Sonntag, Dezember 29

Die Nationaltrainerin Pia Sundhage glaubt an einen Coup der Schweizer Fussballerinnen an der Heim-EM im kommenden Sommer. Dafür lockt sie die Spielerinnen aus der Komfortzone – und ermutigt sie, endlich lauter zu sprechen.

Pia Sundhage, nach der Auslosung der EM-Gruppen hiess es, die Schweiz habe mit Norwegen, Island und Finnland Glück gehabt. Stimmen Sie dem zu?

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Es ist wichtig, vorsichtig zu sein. Ich will das Spiel respektieren. In der Eröffnungspartie gegen Norwegen werden so viele Emotionen sein. Wenn wir uns physisch wie taktisch gut vorbereiten, kann sie ausgeglichen sein. Doch wo ist der Kipppunkt? Ich kenne die Situation von der EM 2013 in Schweden, als ich das Heimteam trainierte. Ich bin absolut sicher, dass das Schweizer Publikum uns antreiben wird – das könnte der entscheidende Punkt sein.

Der Druck auf die Spielerinnen wird enorm sein, viele sind derart grosse Spiele nicht gewohnt. Wie können Sie ihnen helfen?

Ich kann nur wiederholen, dass sie den Druck annehmen sollen. Es ist ein Privileg, unter Druck zu spielen, wie Abby Wambach, meine Spielerin im US-Team, immer sagte. Sonst hätte das Spiel ja keine Bedeutung. Die Tatsache, dass hohe Erwartungen und ein grosser Druck bestehen, zeigt die Relevanz. Einige von uns werden am Anfang wohl etwas Angst haben, aber es ist ihr Moment, zu brillieren. Und es ist mein Job, ihnen zu vermitteln, dass sie an sich glauben sollen.

Nils Nielsen, der frühere Coach des Nationalteams, war anfangs fast schockiert, wie wenig Selbstvertrauen die Schweizerinnen haben.

Offensichtlich hat er gute Arbeit geleistet. Das Gefühl habe ich nicht. Die meisten Spielerinnen sind im Ausland engagiert und können mit hohen Ansprüchen umgehen. Ich würde es so sagen: Die Schweizerinnen müssen lernen, sich wohlzufühlen im Unwohlsein.

Was heisst das?

Sie müssen ihre Komfortzone verlassen. Vielleicht machen sie dann einen Fehler. Aber das ist in Ordnung. Eine Sache nicht zu versuchen, ist der grösste Fehler, den man machen kann. Spread your wings – nur so holst du das Beste aus dir heraus. Das ist es, was der Staff und ich vorleben wollen. Manchmal mache ich verrückte Sachen, um die Spielerinnen anzustupsen.

Was denn zum Beispiel?

Ich singe ein Lied. Oder stelle seltsame Fragen, ändere kurzfristig das Programm.

Um sie aufzuwecken?

Um sie auf Trab zu halten. Es ist ein Privileg, für dein Land zu spielen. Ich spreche von einer Reise und darüber, wie sie diese Reise gestalten wollen. Wie bereit sie sind, für das Team Dinge zu kreieren. Ich versuche ihnen klarzumachen, dass wir es sind, die unsere Umgebung gestalten.

Sie sagen, die Spielerinnen müssten ihre Komfortzone verlassen. Können Sie das ausführen?

Ich mache ein Beispiel. Wir haben eine Team-Besprechung, und ich stelle eine Frage. Es ist nicht so, dass sie sich auf die Frage stürzen. Am Anfang waren sie sehr still. Ich kenne das Gefühl, ich war auch eine Spielerin. Aber ich muss einen Weg finden, um mit ihnen zu kommunizieren. Klar, da ist die Sprache. Meine Spielerinnen müssen mit mir Englisch sprechen, sie sind sehr gut darin. Manchmal sage ich trotzdem, sie sollten es auf Deutsch sagen. Es ist natürlich einfacher, wenn sie eine bestimmte Situation in ihrer Sprache erklären können.

Sind die Spielerinnen schüchtern?

Sie sind viel zu leise, auch im Training. Ich spreche auch mit unserem Sportpsychologen darüber. Wenn ich besser flanken will, übe ich das. Und wenn ich lauter sein will, muss ich das genauso üben. Es geht darum, die Stimme zu brauchen, öfter etwas zu sagen. Die Sprache verbindet uns, durch sie fassen wir Vertrauen ineinander. Ich weiss nicht, wie oft ich im Training schon gesagt habe, dass sie lauter sein müssten. Eine Spielerin sagte: «Ich weiss aber nicht, was ich sagen soll.» Ich habe ihr geantwortet, das sei völlig egal, Hauptsache, sie brauche ihre Stimme.

Hat das mit der Schweiz zu tun? Ist es in Skandinavien anders?

Wo es sicher anders ist, ist in den USA. Dort reden die Spielerinnen so viel, dass ich mich manchmal fragte, was sie überhaupt sagen.

Die Schweizerinnen hatten ein schwieriges Jahr hinter sich, als Sie im vergangenen Januar Ihr Amt antraten. Es gab Differenzen mit der Trainerin Inka Grings, sportlich lief es schlecht. Was haben Sie in dieser Situation getan?

