Freitag, November 22

Der Servettien Dereck Kutesa befindet sich in der Form seines Lebens und führt die Torschützenliste der Schweizer Liga an. Sein Vater jobbte einst bei McDonald’s, um die Genfer Grossfamilie durchzubringen.

Im August informierte Dereck Kutesa den Servette FC darüber, dass er seinen Vertrag im Sommer 2025 nicht verlängern möchte. Das liegt nicht am Geld, nicht an der Perspektive, nicht am Klub und nicht an der Stadt – sondern ist der Sehnsucht nach Abenteuer geschuldet. Kutesa wird im Dezember 27, man kann es ihm nachfühlen, dass er noch einmal etwas anderes sehen will als Yverdon, Sitten und das Skelett des Grasshopper-Clubs.

Servette prüfte im Sommer einen Verkauf, die mit Abstand lukrativste Offerte wurde aus Saudiarabien abgegeben: zwei Millionen Dollar; Kutesas Salär hätte sich dem Vernehmen nach ungefähr verdreifacht. Servette streicht selten solche Transfersummen ein. Aber wegen Beteiligungen wäre deutlich weniger in der Kasse gelandet, das Angebot wurde ebenso abgelehnt wie eine Offerte über 1,2 Millionen Franken von Haifa am letzten Tag vor Transferschluss für den Stürmer Enzo Crivelli.

Die Weigerung, den Offensivkräften die Freigabe zu erteilen, war nicht zuletzt ein Glaubensbekenntnis. Der Entscheid, das Kader zusammenzuhalten, war das unmissverständliche Signal des Sportchefs René Weiler an diese Mannschaft: dass er an sie glaubt, an den Titel sogar. Nach dem frühen Aus im europäischen Geschäft und im Cup sowieso – im Gegensatz zu den Konkurrenten aus Bern und Lugano kennt Servette in dieser Saison keine Mehrfachbelastung.

Der Servette-Sportchef René Weiler adelt Kutesa als «besten Spieler der Liga»

Zumindest im Fall von Kutesa ist das Vabanquespiel aufgegangen: Der Flügelspieler befindet sich in der Form seines Lebens, seine Darbietungen sind so mitreissend, dass der offizielle Klub-Account auf Tiktok eine Montage veröffentlichte, in der Kutesa den Ballon d’Or gewinnt. So weit ist es noch nicht ganz, aber der antrittsschnelle linke Flügel hat in der Super League so oft getroffen wie kein anderer, neun Tore in vierzehn Partien. Der Servette-Sportchef Weiler sagt: «Er ist im Moment der beste Spieler der Liga.»

Es ist eine Entwicklung, die nicht völlig überrascht. Kutesas Talent war früh augenfällig, er war schon als Knirps so gut, dass Servette sein erster Klub war, weil er im Probetraining derart überzeugte.

Er wuchs als jüngstes von fünf Geschwistern in Les Avanchets auf, einer Siedlung, die wie das Gegenstück zum mondänen, reichen Genf wirkt. Seine Eltern waren kurz nach dem Erreichen des Erwachsenenalters aus dem bürgerkriegsgeplagten Angola in die Schweiz geflüchtet; Kutesas Vater übernahm parallel mehrere Jobs, um die Familie durchzubringen. Unter anderem arbeitete er bei McDonald’s und als Zeitungsverträger. «Meine Eltern haben viel geopfert, um uns Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen», sagt Kutesa.

Die Angebote von ausländischen Top-Vereinen schlug er als Teenager aus. Aber mit 19 wechselte er nach Basel und brach die kurz zuvor begonnene KV-Ausbildung ab. 2016 war das – Servette spielte da nach einer Zwangsrelegation in der drittklassigen Promotion League. Und damit auf der gleichen Stufe, auf der Kutesa zehn Jahre zuvor als Balljunge erstmals am Dunstkreis Profifussball geschnuppert hatte.

Basel dagegen war der Koloss des Schweizer Fussballs, Serienmeister und mit dem Trainer Urs Fischer weiterhin das Nonplusultra. Was allerdings auch bedeutete, dass dort niemand auf ein schmächtiges, dribbelstarkes Talent aus Genf gewartet hatte, das noch nie auf einem höheren Niveau als der Challenge League gespielt hatte.

Die Konkurrenten auf Kutesas Position hiessen Mohamed Elyounoussi und Renato Steffen. Im Nationalteam wurde er Letzterem beim aktuellen Zusammenzug de facto vorgezogen, was Steffen so halb souverän aufnahm. Auf die Frage eines Blue-Reporters nach dem ausgebliebenen Aufgebot antwortete Steffen am Wochenende: «Hast du noch eine andere Frage? Weil sonst sind wir glaub fertig.» Interessanterweise lässt sich der letzte Satz auch auf die Nationalmannschaftskarriere von Steffen, 33, anwenden.

