Dienstag, April 1

Der Verkauf von Produkten in Social-Media-Apps könnte zum Massenphänomen werden, auch in der Schweiz. Und die chinesische Firma Tiktok zum Konkurrenten von Amazon.

Am Montag erfolgt der Startschuss für eine Zeitenwende im Detailhandel: In Deutschland, Frankreich und Italien geht Tiktok Shop an den Start. Die Nutzer der erfolgreichen chinesischen Social-Media-Plattform können dann direkt in der App Produkte kaufen, die ihnen in den Kurzvideos angepriesen werden. Und Tiktok lässt sie ihnen nach Hause liefern.

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

E-Commerce war gestern. Nun bricht in Kontinentaleuropa das Zeitalter von Social Commerce an, mit wahrscheinlich weitreichenden Folgen. Das zumindest erwartet Bernhard Egger, Geschäftsführer des Handelsverbands, der die Interessen von Schweizer Händlern vertritt.

Schweiz muss noch etwas warten

Obwohl Tiktok Shop in der Schweiz zu einem späteren, noch unbekannten Datum ausgerollt wird, erwartet Egger auch bei uns eine rasche Verschiebung der Einkaufsgewohnheiten: «Social Commerce stellt eine einschneidende Veränderung für den Handel dar. Ich gehe davon aus, dass sein Marktanteil in der Schweiz in fünf Jahren von null auf 15 bis 20 Prozent der Online-Verkäufe steigen wird.»

Das wäre ein beachtliches Volumen. 2024 kauften Schweizer Konsumenten für 14,9 Milliarden Franken online Waren ein. Ist eine Verlagerung von bis zu 20 Prozent dieser Summe realistisch?

«In manchen asiatischen Ländern liegen die Marktanteile von Social Commerce heute sogar schon massiv höher», gibt Egger zu bedenken. Dazu kommt: Tiktok mag zwar die Pionierin dieses Trends sein, aber andere Akteure werden bald folgen. Auch die Meta-Plattformen Instagram oder Facebook positionieren sich für Social Commerce.

Wieso Käufe in Social-Media-Apps so viel Potenzial haben, erklärt Judith Bähler. Sie ist Künstlerin und gleichzeitig Content-Creator bei der Zürcher Medienagentur mBusiness. Das heisst, sie erstellt nicht nur als Privatperson Tiktok-Videos, sondern auch im Auftrag von Unternehmen.

Impulskontrolle entfällt

Bähler verkauft 95 Prozent ihrer Kunst an ein Tiktok-Publikum, das sich Videos ansieht, in denen Bähler zeigt, wie ihre Bilder und Postkarten entstehen. Wenn es gut läuft, kaufen einige der Zuschauer diese Artikel dann in Bählers eigenem Web-Shop.

«Ich hätte aber viel mehr Erfolg, wenn jene, die meine Videos schauen, gleich auf der App kaufen könnten. Dann versagt nämlich die Impulskontrolle», sagt Bähler. «Doch heute ist es so: Selbst wenn eines meiner Videos viral geht und 50 000 Zugriffe hat: Der Impuls etwas zu kaufen, ist meist vorüber, wenn jemand auf eine externe Seite gehen und sich dort auch noch registrieren muss.»

Bähler ist, wie andere Schweizer Tiktok-Creators im Vorfeld der Lancierung von Tiktok Shop kontaktiert worden. Aus dem Ausland. «Viele von uns sind in den letzten Tagen von Anfragen deutscher Agenturen überhäuft worden, die offenbar Schweizer Creators abgreifen wollen», sagt sie. «Es heisst, genauere Informationen würden am 31. März folgen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob es für mich aus der Schweiz heraus einen Weg gibt, von Tiktok Shop zu profitieren.»

«Schwer enttäuschte» Schweizer Creators

Eine dieser Agenturen ist Enkime in Berlin, eine offizielle Partnerin von Tiktok Shop. Sie berät Unternehmen, die mit Social Commerce loslegen wollen, und vermittelt ihnen Tiktok-Creators. Enkime bestätigt, eine Reihe von Tiktokern in der Schweiz kontaktiert zu haben. Wieso, bleibt unklar. «Viele von ihnen können es kaum erwarten, dass Tiktok Shop auch in der Schweiz startet. Sie sind jetzt schwer enttäuscht, dass sie noch etwas warten müssen», sagt Enkime-Mitgründer Matteo Sidiropoulos.

Er schildert, wie hoch die Erwartungen nicht nur bei den Creators selbst, sondern auch bei Unternehmen seien. «Wenn man direkt auf einer so wichtigen Plattform verkaufen kann, ohne dass potenzielle Kunden die App verlassen müssen, um etwas zu bestellen, werden die Konversionsraten massiv steigen», so Sidiropoulos.

