Der ehemalige Kriegsherr gilt als der mächtigste Feind der Schiitenmiliz in Libanon. Doch die direkte Auseinandersetzung wagte er bisher nicht. Wird sich das nun ändern?
Zwei Tage vor dem Waffenstillstand zwischen Israel und dem Hizbullah sitzt Samir Geagea in seiner einsamen Residenz in Maarab, hoch oben in den Bergen Libanons, und lächelt. Er wirkt wie ein Mann, der mit sich im Reinen ist. «Ich bin distanziert. Deshalb kann mich nichts beeinflussen», sagt er. Und dann: «Wir wollen einen Staat. Und das geht nun mal nicht mit einer Miliz im Land.»
Unten an der Küste werfen Israels Kampfflugzeuge derweil ihre Bomben über Beirut ab. Knapp 36 Stunden später ist der Krieg vorbei und ein Waffenstillstand tritt in Kraft, dessen Folgen unabsehbar sind. Er kann entweder den Status quo in Libanon zementieren – mit einem schwachen Staat und einer Miliz, die über ihn herrscht. Oder aber die Karten der Macht könnten neu gemischt werden.
«Die Existenzberechtigung des Hizbullah ist weg»
Diese Stunde null sollte eigentlich die Stunde des Samir Geagea sein. Der 72-jährige Christ und ehemalige Warlord aus dem Bürgerkrieg, hat sich als eine Art Polit-Mönch neu erfunden und gilt als Erzfeind des Hizbullah in Libanon. Gemeinsam mit seiner Partei, den Libanesischen Kräften (LF), hat er sich schon vor 20 Jahren zum Ziel gesetzt, die Schiitenmiliz zu entwaffnen.
Jetzt wäre die Gelegenheit dazu. Nach dem Krieg gegen Israel ist die vom Iran unterstützte Truppe so schwach wie nie. Aber kann der selbsterklärte Anführer der libanesischen Opposition, der über die grösste Fraktion im Parlament verfügt, tatsächlich liefern? «Dies ist eine Chance», sagt Geagea. «Aber wir müssen unsere Verantwortung wahrnehmen, einen Präsidenten wählen und in Libanon einen wirklichen Staat schaffen.»
Geagea war nicht immer so staatsmännisch. In den Achtzigerjahren befehligte der hagere Mann mit den tiefliegenden Augen und dem schütteren Haar die mächtigste Miliz Libanons – mächtiger als der Hizbullah heute, wie er gerne betont. Er galt als der unbestrittene Führer der Christen und als brutaler, autoritärer Kriegsherr.
1991, nach dem Ende des Bürgerkrieges, gab seine Truppe dann ihre Waffen ab. Davor hatte sie sich allerdings noch verheerende Gefechte mit der libanesischen Armee geliefert, die damals unter dem Kommando von Michel Aoun stand, der vor zwei Jahren als Staatspräsident abtrat. Der Konflikt zwischen den beiden Männern paralysiert die libanesischen Christen bis heute.
Wird der Hizbullah seine Waffen ebenfalls abgeben, wie es das Waffenstillstandsabkommen verlangt? Es bestimmt, dass künftig niemand ausser den offiziellen Sicherheitsdiensten Waffen tragen darf. ««Der Vorwand für die Waffen des Hizbullah war stets, Israel abzuschrecken. Das hat nicht funktioniert. Jetzt ist seine Existenzberechtigung weg», sagt Geagea. Die Miliz habe gar keine andere Wahl.
Die Versuchung, der Entwaffnung zu widerstehen, ist allerdings gross. Das weiss auch Geagea, der nach dem Ende seiner Miliz in der Hölle landete. Kaum war der Bürgerkrieg vorbei, kamen die Syrer nach Libanon und warfen den einstigen Kriegsherrn ins Gefängnis. 11 Jahre lang schmorte er in einer engen Zelle, durfte nur ausgewählte Bücher lesen und hatte kaum Kontakt zu Aussenwelt.
Sie nennen ihn «den Weisen»
Seither pflegt Geagea die Einsamkeit. «Ich habe Introspektion betrieben, bin in mich gegangen», sagt Geagea, der gerne über die spirituellen Dinge des Lebens spricht. «So etwas gibt einem die Möglichkeit, die eigenen Taten zu hinterfragen.» Seine Bilanz: Politisch sei er richtig gelegen, aber in seinem Verhalten habe er Fehler gemacht. «Man muss sich ständig anpassen».
2005, nach dem Rückzug der Syrer, kam Geagea frei, ging sofort in die Politik und schwang sich zum mächtigsten Führer der libanesischen Christen auf. Vor allem bei einfachen Leuten kommt Geagea gut an. Auf Parteiveranstaltungen der LF sind kaum Anzüge zu sehen, dafür dicke Halsketten mit Kreuzen, sauber rasierte Backenbärte und Monstertrucks.
