Montag, September 1

Nelio Biedermanns Familiensaga «Lázár» erscheint in 20 Ländern und liest sich, als stamme ihr 22-jähriger Autor aus einer anderen Generation. Seine hemmungslose Erzähllust ist seine grosse Stärke – und wird ihm hie und da zum Verhängnis.

Nelio Biedermann schreibt seine Romane von Hand. Die Sätze, die er auf seinen Notizblock schreibt, haben keine Tiktok-Kürze, sondern sind lang und verschlungen, voller «gedrechselter dunkler Möbel», «schwerem Silberbesteck» und «Farnen, die um Knöchel streifen». Ziemlich old school für einen Schriftsteller aus der Gen-Z.

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Nelio Biedermann wird als das nächste literarische Wunderkind angepriesen. Sein frisch erschienener Roman «Lázár» erscheint gleich in mehr als 20 Ländern. «So einen Roman hält man nur selten in den Händen», schreibt der Rowohlt-Verleger Gunnar Schmidt. Auf dem Buchrücken kündigt Daniel Kehlmann einen grossen Schriftsteller an, «im Vollbesitz seiner Fähigkeiten». Und Caroline Wahl, ebenfalls ein Jungstar der rowohltschen Literaturwelt, schreibt auf Instagram: «Wie kann man mit 22 Jahren so schreiben??!! Hääää».

Der Hype ist jedenfalls da – und Nelio Biedermanns Terminkalender ist voll. Bis Ende des Jahres ist der junge Schriftsteller für über 20 Lesungen gebucht, Zürich, Berlin, Frankfurt. «Natürlich kann ich es kaum erwarten, aber manchmal ist es auch unheimlich», schrieb er im Juli auf Instagram. Kaum erwachsen, und schon ein Held der Literaturwelt?

Ein Schriftsteller im Sog

Auf dem Buchumschlag von «Lázár» schaut Nelio Biedermann seine Leser aus dunklen Augen an. Er trägt Schnauz und eine grobmaschige Silberkette, der Blick ist bestimmt, die Haltung eine Mischung aus gelassen und gespannt wie ein Bogen.

Biedermann entdeckte das Schreiben im Lockdown. Er nahm an einem Kurzgeschichtenwettbewerb der Kantonsschule Enge teil und gewann den ersten Preis. Mit 17 schrieb er «Verwischte Welt», ein Frühwerk, wie er es in einem Interview nennt.

Seine Maturarbeit trägt den Titel «Über das Schreiben und mich». Gleich am Anfang heisst es: «Ich hatte schon lange mit dem Gedanken gespielt, eine Geschichte über das Leben zu schreiben, wie ich es kenne und erlebe.» Er interviewt Benedict Wells, Max Küng, Simone Lappert, Thomas Mayer, will von ihnen wissen, wie sie zum Schreiben kamen, was sie antreibt. Und er philosophiert über sein eigenes Schreiben, nimmt die Figuren in «Verwischte Welten» auseinander und berichtet über seinen Schreibprozess. Da wusste jemand früh, was er wollte.

Seinen ersten Roman «Anton will bleiben» (2023) schrieb Biedermann in vier Monaten, «Lázár» in einem Jahr. Der junge Schriftsteller ist im Sog.

Auf dem Verlagsfoto sieht man verschwommen den Zürichsee. In Zürich ist Nelio Biedermann aufgewachsen, hier studiert er Germanistik und Filmwissenschaften, und hier endet sein neuester Roman. In «Lázár» schreibt er drei Generationen durch das 20. Jahrhundert. Neben den privaten Schicksalen seiner Figuren bricht die Habsburgermonarchie zusammen, lodert der Nationalsozialismus, endet der Zweite Weltkrieg. Es ist ein grosses Unterfangen. Und manchmal wächst es Biedermann über den Kopf.

Weltgeschichte, Familiengeschichte

«Lázár» basiert auf Biedermanns Familiengeschichte, sein Vater stammt aus ungarischem Adel, die Grosseltern flüchteten in den 1950er Jahren in die Schweiz. Der Roman beginnt zur Jahrhundertwende mit der Geburt von Lajos von Lázár in einem ungarischen Waldschloss. Die Stimmung ist düster, verträumt und voller böser Vorahnungen. Biedermann schreibt: «(. . .) und mit jeder Minute wuchs die Lüge, trieb ihr Wurzelnetz tiefer in den Boden, spannte ihr Blätterdach weiter und weiter, bis es irgendwann ihre Familie, das Waldschloss und ihr ganzes Leben überschatten würde.»

Die untergehende Monarchie kündigt sich auch in der Psyche der Charaktere an, die wirr durch das Schloss wandeln, von der schwindenden Kaiserzeit träumen und ihrer Melancholie auf die ein oder andere Weise erliegen.

Lajos’ Mutter Mária ritzt sich jeden Morgen mit der Rasierklinge ihres Mannes den Unterarm, bis sie sich schliesslich in einem Fluss ertränkt. Der Vater Sándor, der eigentlich nicht der Vater ist, erliegt seinem Alkoholismus und stürzt die Treppen hinunter. Sándors Bruder Imre, «der Verrückte», verbringt die meiste Zeit in einem verschlossenen Zimmer oder in einem Sanatorium in den Schweizer Alpen.

