Der Mann gilt als psychisch krank und gefährlich. Das Zürcher Bezirksgericht muss eine schwierige Entscheidung treffen.

Es ist der 13. April 2024, gegen 21 Uhr abends. In der Querhalle des Zürcher Hauptbahnhofs bewegt sich ein Fremder auf einen 89-jährigen, gebrechlich wirkenden Mann zu. Er schlägt ihm unvermittelt die Hand ins Gesicht. Das Opfer stürzt zu Boden. Noch während sich der betagte Mann, auf allen vieren kriechend, wieder zu fassen versucht, macht der Fremde einige Schritte zurück, holt aus und tritt ihm mit voller Wucht mit dem Schuh ins Gesicht.

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Der 89-Jährige erleidet unter anderem mehrere komplexe Gesichtsknochenbrüche.

Der Gewalttäter packt einen zweiten Passanten an der Krawatte, stösst und schüttelt ihn. Dabei soll er ihn mehrfach auf Französisch als «Drecksjuden» beschimpft haben, wie die Staatsanwaltschaft später schreiben wird. Die Vorgänge sind von Überwachungsvideos aufgezeichnet worden. Der Täter, ein 32-jähriger Marokkaner, wird verhaftet und sitzt seither im Gefängnis.

Der Mann hatte am selben Morgen schon einen anderen Polizeieinsatz ausgelöst: Im Crapteig-Tunnel auf der A 13 bei Sils im Domleschg überfuhr er um 7 Uhr 24 mit einem Citroën die doppelte Sicherheitslinie. Mehr als 200 Meter rollte er als Geisterfahrer auf der Gegenfahrbahn, danach fuhr er in Schlangenlinien weiter.

Obwohl ihm von einer Polizeipatrouille signalisiert worden war, ihrem Wagen zu folgen, bog er nach der Ausfahrt der Autostrasse in eine andere Strasse ab. Die Polizei musste ihn mit Blaulicht verfolgen, um ihn schliesslich zu stoppen.

Der Mann verweigerte jede Massnahme, um festzustellen, ob er fahrtüchtig war. Die Polizei nahm ihm daraufhin die Autoschlüssel ab, beschlagnahmte den Citroën, aber liess ihn wieder laufen. Er war erst am Vortag mit dem Auto in Genf illegal in die Schweiz eingereist. Um 21 Uhr tauchte er dann im Zürcher Hauptbahnhof auf.

Der Beschuldigte glaubte, ein Prophet zu sein

Ein Jahr später sitzt der Marokkaner als Beschuldigter vor Bezirksgericht Zürich. Ihm werden unter anderem versuchte vorsätzliche Tötung, Beschimpfung, mehrfache grobe Verkehrsregelverletzung und Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit vorgeworfen. Da eine Gerichtspsychiaterin bei ihm eine paranoide Schizophrenie diagnostiziert hat, soll er aber für nichts schuldfähig sein.

Die Staatsanwältin beantragt eine stationäre Therapie zur Behandlung psychischer Störungen und einen Landesverweis von zehn Jahren. Die Aufenthaltsbewilligung für Frankreich, wo der Mann ab 2014 in der Gastronomie arbeitete, ist inzwischen auch abgelaufen.

Der Beschuldigte räumt zwar ein, psychische Störungen zu haben. Eine paranoide Schizophrenie bestreitet er aber. Seit er in Zürich im Gefängnis sitze und Medikamente nehme, habe er auch keine Symptome mehr. In Frankreich habe er geglaubt, ein Prophet zu sein und den Menschen Nachrichten überbringen zu müssen. Eine stationäre Therapie sei nicht nötig. Er glaube sogar, dass dies seine psychische Situation verschlechtern würde.

Der Mann wurde in Frankreich schon zweimal in einer psychiatrischen Klinik behandelt. Die Leute und das Umfeld dort seien «ungesund» für ihn, sagt er. Die Medikamente, die er nehme, seien ausreichend, um seine Störung zu behandeln. Er erklärt trotzdem, dass er bereit wäre, bei einer verordneten Therapie mitzumachen. Denn er respektiere die Justiz.

Die Gewalttat, die auf Video festgehalten ist, gibt er zu. Er habe aber «keine Idee», weshalb er das gemacht habe. «Es ist einfach so gekommen.» Dann liefert der Beschuldigte doch noch so etwas wie eine Erklärung: Als er in Frankreich im Gefängnis gewesen sei, habe er gesehen, wie andere Häftlinge ältere Mitinsassen geschlagen hätten, die wegen Vergewaltigung eingesessen hätten. Als er dann den alten Mann im Hauptbahnhof am Boden gesehen habe, habe er einfach Hass gespürt.