Für seine Anhänger ist er wegen seiner Zeit im Gefängnis ein lebender Märtyrer der christlichen Sache. Sie nennen ihn ehrfurchtsvoll «al-Hakim», den Weisen. Wer hinauf nach Maarab fährt, in Geageas Bergfeste, bekommt dort einen Nachbau der Zelle gezeigt, in der der Führer einst sass. Hinter einer Glaswand sind auch die Bücher zu sehen, die er las. Sie tragen Titel wie «Dialog mit einem Engel» oder «Die Psychologie des Geistes.»
Seine politischen Gegner sehen Geagea in anderem Licht. Für den Hizbullah ist er im besten Fall ein Faschist, im schlimmsten ein Zionist, der mit den Israeli paktiert – obwohl die LF ihre Allianz mit Jerusalem aus den Bürgerkriegszeiten längst zu Grabe getragen haben. Die übrigen Polit-Bosse in Beirut halten ihn für stur. Und für viele liberale Libanesen ist er ein sektiererischer Dinosaurier, der für den Niedergang des Landes mitverantwortlich ist.
Er selbst hingegen präsentiert sich als Mann, der für sein Land bloss das Beste will. «Unser Libanon wird kommen» steht in grossen Lettern auf der Wand in dem kahlen Raum, in dem er seine Gäste empfängt. Er stehe für einen starken Staat und eine starke Armee, sagt Geagea immer wieder. «Niemand kann in einem Land leben, in dem kein Staat existiert.»
Fast alle libanesischen Politiker wiederholen diese Forderung wie ein Mantra – und scheitern dann doch. Schon 2006 war das so, nach dem letzten Krieg mit Israel, das in Südlibanon eingerückt war, um den Hizbullah zu entwaffnen. Am Ende geschah genau das Gegenteil: der Hizbullah wurde stärker und mächtiger als je zuvor.
Die Angst vor einem Bürgerkrieg
«Damals waren wir nicht ernsthaft genug. Selbst die Israeli glaubten nicht, dass sich der Hizbullah wirklich zurückziehen würde», sagt Geagea. Doch im Vergleich zu 2006 ist die Lage jetzt noch viel schlimmer. Libanon ist bankrott und verfügt über keine funktionierende Regierung. Geld für den Wiederaufbau wird es ohne Veränderung ebenfalls nicht geben.
Die Opposition, zu der auch die LF gehört, schafft es nicht einmal, das seit 2019 vakante Amt des Staatspräsidenten neu zu besetzen. Mal scheitert sie am Widerstand des Hizbullah, mal an der Weigerung des Parlamentspräsidenten Nabih Berri, eine Sitzung einzuberufen, mal an sich selbst. «Es gibt rund 40 weitere Abgeordnete, die zwar offiziell auf unserer Seite sind» sagt Geagea. «Aber wenn es zur Abstimmung kommt, stellen sie sich nicht gegen den Hizbullah – aus Angst vor einem Bürgerkrieg.»
Der Bürgerkrieg ist das grosse Trauma Libanons. Auch diesmal geht die Furcht davor um. Was, wenn sich der geschwächte Hizbullah in die Ecke gedrängt fühlt? Was, wenn er wie früher mit Gewalt auf seine Gegner losgeht? Nicht ohne Grund lebt Geagea als schwer bewachter Eremit. 2012 versuchte ein unbekannter Scharfschütze, ihn zu töten. Er überlebte angeblich nur, weil er sich zufällig bückte, um eine Blume zu pflücken.
«Wir müssen realistisch sein»
Von einem Bürgerkrieg will Geagea, der als Milizenführer vor so mancher Grausamkeit nicht zurückschreckte, allerdings nichts wissen. Es werde eine Periode der Reifung geben, aber keinen offenen Krieg, sagt er prosaisch. Manche seiner heissblütigen Anhänger sind da direkter. Der Tag werde kommen, sagen sie mit verschwörerischem Blick, an dem man gegen den Hizbullah endlich in den Kampf ziehen würde.
Es ist allerdings fraglich, ob die kaum bewaffneten libanesischen Christen und ihre Verbündeten gegen den von Iran unterstützen Hizbullah überhaupt eine Chance hätten. Geagea liess es nie darauf ankommen: 2008 nicht, als seine damaligen Alliierten – der Sunnit Saad Hariri und der Druse Walid Jumblatt – den Kampf mit Nasrallah wagten und verloren. Auch 2021 nicht, als sich christliche Milizionäre und der Hizbullah in Beirut kurzzeitig Feuergefechte lieferten.
Stattdessen wartete Geagea ab. Der Augenblick der Wahrheit werde noch kommen, versprach er seinen Anhängern immer wieder. Ist er jetzt da? Inzwischen ist es draussen Nacht geworden. Regen geht auf die finsteren Tannen an den Berghängen nieder. «Wir müssen realistisch sein und auf dem Boden bleiben», sagt Geagea. «Und einen Schritt nach dem anderen gehen.»

