Schwächelnde Nachfrage, eine Nulltoleranz-Kampagne gegen Alkohol am Steuer und das Desinteresse der jungen Generation: Die italienischen Winzer stellen sich auf den Wandel der Trinkkultur ein.
Vor einem Jahr war die Welt in Verona auf der Weinmesse Vinitaly in gewisser Hinsicht noch in Ordnung. Wein war noch Wein. Und alkoholfreies Trinken zumindest auf der Messe keine Option. Denn den Weltmarktführern aus Italien war die Herstellung von Null-Promille-Wein untersagt. Allenfalls dürften die Kellereien das Modegetränk in Zukunft «als Traubensaft» auf den Markt bringen, erklärte Landwirtschaftsminister Francesco Lollobrigida im vergangenen April.
Was die Branche nun auf der diesjährigen Vinitaly erleben wird, grenzt deshalb an einen Tabubruch. In Verona steht Anfang April das Debüt des entalkoholisierten Weins bevor. Oder, wie der Bauernverband Coldiretti und der forsche Lollobrigida behaupten, der Verrat an der mehrtausendjährigen Tradition des nationalen Vorzeigegetränks.
Lange Abwehrkämpfe gegen das Neue
Italien hatte sich vier Jahre lang geweigert, eine entsprechende Verordnung aus Brüssel zu übernehmen. Seit 2021 gilt Wein, dem der Alkohol entzogen wurde, in der EU dennoch als Wein. Nur in Italien nicht. Inzwischen musste Lollobrigida klein beigeben. Seit Januar steht es den italienischen Winzern frei, alkoholfreie Varianten ihrer Weine herzustellen.
«Es war auch höchste Zeit», ruft Giancarlo Moretti Polegato gut gelaunt ins Telefon. Das Verbot sei absolut ungerecht gewesen, sagt der Inhaber von Villa Sandi, der grössten Privatkellerei im Prosecco-Anbaugebiet in der Nähe von Treviso. «Wir sind in Europa, warum dürfen die anderen und wir nicht?», gibt er die ungehaltene Frage wieder, die man sich unter Winzern in Italien lange gestellt hat.
Manche umgingen die Vorschriften. Moretti Polegato etwa stellte seine Schaumwein-Alternative «Gioiosa 0,0» aus unvergorenem Most her. Auch in der Schweiz sei deren Markteinführung vor einem Jahr ein Erfolg gewesen. Andere schickten den Wein zur Entalkoholisierung nach Deutschland und karrten ihn zum Abfüllen dann wieder über die Alpen zurück. «Völlig absurd», schimpft Moretti Polegato, der im Hinterland Venedigs in einer 400 Jahre alten Villa des Architekten Andrea Palladio die beiden Marken La Gioiosa und Villa Sandi führt.
Von einer Randerscheinung zum Trendthema
Die Hersteller des weltbekannten Lifestyle-Getränks wurmte es, mit ihrem prickelnden Prosecco von einem Wachstumsmarkt ausgeschlossen zu sein. Der alkoholfreie Wein hat sich von einer Randerscheinung immerhin zu einem Trendthema entwickelt. So springen die italienischen Winzer nun auf einen fahrenden Zug auf. Die Marktanteile bewegen sich zwar im sehr niedrigen einstelligen Bereich, doch das Interesse vor allem unter jungen Leuten wächst kräftig. Erleichtert sagt der Villa-Sandi-Chef nun: «Wir waren drauf und dran, eine grosse Chance zu verpassen.»
Das können sich die Winzer im Süden der Alpen nicht leisten. Im antiken Oinotria, wie die Griechen das Weinland Italien nannten, herrscht Katerstimmung. Der Markt ist weltweit gesättigt. Die Nachfrage sinkt fast überall. Besonders ausgeprägt ist der Abwärtstrend unter jungen Erwachsenen. Vor 15 Jahren gehörte noch ein Zehntel der Weintrinker der Generation der 24- bis 34-Jährigen an. Inzwischen ist ihr Anteil auf 6 Prozent gesunken. Droht den Kellereien der Kundennachwuchs auszugehen?
Hinzu kommen andere Probleme: Die Rebbauern auf der mediterranen Halbinsel kämpfen erstens mit den Auswirkungen der Klimakrise. Sie leiden zweitens unter den inflationsbedingten Kaufkraftverlusten der Verbraucher. Auch die Kriege und die drohenden Strafzölle in den USA, dem wichtigsten Exportmarkt der Italiener, belasten das Geschäft. 2025 wird sich zeigen, ob die Produktionsrückgänge in den beiden vergangenen Jahren das Anzeichen einer strukturellen Krise sind oder nicht.