Ich habe zurückgeschaut. Und dann gefragt, wo wir hinwollen. Wir haben Glück, dass wir die EM vor uns haben und die Gelegenheit, nach den Sternen zu greifen. Das ist sehr inspirierend. Ich bin ein Fan davon, Dinge so zu machen, wie man sie noch nie gemacht hat, weil das Resultat ein anderes sein könnte. Jetzt ist die Gelegenheit da für eine Veränderung. Das sage ich ihnen: Ihr habt einen neuen Coach und einen neuen Staff. Ergreift die Gelegenheit.

Verstehen die Spielerinnen das?

Ich glaube, sie haben es angenommen. Ich habe sie in derart viele neue Situationen gebracht . . . Nicht zuletzt mit unserem Spielsystem, das ich immer wieder geändert habe. Ich bin beeindruckt, wie sehr sie sich gegenseitig vertrauen und dem Staff. Ich habe auch versucht, sie in Bezug auf die Fitness etwas mehr zu pushen. Es ist ein Prozess, aber ich habe das Gefühl, sie respektieren die Art, wie wir sie coachen.

Sie sprechen von einem Prozess. Konnten Sie mit den Spielerinnen bereits tragfähige Beziehungen aufbauen?

Das ist ein langer Weg, der Zeit braucht. Ich habe viele Einzelgespräche geführt, um sie besser kennenzulernen. In einem Gespräch muss ich spüren, ob sie akzeptieren, was ich sage. Aber was einen guten Coach von einem weniger guten unterscheidet, ist, ob den Worten Handlungen folgen. Wir haben jeweils nur zehn Tage zusammen, die Spielerinnen müssen selbst in den Spiegel schauen und sich die Frage beantworten, ob sie sich verbessert haben. Manchmal ist die Antwort: «Oh shit.» Das ist in Ordnung. Aber du musst es dich fragen. Ich versuche, die Spielerin kennenzulernen. Für die Beziehung mit der Person hinter der Spielerin habe ich meinen Staff.

Verstehen Sie die jungen Spielerinnen noch?

Das ist eine sehr gute Frage: Nein. Als ich jung war, war ich ganz anders. Ich war 25, als ich bei Lazio spielte, meinem ersten und einzigen Verein im Ausland. Meine Spielerin Sydney Schertenleib ist 17 und bei Barcelona engagiert. Ihre Situation unterscheidet sich von meiner damals enorm. Was für mich wichtig ist: dass man nichts als selbstverständlich nimmt.

Sie erwähnen Sydney Schertenleib; haben sie und andere junge Spielerinnen wie Iman Beney oder Naomi Luyet das Potenzial, die Leaderinnen von heute abzulösen?

Absolut. Sie haben das Potenzial, in einer grossen Liga zu bestehen. Sie können bereits an der EM eine wichtige Rolle spielen – wenn sie gesund bleiben.

Sie haben erwähnt, dass Sie bereits eine Heim-EM erlebt haben als Trainerin: Was sind Ihre stärksten Erinnerungen?

Es ist so viel mehr, als ein Spiel zu gewinnen. Das ganze Land ist beteiligt, das ist cool. Wenn wir in Schweden trainierten, kamen die Kinder, um Autogramme der Spielerinnen zu holen. Das ist das Erbe, das wir hinterlassen. Es zeigt mir, wie wichtig Frauenfussball für die Gesellschaft ist. Die Kinder haben weibliche Vorbilder – ich hoffe, das wird in der Schweiz auch passieren. Bei unserem Eröffnungsspiel damals gegen Dänemark sahen wir vom Bus aus die Fans. Alle zusammen, schwedische Familien und dänische – und es war sicher. Das bedeutet so viel. Ich hoffe, etwas Vergleichbares geschieht auch in der Schweiz.

Können Schweizer und Schweizerinnen denn so enthusiastisch sein?

Ich denke schon. Wenn eine Gesellschaft daran glaubt, dass Frauen wichtig sind, werden die Menschen dieses Turnier unterstützen. Egal, ob Mann oder Frau: Wer Teil davon ist, tut es für die Frauen. Und das ist gut für das Spiel und für die Gesellschaft. Überdies ist es ansteckend. Die Stimme dieser vielen Menschen wird so laut sein, dass man sich daran erinnert.

Sie sprechen jetzt nicht nur über Fussball.

Nein. Es geht um viel mehr, um Gleichheit in der Gesellschaft.

Als Frau im Fussball muss man immer kämpfen. Sie kämpfen schon sehr lange. Sind Sie nicht müde?

Manchmal schon. Ich denke oft: Das habe ich schon so viele Male gehört. Was wichtig ist: Ich fühle mich nie allein. Es gibt weibliche Coachs, gute Teams. Und es gibt eine Entwicklung. Ich glaube wirklich, dass Fussball, wird er von Männern und Frauen gespielt, den Sport bereichert. Ein Beispiel aus meiner Heimat: Die Männer von Hammarby, einem Klub in Stockholm, haben alle zwei Wochen ein Heimspiel. Gibt es zusätzlich ein Frauenteam, findet jede Woche eine Partie statt. Kürzlich spielten die Frauen von Hammarby in der Champions League vor über 20 000 Leuten gegen Barcelona. Das zahlt sich aus. Warum also Frauenfussball nicht unterstützen, wenn man damit Geld machen kann?

Die letzte Frage ist einfach: Kann die Schweiz Europameister werden?

Ja!

Wollen Sie das ausführen?

Nein.

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