In Basel aber gab es für Kutesa an diesen Konkurrenten kein Vorbeikommen, er wurde ausgeliehen. Dann spielte er auch in Luzern kaum. Er sagt: «Ich dachte, ich sei das grosse Talent und würde auf jeden Fall spielen. Aber da täuschte ich mich gewaltig.» Den Tritt fand er erst in St. Gallen wieder, wo er sich eine Woche lang im Probetraining für einen Vertrag aufdrängen musste – und dann vom Trainer Peter Zeidler aber konsequent gefördert wurde. «Er sagte mir: Mach dir keine Gedanken über Tore und Fehler, sondern spiel einfach dein Spiel, das wird schon. Das hat mir extrem dabei geholfen, mein Selbstvertrauen wieder zu finden.»

St. Gallen verkaufte ihn nach einer Saison für knapp zwei Millionen Franken nach Reims; nach 48 Spielen innert drei Jahren in der Ligue 1 kehrte er im Sommer 2022 nach Genf zurück. So stark wie in den letzten Monaten präsentierte er sich dort nie; das Problem war stets die Konstanz und auch die Effizienz. Wie hat er es geschafft, dass seine mitreissenden Dribblings nicht mehr versanden, sondern dass er sie in Tore ummünzen kann? Kutesa spricht von Extraschichten, davon, dass er in den Trainings viel Wert auf Explosivität und Geschwindigkeit lege.

Bei Servette spielt Kutesa mit den Freiheiten eines Stürmers und ohne die Verantwortung von lästigem defensivem Ballast

Das funktioniert, offensichtlich, aber Kutesa profitiert auch von anderen Faktoren. Bei Servette spielt er auf Linksaussen mittlerweile wie ein klassischer Stürmer, weitgehend befreit von lästigen defensiven Pflichten. Und es ist seinen Statistiken vermutlich auch zuträglich, dass die Super League bestimmt nicht an Qualität zugelegt hat in den vergangenen Jahren. Er hat das Talent und die Tempofestigkeit, um das auszunutzen; Kutesa ist so teuflisch schnell, dass er manchen bemitleidenswerten Aussenverteidiger an der Berufswahl zweifeln lässt.

Für den internationalen Durchbruch muss er sein Spiel ohne Ball verbessern – die Nationalmannschaft ist dafür ein guter Härtetest. Der Nationalcoach Murat Yakin hat Kutesa erstmals seit seinem Debüt im März gegen Irland wieder nominiert. Die Schweiz misst sich in der Nations League am Freitag in Zürich mit Serbien und trifft am Montag in Teneriffa auf Spanien.

Vermag Kutesa mit jener Verve aufzutreten, die ihn bei Servette so unwiderstehlich gemacht hat? Und kann er seine mutmassliche Abschiedssaison in Genf mit einem Titel krönen? «Wir haben die Qualität, um Meister zu werden», sagt Kutesa zu seinen Ambitionen. Die erhielten in den vergangenen zwei Wochen allerdings einen Dämpfer mit drei sieglosen Partien gegen die gewiss nicht übermächtigen Gegner Luzern, Lausanne und Zürich. Die Baisse nährte die Zweifel am Trainer Thomas Häberli, der nicht zum ersten Mal exakt jenen Mut vermissen liess, der Kutesa ausmacht.

An diesem Wirbelwind wird es nicht liegen, sollte Servette auch sein drittes Saisonziel verpassen. Kutesa sagt: «Ich habe hart und lange dafür gearbeitet, meine aktuelle Verfassung zu erreichen. All die positiven Gefühle, die Leichtigkeit. Ich werde alles unternehmen, damit das nicht aufhört.» Unter anderem schöpft er Kraft daraus, im Sommer erstmals Vater geworden zu sein.

Man kann sich einen attraktiveren Lebensmittelpunkt für eine junge westeuropäische Familie vorstellen als den goldenen Käfig Saudiarabien. Kutesa sagt, er habe das «Non» der Klubführung verstanden: «Ich bin ein Mensch, ich habe mir schon ein, zwei Tage Gedanken darüber gemacht, denn es war eine attraktive Offerte. Aber Servette ist ein ambitionierter Klub, da begreife ich schon, dass man mich nicht verkauft hat.»

Die Diskussionen werden neuerlich aufkommen, wenn sich im Januar das Winter-Transferfenster öffnet. Mutmasslich mit reizvolleren Destinationen für den Top-Torschützen der Liga.

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