Montag, Oktober 14

Wo wir glauben, hochpersönlich zu empfinden, sieht Eva Illouz in unseren Emotionen «gesellschaftliche Mechanismen». Mit ihrem Buch «Explosive Moderne» legt die Soziologin eine Grossanalyse der Gefühle vor.

Mit Emotionen reagieren wir unmittelbar auf Ereignisse oder Zustände. Sie betreffen unser Innerstes und sind authentischer und intimer als Gedanken. Eva Illouz, die französisch-israelische Soziologin mit dem unbestechlichen Blick, arbeitet seit Jahrzehnten an der Widerlegung dieser weitverbreiteten Ansicht.

Auch wenn Gefühle unbestreitbar eine biologische Grundlage hätten, so seien sie stets geprägt vom gesellschaftlichen Kontext: «In Emotionen überlappen sich das Biologische, das Psychologische und das Soziologische aufs Engste.»

Soziale Minderwertigkeit

In ihrem neuen Buch «Explosive Moderne» nimmt Eva Illouz den Faden ihres Bestsellers «Der Konsum der Romantik» wieder auf und spinnt ihn weiter am Beispiel grosser Gefühle wie Scham und Wut, aber auch Furcht und Liebe. Um ihre Thesen zu illustrieren, streut sie zahlreiche Analysen literarischer Werke von Shakespeare, Flaubert und Kleist ein. Der Nachweis, dass die Gefühlswelt sozialen und gesellschaftlichen Regeln unterliegt, gelingt Illouz am eindrücklichsten bei der Analyse des Neids.

In kapitalistischen Gesellschaften finde der Neid einen fruchtbaren Nährboden. Wie keine andere Kultur, so Eva Illouz, erregen und legitimieren moderne Konsumgesellschaften den neidvollen Blick. Im Fokus steht etwas, was andere haben, wir aber nicht: eine Ware, ein Beruf oder eine Ausstrahlung. Im Unterschied zu einigen Soziologen, die im Neid einen Treiber für mehr Gleichheit und Gerechtigkeit sehen, sind die meisten von der Schädlichkeit dieser «traurigen Leidenschaft» (Spinoza) überzeugt.

Moderne Marktwirtschaften locken unaufhörlich mit Angeboten, die für den Grossteil strukturell unerreichbar sind. Dies führt nach Eva Illouz zu einer frustrationsanfälligen Gefühlsdynamik, die sich in wilden Tagträumen ergeht. «Enttäuscht ist eine Person, die eine grössere Grösse anstrebt als die, die sie in ihrem realen Leben hat.» Wer mit vergleichendem Blick durch die Strassen gehe, treffe ausgerechnet auf das, was am meisten befürchtet wird: die eigene soziale oder moralische Minderwertigkeit.

Die Soziologin geht noch einen Schritt weiter und argumentiert im Sinne von Karl Marx: Da kapitalistische Wettbewerbsgesellschaften alles in verhandelbare Waren verwandeln, nehmen auch Gefühle Warencharakter an. Unter dem sozialen Druck, sich im besten Lichte zu präsentieren, wird darum alles Machbare unternommen, um die Innen-, aber auch Aussenwelt aufzuwerten.

In Konkurrenz mit anderen Konsumenten arbeitet das Individuum unablässig an sich selbst. Dieser mehr oder weniger bewusste Wunsch nach Vervollkommnung, der alle Schichten der modernen Gesellschaften erfasst, ruft eine Mammutindustrie der Selbstoptimierung auf den Plan: Psychotherapeutische Praxen und psychologische Ratgeber bieten ihre Dienste an, um diese Bedürfnisse zu befriedigen und – nicht zuletzt aus Eigeninteresse – neue zu wecken.

Im Zeitalter der neuen Medien, die wesentlich zur Vermehrung der emotionalen Energie beitragen, erreicht die rein optische Vergleichbarkeit neue Dimensionen: Zum Neid, dem «Hang, das Wohl anderer mit Schmerz wahrzunehmen» (Kant), gesellt sich die Scham über vermeintliche Defizite des eigenen Körpers. Um diese zu verdecken oder gar zu beseitigen, bietet die Konsumgesellschaft Produkte für alle denkbaren Problemzonen feil: von der Kosmetik über Pharmazeutika bis zu Diäten.

Kreislauf der Selbstoptimierung

Massnahmen zur Optimierung des Selbst stehen rund um die Uhr zur Verfügung, und da immer neue hinzukommen, sind sie unüberschaubar und letztlich endlos. Um aus dem Kreislauf selbstentwertender Gefühle wie des Neids oder der Scham auszubrechen, ist es nach Illouz wichtig, Distanz zu den Markt- und Machtmechanismen zu gewinnen. Nur so könnten sie durchschaut werden: «Der auffälligste Hinweis darauf, dass Scham das Zeichen symbolischer und physischer Gewalt trägt, ist gerade darin zu sehen, dass Gewaltopfer sich selbst schämen.»

Es ist kein Zufall, dass es in jüngster Zeit vermehrt Tendenzen in der Gesellschaft zur Selbstermächtigung gibt. Mit einigem Recht weisen deren Repräsentanten die mit der Selbstverantwortung einhergehende Selbstbezichtigung in der Leistungsgesellschaft zurück. Um sich zu schützen, entwickelt das fragile Ich ein Gefühl des Stolzes auf das, was es ist und hat – ohne Scham oder Neid zu empfinden. Aber auch hier gilt: Diese relativ neuen Emotionsformen sind aussengeleitet. Sie werden durch soziale und gesellschaftliche Bewegungen erzeugt.

In ihrem Buch umkreist Eva Illouz die zentralen Themen ihrer Forschung über die «Gefühle in Zeiten des Kapitalismus», wie sie ihre Adorno-Vorlesungen von 2004 treffend überschrieb. Obwohl nicht so kompakt und konzis wie diese und etwas ausufernd in der Darlegung der Argumente, regt sie mit dem Buch zum Nachdenken an. In einer Zeit, in der Emotionen zunehmend den Rang von Argumenten beanspruchen, helfen die der Aufklärung verpflichteten Studien der Soziologin, den Sprengstoff der «explosiven Moderne» zu entschärfen. Pierre Bourdieu, auf dessen Schriften Eva Illouz wiederholt zurückgreift, hatte recht, als er schrieb: «Nichts ist ernsthafter als Empfindungen.»

Eva Illouz: Explosive Moderne. Aus dem Englischen von Michael Adrian. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024. 450 S., Fr. 46.90

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