Freitag, August 22

Ohne Scheu und frappierend direkt schreibt Hiromi Ito über den weiblichen Körper und die Männer, über Sex und Begräbnis, Wildschweine, Pflanzen und ganze Gesellschaften. Ihre Texte über die Transitzonen des Lebens sind eine Entdeckung.

Hiromi Ito spielte die hiesige Literaturrezeption übel mit. 1993 erschienen unter dem Titel «Mutter töten» Gedichte und Prosa der japanischen Schriftstellerin. Der Band des Residenz-Verlags hatte nur etwas mehr als dreissig Seiten, erregte aber starkes Aufsehen – und dabei blieb es. Auf Deutsch folgte knapp dreissig Jahre lang kein Buch von Ito, lediglich eines über Märchen, das sie mit ihrem ersten Ehemann verfasst hatte.

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Erst 2021 erschien ihr Roman «Dornauszieher» auf Deutsch und wurde für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung nominiert, im letzten Jahr dann der autofiktionale Essay «Hundeherz». Die führende Japanologin Irmela Hijiya-Kirschnereit, Itos Herausgeberin und Übersetzerin seit «Mutter töten», legt nun unter dem vergleichsweise freundlichen Titel «Garstiger Morgen» eine klug kommentierte zweite Anthologie von 1979 bis 2024 vor. Itos Gedichte und Prosa lassen aus dem langen Zeitraum der Abwesenheit im deutschen Sprachraum die Umrisse eines beeindruckenden Werkes auftauchen.

Unverstellte Emotionen

Ihre erste Anthologie nannte Hijiya-Kirschnereit nach dem Gedicht «Mutter töten» nur um des, so gesteht sie im gehaltvollen Nachwort der zweiten ein, «wuchtigen» Titels willen. Möglich wäre auch «Kanoko töten» gewesen – ja, die Emotionen der 1955 geborenen Dichterin sind eher unverstellt –, aber die deutschen Leser hätten in Kanoko ja nicht erschrocken wie die japanischen den Namen von Itos kleiner Tochter erkennen können. (Auch Autofiktionalität gewinnt durch Kenntnisse an Raffinement . . .)

Die quicklebendige Kanoko will der Mutter die Brustwarzen abbeissen, weshalb Itos Alter Ego, das hochschwangere lyrische Ich, aus seinem Herzen lustvoll eine Mördergrube macht. Ausserdem phantasiert es über Lust und Abtreibung – nicht ohne, ebenso deftig, die Gedanken an den Schwangerschaftsabbruch mehrfach mit dem skandierten «Herzlichen Glückwunsch zur Ausrottung!» zu kommentieren. Gemischte Gefühle, widerstreitende Gedanken gelten dem eigenen Körper als blutverschmiertem Kampfplatz.

Im Gedicht «Mutter töten» von 1990, ebenso wie «Kanoko töten» in «Garstiger Morgen» enthalten, deutet Itos Ich ihre Magersucht, den häufig geübten Sex und dessen offensive literarische Bearbeitung psychologisch als Widerstand gegen die Mutter. Dieser kulminiert im titelgebenden Tötungswunsch, der sich nach der Geburt einer Tochter gibt. Allerdings fürchtet die junge Mutter nun, in einigen Jahren das Opfer der Tochter zu werden . . .

Ohne Scheu und frappierend direkt schreibt Ito über den weiblichen Körper und die Männer, über Sex und Begräbnis, Wildschweine, Pflanzen und ganze Gesellschaften. Sie nimmt es mit allem autofiktional auf, bevor der Begriff überhaupt existiert, will allem nahekommen, es verstehen oder gleich verspeisen.

Der Selbstermächtigung durch eine gierig-radikale Subjektivität sind allerdings Schuldgefühle auf den Fersen, auch «herzhäckselnde» Reue. Denn die Aneignungen sind räuberisch, sie gleichen kleinen und grösseren Massakern. Itos Erzählerinnen wissen, dass sie Ehen zerstören, die eigene und andere, dass sie Bindungen zur Heimat, zu den Eltern und Freunden lösen. Dass Vertrautes fremd wird, auch die Sprache.

Eine neue Sprache finden

Ebendies zwingt die Schriftstellerin, Lyrikerin und Essayistin zu künstlerischer Arbeit: Sie muss eine neue Sprache finden, einen neuen Tonfall. Ito schreibt elliptisch und mit Anleihen bei der Mündlichkeit, sie wechselt behende die Register, mischt Wahrnehmung und Reflexion, ist so spontan wie überlegt, dazu eine versierte Kennerin der literarischen Überlieferung. Ihre Gedichte und Prosastücke zeichnen sich durch grosse Unmittelbarkeit und intellektuelle Spannkraft aus.

Schon die zornige junge Dichterin wirft einen illusionslosen Blick auf religiöse Riten: In «Krickkrack» werden die Knochen der verbrannten Angehörigen vor den Augen der interessierten Verwandten zerbrochen, damit sie in die Urne passen. Bald lässt sich Ito von buddhistischen Sutren zu «Meine Beichte», von Legenden zum Langgedicht «Ich bin Anju» inspirieren, wie die Übersetzerin in gehaltvollen Anmerkungen erklärt.

Und die Lektüre der japanischen Übersetzung eines nordamerikanischen Buches über die «Dichtung der Indianer» hat sie womöglich motiviert, 1997 mit ihrem zweiten, britischen Ehemann nach Kalifornien zu ziehen. Dort führt sie ein Leben im Dazwischen: zwischen Japan, wo die greisen Eltern der Hilfe bedürfen, und den USA, wo Ehemann, Töchter und Tiere der Japanerin manchmal ferner erscheinen als der buddhistische Tempel des Dornausziehers, das metaphysische Zentrum des gleichnamigen, komplexen Romans.

Soziale, ethische, kulturelle, literarische, geografische Grenzüberschreitungen – die unbändig kraftvolle Hiromi Ito hat kaum etwas ausgelassen. «Transitzonen des Lebens» lautet der passende Untertitel der Anthologie. Sie ist hoffentlich der Auftakt weiterer Übersetzungen. Denn Hiromi Ito dürfte nun endlich angekommen sein im Deutschen.

Hiromi Ito: Garstiger Morgen. Texte von den Transitzonen des Lebens. Ausgewählt, aus dem Japanischen und mit einem Nachwort und Kommentaren von Irmela Hijiya-Kirschnereit. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2025. 216 S., Fr. 36.90.

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