Inmitten dieser Tragik wächst Lajos auf. Er besucht ein Internat, verliebt sich, heiratet, wird Vater. Um ihn herum tobt die Geschichte. Die Kaiserzeit endet, der Zweite Weltkrieg beginnt, Machtübernahme durch die Kommunisten, Ungarischer Volksaufstand, das Buch rast. Schliesslich flüchten Lajos’ Kinder in die Schweiz, vor ihnen liegt der Zürichsee wie ein grosses Versprechen.

Wahnsinn, Krieg, Sex – alles dabei

«Lázár» ist ein Roman, der sich liest, als stamme sein Autor aus einer anderen Generation. Biedermanns Sätze sind verschachtelt, und seine Sprache ist so lustvoll und üppig, dass sie manchmal vor lauter Adjektiven überzuquellen droht. Für Biedermann gibt es kein Blau, Gelb oder Rot, sondern nur Milchigblau, Blütengelb und Klatschmohnrot.

Auch der Plot von «Lázár» ist reichhaltig. Wahnsinn, Krieg, Suizid, Sex – alles ist da. Weltgeschichte, Familiengeschichte und Einzelschicksale sind miteinander verknüpft, ständig wechselt die Perspektive, Literaturreferenzen gibt es auch. Auf den Nachttischen von Biedermanns Figuren liegen die Werke von Marcel Proust, Virginia Woolf und E. T. A. Hoffmann. Wohl nicht umsonst sind es die Werke der alten Meister.

Obendrauf kommt eine Art Meta-Erzählstimme, die sich Gedanken über die Schriftstellerei macht, was stellenweise etwas prätentiös und überladen klingt. «Der Schriftsteller fürchtet sich vor nichts mehr als vor dem Glück», heisst es dann etwa.

Staunend folgt man Biedermann durch alle Versuche, den grossen Stoff zu bändigen. Ziemlich mutig, sich mit 22 Jahren an ein solches Ungetüm heranzuwagen.

Ein Roman wie ein Dickicht

Doch an manchen Stellen verirrt sich die Geschichte in ihrer eigenen Grösse. «Lázár» ist rastlos. Die Kapitel sind kurz, und die Schnitte eng gesetzt. Zu eng. Mitunter verliert man die Orientierung. Immer wieder wünscht man sich, dass der Erzähler endlich verweilt, sich Zeit nimmt, ein Gespräch, eine Beobachtung, eine Figur zu entfalten.

Überhaupt geht manches im Dickicht des Romans verloren. Lajos ist an der Vernichtung der Juden beteiligt, liest man. Aber wie genau? Und was löst das im Familiengefüge aus? Unklar. Der Roman wimmelt von Charakteren, die miteinander verschmelzen, zu ähnlich sind ihre Gedanken, zu schnell verschwinden sie im Strudel der Geschichte, so dass sie flach und unnahbar bleiben. Es ist, als würde auch der allwissende Erzähler vieles nicht wissen oder zumindest vieles verschweigen.

Ein Teil des Nebels mag gewollt sein. Immer wieder kreist Nelio Biedermann um das Verschweigen von unliebsamen Familiengeheimnissen. Und immer wieder vermutet man im düsteren Wald, der das Schloss umgibt, die Auflösung all der Rätsel, die der Roman seinen Lesern aufgibt. In «Lázár» stecken viele Anfänge, doch am Ende hat man das Gefühl, in einem grossen Gewusel alleingelassen zu werden.

Erzählen wie die alten Meister

Nelio Biedermann, das spürt man deutlich, hat grosse Lust am Erzählen. Sexszenen, Suizidszenen, Vergewaltigungsszenen – er schreckt vor nichts zurück. Manchmal sind sie wenig glaubwürdig, etwa wenn ein Protagonist über seiner Gulaschsuppe darüber nachdenkt, «wo die Liebe hingeht, wenn sie verschwand». Aber egal, scheint Biedermann sich gesagt zu haben, ausprobieren, hinfallen, aufstehen, weitermachen.

Und es lohnt sich. Immer wieder taucht eine Satzperle auf, etwa wenn Biedermann schreibt: «Unter seinen Stiefeln knackten die trockenen Zweige und knirschte das hartgefrorene Moos, über ihm schwiegen die Vögel, durch die Wipfel ging ein Hauch.»

Nelio Biedermanns Erzählwut widerspricht allen Trends und Ahnungen. Junge Leute würden nur noch scrollen und um sich selbst kreisen, liest man. Biedermanns Buch aber ist keine Autofiktion, er nutzt die Familiengeschichte als Sprungbrett, um sich in eine andere Zeit zu schreiben. Für die Recherche fuhr er zu seinem Grossonkel nach Budapest, der dort die Relikte der einst so rühmlichen Adelsfamilie hütet.

Vielleicht, so denkt man beim Lesen, ist Biedermann der Bote einer neuen Schreibgeneration, die sich von der digitalen Glätte abwendet und sich wieder dem Physischen widmet, den «Haselzweigen» und «nadelgrünen Vorhängen». Einer Generation, die wieder erzählen und träumen will.

Exit mobile version