Zu den Firmen, die in Deutschland vom ersten Tag an auf Tiktok Shop verkaufen wollen, gehört etwa About You. Der bekannte Online-Modehändler vertreibt Marken wie Adidas, Dr. Martens oder Birkenstock. Er schreibt in einer Medienmitteilung, dass er ab Montag «personalisierte Inspiration dorthin bringt, wo sich Generation Y und Z am liebsten aufhalten – direkt in ihren Tiktok-Feed».

Eine neue Form von Unternehmertum

About You ist ein grösseres Unternehmen. Doch Sidiropoulos betont vor allem auch die Chancen für KMU. Sie könnten mit tiefen Kosten an neue Kunden herankommen. Und aus manchen Creators werden nun wohl definitiv Unternehmer: «Wer 1500 Abonnenten hat und volljährig ist, kann sich bei Tiktok als Verkäufer eintragen und seine eigenen Produkte vermarkten. Das ermöglicht spannende neue Geschäftsmodelle, eine Creator-Economy.»

Das Potenzial von Social Commerce lässt erahnen, dass Tiktok mehr sein will als bloss eine süchtig machende Video-App, die noch ein bisschen Werbung verkauft. Das chinesische Unternehmen dürfte selbst für Amazon und Co. zu einem ernsthaften Konkurrenten werden.

«Was Tiktok Shop speziell macht, ist, dass er auch den Zahlungsprozess und die Logistik abwickelt: Die Vision ist, dass ein Tiktok-Lieferdienst die Ware bis nach Hause bringt», sagt Bernhard Egger vom Handelsverband. Und weil sich das Unternehmen mit tieferen Margen begnüge als Amazon, um Marktanteile zu gewinnen, dürfte es schnell zu einem dominanten Akteur im Handel werden, erwartet der Experte.

Auch Mischa Birnstiel, Geschäftsführer der digitalen Medienagentur mBusiness und damit auch Arbeitgeber von Creator Judith Bähler, sieht in der chinesischen App einen Handelsriesen in spe.

Besonders wertvolle Nutzerdaten

«Ich gehe davon aus, dass für Tiktoks Geschäftsmodell E-Commerce inklusive Zahlungsabwicklung und Auslieferung viel wichtiger ist als bezahlte Werbung», sagt Birnstiel. «Mit Transaktionen kann man wesentlich mehr verdienen und erhält auch besonders wertvolle Daten durch das Kaufverhalten der Nutzer.»

Für Unternehmen aus China liege es auf der Hand, dass Dienstleistungen und Warenkäufe in Apps stattfinden. Denn in Shenzhen oder Peking lässt sich ohne sogenannte Super-Apps wie WeChat der Alltag schlicht nicht mehr bestreiten: Wer Essen bestellen, Taxis rufen oder einen Arzttermin vereinbaren will, braucht WeChat.

Auch in der Schweiz wird den Firmen bewusst, welchen Stellenwert Tiktok für junge Menschen mittlerweile hat. «Letztes Jahr hat sich die Anzahl der Unternehmenskonten auf Tiktok verdoppelt. Im ersten Quartal hat es seither noch einmal eine Beschleunigung gegeben», sagt Birnstiel. Firmen merkten, dass sie um diese Plattform nicht herumkämen. «Namentlich auch Banken wie die UBS, die anfangs etwa wegen Datenschutz Bedenken hatten, sind jetzt ebenfalls auf Tiktok aktiv.»

Wer sich immer noch nicht recht vorstellen kann, wie Tiktok Shop den Absatz von Produkten beflügeln kann, sollte sich einmal ein beliebtes Format auf der Plattform anschauen: Sogenannte Get-ready-with-me-Videos. In diesen zeigen trendbewusste junge Frauen und Männer, wie sie sich für den Ausgang bereit machen: Sie demonstrieren Beauty-Tricks und halten ihre Lieblingsklamotten in die Kamera. Gibt es ein idealeres Umfeld, um Schminkutensilien, Pflegeprodukte oder Kleider anzupreisen und zu verkaufen?

Proteinpulver für den knackigen Po

Fitness-Influencerinnen, die auf Tiktok vorführen, wie sie Klimmzüge oder Deadlifts machen, werden beiläufig noch das Eiweisspulver empfehlen, mit dem jede Frau einen knackigen Po bekommen kann.

Creators, die in Videos zeigen, wie sie ihren Lieblingssalat mit Granatapfel und Sellerie zubereiten, werden noch das Olivenöl in die Kamera halten, mit dem sie so gute Erfahrungen gemacht haben. Es ist natürlich viel schonender produziert als jene Produkte, die man beim Detailhändler erhält.

Ältere Semester werden sich bei solchen Schilderungen an Shopping-Shows im guten alten TV erinnert fühlen.

Exit mobile version