Das Südpolarmeer absorbiert so viel Kohlendioxid, wie die USA pro Jahr ausstossen. Trotz der Bedeutung im Kampf gegen den Klimawandel ist es wenig erforscht. Mithilfe der Solo-Weltumsegelung wollen Forschende die Prozesse im Südlichen Ozean besser verstehen.
Oliver Heer segelt im Moment weit entfernt von der Zivilisation im Pazifik. Auf 55 Grad südlicher Breite, der antarktische Eisschild ist weniger als tausend Kilometer entfernt. Heer, 36 Jahre alt, befindet sich in den Furious Fifties – einem Gebiet, das berüchtigt ist für hohen Seegang, heftige Stürme, unwirtliche Bedingungen. Kaum ein anderes Schiff verirrt sich in diese Gegend, sie liegt fernab aller Schifffahrtsrouten. Heer nimmt an der Vendée Globe teil, der härtesten Segelregatta der Welt. Dabei kämpft er nicht nur gegen Müdigkeit, Einsamkeit, Wind und Wetter – er erhebt auch Daten für die Wissenschaft.
Drei Meter unter dem Deck von Heers Jacht strömt unentwegt Meerwasser in eine Öffnung im Kiel. Eine Pumpe befördert das Wasser in eine Box, die auf dem Schiff montiert ist. Das Gerät, Oceanpack genannt, misst alle drei bis vier Minuten den CO2-Gehalt, die Temperatur und den Salzgehalt des Wassers. Etwa 100 000 Franken hat das Oceanpack gekostet. Finanziert hat es das Swiss Polar Institute (SPI), eine Stiftung, die Forschung in den Polarregionen und im Hochgebirge fördert.
Toste Tanhua ist Wissenschafter am Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung (Geomar) in Kiel. Sein Spezialgebiet ist maritime Biogeochemie. Tanhua ist selbst Hobbysegler, besitzt ein eigenes Boot. Einmal segelte er von Göteborg nach San Diego, Kalifornien, und zurück. Wenn er in den Sommerferien mit seinem Boot in Richtung Schweden segelt, nimmt er im Skagerrak ähnliche Messungen vor, wie es Heer im Südozean macht. Über Tanhua fanden der Offshore-Segelsport und die Wissenschaft einst zusammen. 2018 fragten die Veranstalter des Ocean Race, einer Weltumsegelung für Teams, ihn an, ob er die Möglichkeit sehe, während der Regatta wissenschaftliche Daten zu erheben.
Tanhua fand die Idee spannend, montierte auf einem Boot ein Messgerät, das den Gehalt von Mikroplastik im Meer mass. Eine weitere Jacht stattete er mit einem CO2-Messgerät aus. Zwei Jahre später kam der deutsche Skipper Boris Herrmann auf Tanhua zu und bot seine Dienste während der Vendée Globe an. Tanhua sagt: «Die Vendée Globe hilft uns enorm. Am liebsten wäre uns, wenn das Rennen jedes Jahr statt alle vier Jahre stattfinden würde.»
Nur alle zehn Jahre umrundet ein Forschungsschiff die Antarktis
Der Südliche Ozean ist wenig erforscht, er liegt zu abgelegen, ist zu lebensfeindlich. Expeditionen dorthin sind deshalb teuer, ausserdem gibt es schätzungsweise nur hundert hochseetaugliche Forschungsschiffe auf der Welt, die für eine solche Fahrt infrage kämen. Zwar sind auch einige Fracht- und Kreuzfahrtschiffe mit CO2-Messgeräten ausgestattet. Doch diese sind meist auf denselben Routen unterwegs, zum Beispiel von der amerikanischen Westküste nach Japan.
Kommerzielle Schifffahrt gibt es so weit südlich kaum. Viele Messungen im Südpolarmeer werden von Versorgungsschiffen der Antarktis-Stationen erhoben, doch die fahren in einem Korridor Richtung Süden; eine Umrundung der Antarktis durch ein Forschungsschiff wird selten durchgeführt. Etwa alle zehn Jahre, schätzt der Wissenschafter Tanhua.
Das Südpolarmeer spielt im Weltklima eine entscheidende Rolle. Nicolas Gruber ist Umweltphysiker und ETH-Professor, er betreut die Messungen des Schweizer Vendée-Globe-Seglers Heer von Land aus. Gruber sagt: «Die Bedeutung des Südozeans als CO2-Senke ist enorm.» Der von Menschen verursachte CO2-Ausstoss beträgt 40 Milliarden Tonnen pro Jahr. Zum Vergleich: Ein Flug von Zürich nach New York schlägt mit einer Tonne zu Buche. Das Gas ist einer der Haupttreiber für die Erderwärmung. Etwa ein Viertel davon wird von den Ozeanen absorbiert.
Der Südliche Ozean speichere besonders viel CO2, sagt Gruber: «Wir gehen davon aus, dass das Südpolarmeer pro Jahr vier Milliarden Tonnen CO2 absorbiert. Das ist deutlich mehr als der Amazonas-Regenwald und entspricht den Emissionen der USA.» Wenn man von Vermeidungskosten von 100 US-Dollar pro Tonne CO2 ausgeht, ist die «Leistung» des Südozeans also mindestens 400 Milliarden Dollar wert. Verringerte sich diese Leistung oder fiele sie ganz weg, würde die Erderwärmung noch stärker ausfallen.