«Wollten Sie den Mann töten?», fragt der vorsitzende Richter direkt. «Nein, das sicher nicht.» Er habe kein Ziel gehabt mit dem Fusstritt. Er habe sogar Mitleid mit dem Mann bekommen und ihm aufhelfen wollen, behauptet er. Als er das gemacht habe, habe er geglaubt, im Kontakt mit Gott zu sein. Er sei zwar Atheist, deshalb könne er nicht zurück nach Marokko. Er glaube aber trotzdem an Gott, sagt er und verwirrt damit die Anwesenden im Gerichtssaal.

Die Beschimpfung eines anderen Passanten bestreitet der Mann. Er habe diesen vermutlich nur gefragt, ob er Jude sei. Denn er fühle sich wie «der Retter der Juden». Der Beschuldigte bittet vor Gericht mehrfach um Entschuldigung für seine Taten.

Freilassung wäre «ein gefährliches Experiment»

Die Staatsanwältin räumt ein, sie habe sich während der Untersuchung selber gefragt, ob es sinnvoll sei, einen Mann, der sich erst seit zwei Tagen in der Schweiz aufgehalten habe und keinerlei Beziehungen zum Land habe, in der Schweiz therapieren zu lassen. Der Beschuldigte sei aber gefährlich. Ihn freizulassen, sei ein Experiment, bei dem Menschen zu Schaden kommen könnten. Die Gerichtspsychiaterin habe eine mittelhohe Wahrscheinlichkeit für weitere Gewalttaten angenommen.

Der Anwalt des Opfers beantragt eine Genugtuung von 80 000 Franken. Sein Klient habe nur durch Zufall überlebt. Der 89-Jährige habe ihm gegenüber seine Leidenszeit wie folgt beschrieben: «Ich habe ein Jahr lang in verschiedenen Spitälern die weisse Decke angestarrt.» Das Opfer sei nicht zur Gerichtsverhandlung gekommen, weil es Angst vor dem Beschuldigten habe.

Die Verteidigerin sieht den Straftatbestand der versuchten Tötung nicht als erfüllt an und plädiert auf schwere Körperverletzung. Von einer stationären Massnahme sei abzusehen. Man solle den Beschuldigte freilassen, damit er in sein Heimatland zurückkehren könne. Der Mann anerkenne eine Genugtuung von 40 000 Franken und sehe ein, dass er Medikamente nehmen müsse, um keine Psychose mehr zu bekommen.

Für eine Therapie fehle aber jegliche Motivation. Er habe keine Beziehungen zur Schweiz. Die Erfolgsaussichten für eine Therapie seien deshalb sehr schlecht. Er werde aber sofort ausreisen, damit sei die Sicherheit der Schweizer Bevölkerung gewährleistet.

Das Bezirksgericht Zürich sieht jedoch den Straftatbestand der versuchten vorsätzlichen Tötung als erfüllt an und stuft den Marokkaner als schuldunfähig ein. Es verordnet ihm eine stationäre Therapie und spricht einen Landesverweis von zehn Jahren aus. Zudem bleibt er bis zum Massnahmeantritt in Sicherheitshaft.

Das Gericht kommt zum Schluss, dass der Beschuldigte im Sinne eines Eventualvorsatzes den Tod des Opfers in Kauf genommen habe. Vom Vorwurf der Beschimpfung wird er aber freigesprochen, weil es keine verwertbaren Beweismittel für diesen Vorwurf gebe.

Der Mann habe im Wissen darum, dass er eine Psychose habe, seine Medikamente abgesetzt, bevor es zu den Gewalttaten gekommen sei. Das könne ihm nicht vorgeworfen werden. Denn die fehlende Krankheitseinsicht sei eben gerade Teil seiner Krankheit. Trotzdem sei er «hochgefährlich». Eine stationäre Massnahme sei zwingend. Das Risiko sei einfach zu gross, dass «so etwas» erneut passiere, wenn man ihn freilasse. Dass er unbehandelt nach Marokko zurückreise, sei nicht akzeptabel.

Urteil DG250017 vom 10. 4. 2025, noch nicht rechtskräftig.

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