremsen.

Trudeau hat es verpasst, diese Dividende richtig zu nutzen und frühzeitig gegen die Probleme anzukämpfen, die mit den vielen Neuankömmlingen einhergehen. «Kanada leidet an einem chronischen Wohnungsmangel», sagt Tony Stillo. Zwar habe die Bauindustrie in letzter Zeit mehr Wohnraum geschaffen als erwartet, mit der Zuwanderung hielt sie dennoch nicht mit.

Die Mieten in Toronto oder Vancouver stiegen stark an. Die liberale Regierung trat 2024 stark auf die Bremse und sieht vor, dass die Bevölkerung Kanadas 2025 zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg leicht schrumpfen soll. Auch die konservative Opposition will die Migration stark einschränken und den Hausbau forcieren, etwa durch Deregulierung.

Die Kehrseite des Föderalismus

Kanada ist aus historischen Gründen stark föderalistisch aufgebaut. Das führt aber auch zu Doppelspurigkeiten und bürokratischem Wildwuchs. Gemäss der Weltbank dauert es in Kanada 249 Tage, um eine Baubewilligung für ein Lagerhaus zu erhalten, in den USA braucht man dafür je nach Standort weniger als 70 Tage.

Selbst der innerkanadische Handel wird durch regionale Regeln behindert. Die Provinzen erheben eigene Verkaufssteuern und legen Ausnahmen fest. Sie kennen zudem unterschiedliche Zulassungsregeln für gewisse Produkte und Berufe. Die Royal Bank of Canada schreibt in einer Studie zur Wachstumsschwäche Kanadas, dass die abgeschotteten regionalen Arbeitsmärkte die Mobilität qualifizierter Arbeitnehmer einschränkten. Die Fachleute könnten nicht dorthin ziehen, wo sie am dringendsten gebraucht würden.

Hinzu kommen in vielen Branchen landesweite Eintrittshürden für ausländische Wettbewerber. Im Telekommunikationssektor, in der Finanzbranche oder im Detailhandel haben sich Oligopole herausgebildet, die einen Preiskampf verhindern. In Kanada muss deshalb vielerorts mehr für Breitbandinternet oder Güter des täglichen Bedarfs bezahlt werden als in anderen Ländern.

Rohstoffe, Fluch und Segen

Kanada ist nach Russland der zweitgrösste Staat der Welt, unter den fast 10 Millionen Quadratkilometern Landmasse schlummern zahlreiche Ressourcen, die man gewinnbringend exportiert. Rohöl macht 21 Prozent der Exporte aus, Erdölprodukte insgesamt fast einen Drittel. Hinzu kommen Aluminium, Gold, Nickel, Holz und Papier sowie eine Reihe von landwirtschaftlichen Gütern. Man könnte Kanada als Petrostaat betrachten – mit allen Vor- und Nachteilen, die das mit sich bringt.

Kurzfristig wird das wirtschaftliche Wohlergehen des Landes von den globalen Rohstoffpreisen bestimmt. Die Abhängigkeit von Ölexporten hat sich unter Trudeau – der sich dem Kampf gegen den Klimawandel verschrieben hat – pikanterweise deutlich verstärkt. Die Branche sorgt für Steuereinnahmen, aber auch dafür, dass der kanadische Dollar stark bleibt. Das erschwert es anderen Branchen, ihre Produkte zu exportieren.

Die Steuern und das Budget

Bis vor einigen Jahrzehnten war Kanada ein Hochsteuerland. Zwar wurde die Gewinnsteuer für Unternehmen gesenkt, andere Steuern bleiben aber hoch. Jake Fuss empfiehlt daher ein umfassendes Steuersenkungsprogramm, das auch die Investitionstätigkeit der Unternehmen rasch erhöhen könnte. So sollten nur noch Gewinne besteuert werden, die den Aktionären ausgeschüttet werden. Die reinvestierten Gewinne könnten die Unternehmen produktiver machen. Tony Stillo argumentiert, der Staat solle weiterhin in Infrastruktur investieren.

Pierre Poilievre möchte auch die Klimasteuer abschaffen, die Kanada unter Trudeau eingeführt hat – eine umstrittene Massnahme. Die Einnahmen dieser Klimasteuer werden nämlich pro Kopf an die Bevölkerung zurückverteilt. Die meisten Ökonomen sehen dies als effizienteste und fairste Massnahme für mehr Klimaschutz.

Der grosse Nachbar

Kanada profitiert davon, dass sein einziges Nachbarland die stärkste Wirtschaft der Welt und eine Demokratie ist. Es gibt – von Trumps seltsamen Avancen und Drohungen einmal abgesehen – keine Grenzkonflikte und ernsthaften Animositäten mit den USA.

Ein erstes Freihandelsabkommen mit den USA von 1989 wurde 1994 in das Nafta-Abkommen mit Mexiko übergeführt. Es stärkte die kanadische Wirtschaft: Manche vorher geschützte Branchen mussten sich öffnen und wurden effizienter. Kanada exportiert heute im grossen Stil Maschinen und Autoteile ins südliche Nachbarland.

In Trumps erster Amtszeit haben die USA, Kanada und Mexiko das Nafta-Abkommen durch das USMCA abgelöst. Dieses Folgeabkommen löste einige Probleme seines Vorgängers, funktioniert im Grundsatz aber ähnlich. Nun stellt Trump mit seinen Zolldrohungen auch das USMCA, das er selbst ausgehandelt hatte, infrage.

Interessanterweise gab es in Kanada in den 1980er Jahren besonders viel Widerstand gegen den Freihandel mit den USA. Man befürchtete, dass die einheimische Industrie von amerikanischen Grossunternehmen überrollt würde. Und dass die enge wirtschaftliche Verzahnung mit den USA auch eine geopolitische Abhängigkeit nach sich ziehen würde.

Dem ist tatsächlich so: Weil heute drei Viertel der Exporte Kanadas in die USA gehen, ist das Land anfällig gegenüber Druck aus Washington. Sollte Trump Zölle von 25 Prozent einführen, würde dies Kanada in eine schwere Rezession stürzen. Tony Stillo erachtet es daher als sinnvoll, dass Kanada die Wirtschaftsbeziehungen mit Ländern in Europa, Asien und Lateinamerika stärkt.

Das 2017 in Kraft getretene Freihandelsabkommen zwischen Kanada und der EU hilft bei der Diversifikation. Doch es dauert Jahre, bis sich Lieferketten anpassen und Handelsströme umgelenkt werden. Hier und jetzt ist Ottawa gegenüber Trump auf jeden Fall im Nachteil.

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