Dass der Südozean derart viel zusätzliches Kohlendioxid absorbiert, ist vor allem den Meeresströmungen zu verdanken. Zuerst reagiert das Kohlendioxid mit dem Meerwasser und löst sich darin auf. Dann wird das CO2 durch Strömungen und Mischprozesse in die Tiefe getragen. Das ermöglicht es dem Wasser an der Oberfläche, weiteres Kohlendioxid aus der Atmosphäre aufzunehmen. Doch nicht überall auf den Meeren wirkt der Ozean als CO2-Senke, mancherorts ist das Gegenteil der Fall. Es sind Prozesse wie diese und die Veränderungen der Fähigkeit, CO2 aufzunehmen, die Tanhua und Gruber besser verstehen möchten.
Zehn bis zwanzig Prozent der weltweiten Messungen stammen von der Vendée Globe
Um dieses Verständnis zu erlangen, braucht es genaue Modellrechnungen. «Wir messen etwa ein Prozent der Ozeanoberfläche, mehr schaffen wir nicht», sagt Tanhua. Die Daten, die Skipper wie Herrmann oder Heer sammeln, fliessen in Modellrechnungen ein, die mit künstlicher Intelligenz erstellt werden. Er schätzt, dass zehn bis zwanzig Prozent der weltweiten CO2-Messungen in den Ozeanen von Teilnehmenden der Vendée Globe erhoben werden. «Sie schliessen eine grosse Lücke, das ist phantastisch.»
Gruber sagt, dass dieses Jahr erstmals kombiniert Daten erhoben würden, von verschiedenen Rennjachten, an fast gleichen Orten zu unterschiedlichen Zeiten. Er erhofft sich davon Erkenntnisse über zeitliche und räumliche Unterschiede der CO2-Aufnahmefähigkeit. «Was genau dabei herauskommen wird, kann ich noch nicht abschätzen», sagt Gruber.
Erkenntnisse gibt es aber von der letzten Vendée Globe, die im Winter 2020/21 stattfand. Damals zeigte sich, dass die CO2-Aufnahmefähigkeit des Südpolarmeers geringer ist, als die Wissenschafter angenommen hatten. «Diese Prozesse verstehen wir noch nicht gänzlich. Aber Messungen wie jene der laufenden Vendée Globe werden uns zeigen, in welchem Bereich wir in den nächsten zehn Jahren Fortschritte machen können», sagt Tanhua.
2028 sollen wissenschaftliche Messungen zur Pflicht werden
Mittlerweile haben 25 der 40 teilnehmenden Skipper unterschiedlichstes wissenschaftliches Gerät an Bord. Eine finanzielle Entschädigung erhalten sie dafür nicht. Nebst Oceanpacks wie bei Heer werfen manche Teilnehmer Bojen über Bord, die danach im Wasser treiben. Einige setzen ausserdem sogenannte Argo-Floats ein, tauchende und treibenden Bojen, die bis auf 2000 Meter sinken. Die Geräte sollen Daten erheben, damit die Verfrachtung des CO2 in die Tiefsee besser verstanden werden kann.
Ab 2028 sollen wissenschaftliche Messungen für alle Teilnehmenden der Vendée Globe zur Pflicht werden. Gruber sagt, an herkömmlichen Instrumenten auf Forschungsschiffen müsste jeden Tag «jemand herumbasteln». An der Vendée Globe ist das allerdings nicht möglich, die Skipper haben anderes zu tun. Die Messgeräte müssten daher autonom funktionieren, wenig Strom verbrauchen und leicht sein. Der ETH-Professor Gruber erhofft sich von der Regatta deshalb nicht nur Daten, sondern auch einen Technologiesprung bei wissenschaftlichen Gerätschaften. «Es ist wie in der Formel 1, technische Errungenschaften aus der Rennserie kommen normalen Autos zugute», sagt Gruber.
Im Norden Deutschlands ist bereits eine Innovationsplattform gegründet worden. Das Ziel? Die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Seglern und Herstellern von Messgeräten zu stärken. Tanhua sagt: «Die Erfahrung an der Vendée Globe hat gezeigt, dass auch Nichtwissenschafter wichtige Daten über die Ozeane erheben können.» Die Absicht sei nun, günstigere und noch einfacher zu bedienende Instrumente zu entwickeln.
An der laufenden Vendée Globe werden die 25 Skipperinnen und Skipper einen riesigen Datensatz zusammentragen. Dieser wird Forschenden auf einer digitalen Plattform zur Verfügung gestellt, vorher werden die Messungen aber durch Wissenschafter überprüft und korrigiert. Tanhua rechnet damit, dass der Datensatz irgendwann im Frühjahr für Auswertungen zur Verfügung stehen wird: «Dann werden sich Wissenschafterinnen und Wissenschafter aus aller Welt darauf stürzen.»