Lega-Chef Salvini fegt die Lokale leer
In der heiklen Lage fiel dann auch noch Verkehrsminister Matteo Salvini über die Weinwirtschaft her. Der Lega-Chef, ein glühender Trump-Verehrer und notorischer Putin-Freund, trat im Winter eine Kampagne gegen Alkohol am Steuer los. Er machte die neue Strassenverkehrsordnung mit der Kampfparole «Nulltoleranz» zu einem Aufreger. Zwar tastete Salvini die 0,5-Promille-Grenze nicht an. Doch wer sie auch nur minimal überschreitet, riskiert nun in Italien 2200 Euro Bussgeld und sechs Monate Fahrverbot. Bei mehr als 0,8 Promille steigen die Strafen empfindlich an.
Im Land des Lukullus brach Panik aus. Salvini war über Nacht zum Schreck von Weinherstellern, Gastronomen und Wirten geworden. Den «svuota ristoranti» nennen sie ihn nun. Ein Minister, der die Lokale leerfegt. Ausgerechnet Salvini, der grossmäulige Rechtspopulist.
Wenige Schritte vom Kolosseum entfernt gibt Pulika Calzini einen Einblick in die Verunsicherung der Weinliebhaber. «Die radikale Botschaft der Kampagne hat die Leute schockiert», sagt der Mitinhaber der Enoteca Cavour 313, die seit 90 Jahren eine Institution der römischen Weinszene ist. Es kamen weniger Gäste. Paare bestellen statt einer Flasche nur zwei Gläser Wein. Als Calzini seinen Vorrat an Alkoholtestern auffüllen musste, hiess es überall: Ausverkauft! In Italien sind Promille-Tester jetzt in vielen Handtaschen oder Autoablagen griffbereit.
In keinem Land hat sich der Wandel der Trinkgewohnheiten so stark bemerkbar gemacht wie in Italien. Der Weinkonsum ist in den vergangenen 50 Jahren um 70 Prozent gefallen. Einher ging damit eine Revolution in der Weinherstellung. Gefragt war: Klasse statt Masse.
Die italienische Trinkkultur unterscheidet sich heute von den Sitten in nördlicheren Gefilden. «Die Italiener trinken Wein zum Essen und rühren das Glas nach dem letzten salzigen Bissen nicht mehr an», sagt Per Soehlke von der Weinhandelsagentur Smart Wines in Köln. Nach dem Essen weiter Wein zu trinken, sei undenkbar. Erst recht keine schweren Rotweine. Im Restaurant lässt man auch eine halbvolle Flasche auf dem Tisch stehen, sagt Soehlke. Die Devise «Dem Wirt schenke ich nichts» kenne man in Italien nicht.
Die junge Generation bevorzugt leichte Weine
An den Tischen der Weinbar Cavour 313 in Rom wurde 1986 die Feinschmeckerbewegung Slow Food gegründet. Calzini legt heute den Schwerpunkt auf natürliche, biologische und biodynamische Weine. Für No-alcohol-Etiketten sieht er gegenwärtig keinen Platz in seinem Bistrot. «Der Königsweg ist die Reduzierung des Alkoholgehalts», sagt er. Denn frische, leichte Weine sind vor allem unter den jungen Generationen gefragt. Drinkability ist auch in Italien das Zauberwort.
Auf Sizilien stellen sich die Inselwinzer auf die neue Herausforderung ein. In einem Pilotprojekt erforschen sie zusammen mit der Mailänder Universität agronomische und önologische Techniken, um den Alkoholgrad des roten Nero d’Avola zu senken, ohne das intensive Aroma der berühmten sizilianischen Rebsorte zu beeinträchtigen. «Der Markt will keine schweren Weine mehr», sagt Alessio Planeta, der in Menfi an der Südwestküste eine der grössten Bioweinkellereien Italiens betreibt. Ob ein Wein 14,5 oder 12 Prozent habe, mache heute einen grossen Unterschied.
Und der neue Null-Prozent-Wein? Im Streit mit den traditionsbewussten Puristen schlägt sich Planeta, dessen Familie auf Sizilien seit 17 Generationen Landwirtschaft betreibt, auf die Seite der Modernisierer. «Der alkoholfreie Wein hilft, unsere Agrarlandschaft zu bewahren», sagt er. Aufgrund des rückgängigen Konsums seien überall in Italien Weinberge von der Rodung bedroht. Zudem machten die Hersteller grosse Fortschritte bei der Qualität der entalkoholisierten Weine.
Auf den Chianti ohne Alkohol muss man noch warten
Aber um dem Trinkgenuss ohne Alkohol zum Durchbruch zu verhelfen, muss sich in Italien noch einiges ändern. Lollobrigida beharrt auf seinem Verbot für Weine mit geschützter Herkunftsbezeichnung. Davon gibt es in Italien 418. Die Folge: Im Angebot fehlen alle namhaften Tropfen – vom Prosecco im Norden bis zum Nero d’Avola tief im Süden. Italien müsse seine Rückzugsgefechte aufgeben und endlich nach vorne blicken, fordert Planeta. «Ich will auch einen Chianti ohne Alkohol», sagt der sizilianische Weinbaron.