Die geeinte Haltung der Arbeitgeber zu gewissen Gesamtarbeitsverträgen (GAV) bröckelt. Die Uneinigkeit dient den Gewerkschaften.

In der Schweiz unterstehen gut 40 Prozent der Arbeitnehmenden einem Gesamtarbeitsvertrag (GAV), Tendenz steigend. Das sind mittlerweile mehr als zwei Millionen Erwerbstätige, wie Zahlen des Bundesamtes für Statistik (BfS) zeigen. Vor 25 Jahren waren es erst etwa 1,25 Millionen gewesen, wobei damals auch die Erwerbsbevölkerung kleiner war. Die jüngsten vom BfS publizierten Zahlen betreffen das Jahr 2021, neuere Daten liegen nicht vor. Der Trend dürfte aber angehalten haben.

Diese Entwicklung enthält mehr Sprengstoff, als man auf den ersten Blick meinen könnte.

Nicht jeder will zum Klub gehören

Für die Gewerkschaften stimmt der Trend. In den Gesamtarbeitsverträgen werden meistens Mindestlöhne und Arbeitsbedingungen festgelegt. Je mehr Firmen einem GAV unterstellt sind, desto mehr Arbeitnehmer sind Teil des Pakets. Ausgehandelt werden die Verträge sozialpartnerschaftlich mit den Arbeitgeberverbänden.

Grundsätzlich haben auch die Arbeitgeber ein Interesse an Gesamtarbeitsverträgen. Während der Geltungsdauer des Vertrags gilt die Friedenspflicht; der Betrieb darf nicht bestreikt werden. Das ist im Sinne der Arbeitgeber; insofern sehen diese die GAV als einen wichtigen Bestandteil des sozialen Friedens.

Heikler wird die Sache bei den sogenannt für allgemeinverbindlich erklärten Gesamtarbeitsverträgen (ave GAV). Diese gelten nicht nur für die Firmen, die sich freiwillig dem Branchenverband bzw. dem GAV angeschlossen haben, sondern obligatorisch für alle Firmen der Branche in einer Region. Damit müssen Firmen die im GAV ausgehandelten Bedingungen erfüllen, auch wenn sie dem «Klub» nicht angehören.

Arbeitgeberlager ist gespalten

An dieser Stelle teilt sich die Arbeitgeberschaft in zwei Lager. Ein grosser Teil befürwortet die für allgemeinverbindlich erklärten Gesamtarbeitsverträge (ave GAV). Wer freiwillig einem Gesamtarbeitsvertrag angeschlossen ist, dem ist es recht, wenn der Konkurrent ins gleiche Konstrukt gedrückt wird und gleiche Mindestlöhne zahlen muss. So sinkt die Wahrscheinlichkeit, von diesem bei Ausschreibungen ausgebootet zu werden.

Aus Schweizer Binnenperspektive liegt die Schönheit des Systems zudem darin, dass die Bedingungen auch für ausländische Unternehmen gelten. Letztere müssen ihren Angestellten den gleichen Lohn zahlen wie ortsansässige Firmen aus der Schweiz. Das dient dem Lohnschutz in der Schweiz.

Kritiker monieren, dass organisierte Arbeitgeber und Gewerkschaften so ein Kartell bilden, das ausländische Wettbewerber vor der Tür hält. Die Folge sei, dass die Konsumenten unnötig höhere Preise zahlten. Die Anhänger des Systems unterstreichen hingegen, dass auf diese Art trotz Personenfreizügigkeit das hohe Schweizer Lohnniveau gesichert wird.

Das zweite Lager innerhalb der Arbeitgeberschaft – die Kritiker – moniert zudem, dass allgemeinverbindlich erklärte GAV weniger Flexibilität bieten als betriebsinterne Lösungen.

Hinzu kommt ein weiterer Punkt – und hier kommt Geld ins Spiel. Ist ein GAV ausgehandelt, soll auch dafür gesorgt werden, dass er eingehalten wird. Der Vollzug wird überwacht, Verstösse werden geahndet. Aus diesem Grund zahlen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Beiträge an die sogenannten paritätischen Kommissionen. Diese setzen sich hälftig aus Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern zusammen. Sie kontrollieren die Einhaltung der Vertragsbestimmungen. In der Regel wird dies von den Gewerkschaftsvertretern organisiert bzw. in Auftrag gegeben. Umstritten ist dabei, ob diese Kontrollen effizient oder ausufernd sind.

Die Gelder müssen zweckgebunden eingesetzt werden. Zum Teil wird auf Unternehmerseite angezweifelt, dass das immer der Fall ist. Der Think-Tank Avenir Suisse forderte bereits 2022, mehr Transparenz über den Zufluss und die Verwendung der Gelder zu schaffen, welche den paritätischen Kommissionen im Rahmen ihrer Kontrollfunktionen zufliessen.

Auch heute kritisiert ein Teil der Branchenverbände, dass die Verwendung der Gelder intransparent sei. Man fürchtet, dass die Geldströme dazu genutzt werden könnten, wirtschaftsfeindliche Kampagnen zu finanzieren. Kein Hehl aus seiner Meinung machte unlängst der Schweizerische Baumeisterverband. Lohnabzüge in Millionenhöhe würden zweckentfremdet, indem die Gewerkschaften für Lohnschutz und Bildung bestimmte Gelder in die eigene Organisation lenken würden, wetterte der Verband in einer Mitteilung.

Konfrontation der Sozialpartner

Die Gewerkschaften ihrerseits erkennen in der Kritik einen «gefährlichen Versuch, die Gesamtarbeitsverträge zu schwächen». Leider stelle ein Teil der Schweizer Arbeitgeberschaft und der bürgerlichen Parteien das Kontrollsystem oder die allgemeinverbindlichen Gesamtarbeitsverträge zunehmend infrage, schrieb die grösste Schweizer Einzelgewerkschaft, Unia, unlängst in einer Medienmitteilung. Ein Beispiel dafür sei die im Parlament laufende Kampagne gegen die Allgemeinverbindlichkeit der GAV, so die Gewerkschaft.

Die frühere Einigkeit der Sozialpartner weicht somit einer grösseren Konfrontation.

Doch während einige Branchenverbände das System kritisieren, hält der Schweizerische Arbeitgeberverband (SAV) den Ball bewusst flach. Er lehnt zwar eine Ausweitung der für allgemeinverbindlich erklärten GAV klar ab. Für einen Rückbau sieht er aber auch keinen Bedarf. Gesamtarbeitsverträge dienten dem Lohnschutz und dem sozialen Frieden, argumentiert der Verbandsdirektor Roland Müller. Das System sei immer wieder hinterfragt worden, doch eine überzeugende Alternative sieht er nicht.

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