Sonntag, November 24

Japan steht am Ursprung jener Populärkultur der Herzigkeit, die mittlerweile die halbe Welt erobert hat. Die Begeisterung für das Kleine, Liebliche und Süsse ist höfischen Ursprungs.

Früher verkauften sich Kinderwagen in Japan schlecht. Solche Gefährte wurden in Zügen, Bussen und Supermärkten als störend empfunden. Kinder am Tragriemen geht ja noch, aber diese Ungetüme . . . In letzter Zeit sieht man sie immer öfter auf Bürgersteigen, kleine Modelle zwar, doch in den Wägelchen liegen keine Kinder, sondern Hündchen, oft in Westen oder Pullis gekleidet. Manch ein Passant schielt in die Öffnung und ruft: «Kawaii!» Ob Kind oder Hund, der Kommentar passt.

Das Eigenschaftswort gehört zu den in Japan am meisten gebrauchten überhaupt, man kann es tagein, tagaus bei den verschiedensten Gelegenheiten hören. Schwer zu übersetzen, wird manchmal behauptet, aber das stimmt eigentlich nicht, das Wort wird nur anders gebraucht als anderswo.

Im Englischen hat man «cute», im Deutschen stehen «lieb», «süss», «niedlich», «hübsch» zur Verfügung. Es lässt sich auf Menschen ebenso wie auf Tiere, Pflanzen und Dinge anwenden, gern auf Kleidungsstücke oder Speisen. Was Menschen betrifft: Männer sind selten «kawaii», aber das gilt auch für «hübsch» und «süss». Was als «kawaii» gilt, ist in der Regel klein. Freilich haben sich im Lauf der Zeit Stile von «kawaii» herausgebildet. International verkaufen sich die entsprechenden Produkte gut. Japan ist zweifellos ein Vorreiter dieser Kultur, auch wenn einige Elemente ursprünglich aus den USA kommen mögen.

Umfassender Lebensstil

Die Kawaii-Kultur hat ihrerseits eine Vorgeschichte. Nach der Meiji-Wende in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildete sich langsam der Status der Shojo heraus, also des Mädchens, noch nicht im heiratsfähigen Alter, für das Bildungseinrichtungen zur Verfügung stehen und das ein gewisses Selbstbewusstsein entfalten darf. In dieser Zeit entstand das Genre des Mädchen-Romans, der als Vorläufer des Shojo-Mangas gilt.

Doch lange vor der Meiji-Zeit existierte ein Sinn für die Art von Schönheit, die man mit «kawaii» in Verbindung bringt. Überliefert ist dieser Sinn im Genji-Roman der Murasaki Shikibu und, mehr noch, im Kopfkissenbuch der Sei Shonagon, die beide am Hof von Kyoto, damals Heian, lebten. Zauberhaft etwa die Rankings von Baumblüten, welche die Hofdame aufstellt; durchaus geschmäcklerisch, auf einen umfassenden Lebensstil bedacht.

Dieser Schönheitsbegriff ist in Japan nie versiegt. Mit der fortschreitenden Vermassung des Gesellschaftslebens und dem Entstehen einer Kulturindustrie hat er einerseits eine Ausdifferenzierung, andererseits aber auch eine Trivialisierung erfahren. Kawaii, das ist heutzutage meist Kitsch. Aber eben eine bestimmte Art von Kitsch. Er ist so allgegenwärtig, dass es schwierig ist, einem Japaner die Bedeutung des Worts «Kitsch» zu erklären.

Also eh alles Kitsch? – Ja. Fast alles. Ausserhalb der Reservate altjapanischer Schönheit wie Kyoto, die längst von Touristen überlaufen sind.

Die Kawaii-Kultur hat aber nicht nur Tradition, sie ist auch Ausdruck einer mit der Modernisierung seit der amerikanischen Besetzung nach dem Zweiten Weltkrieg einhergehenden Infantilisierung – die wiederum mit einer besonderen Neigung zur Ernsthaftigkeit in Ausbildung und Beruf koexistiert.

Das typische Kawaii-Mädchen des späten 20., frühen 21. Jahrhunderts ist oder wirkt kindlich, spricht mit hoher Stimme, legt kindliche Mimik und Gesten an den Tag, ist oder wirkt unselbständig und schutzbedürftig. Dieser Typus ist bei einer Mehrzahl von Männern jeden Alters hoch beliebt.

Galionsfigur: Hello Kitty

Für die Pop-Industrie ist Kawaii von zentraler Bedeutung, die Girl-Bands und in der Folge auch die Boy-Bands sind aus diesem Humus entstanden. Musterbeispiel ist AKB 48, ein seit 2005 bestehendes, nach allen Regeln der Marketingkunst aufgezogenes Unternehmen, das auf (freiwillige) Kinderarbeit zurückgreift, denn im Inneren sind diese Gruppen sehr streng organisiert und hierarchisiert.

Dreimal 48 meist minderjährige Chormädchen in Miniröcken und mit ausgetüftelten Frisuren, die zu schuluniformartiger Kleidung gehören. 144, in Wahrheit aber viel mehr, zählt man die Anwärterinnen, die in Ausbildung begriffenen «Idols» sowie die Ableger im südostasiatischen Raum hinzu, und vor allem: denkt man an die Personalwechsel im Lauf der Jahre, denn die Frauen gehören zum alten Eisen, haben sie einmal die Linie des zwanzigsten Lebensjahrs überschritten. Dann können sie, wenn sie Glück haben, noch eine Zeitlang in einer der zahllosen Variety-Shows im Fernsehen auftreten, endlosen Spassprogrammen, einem weiteren Stützpfeiler japanischer Infantilität.

Es ist hier nicht genug Platz, um all die Phänomene der Kawaii-Kultur aufzuzählen: Boy-Groups, Pop-Dance, Maid-Cafés, Katzencafés, Manga-Figuren, Cosplay, Maskottchen aller Art und in sämtlichen, oft auch offiziellen Lebensbereichen sogenannte Characters, von jedem erzählerischen Kontext frei, blosse dekorative Versatzstücke. Galionsfigur: Hello Kitty. Ihrem Mutterhaus Sanrio hat sie bisher geschätzte 80 Billionen Dollar Gewinn eingebracht.

Hello Kitty ist in die Jahre gekommen. Klar, sie altert nicht, sondern bleibt ewig jung, ein Kindchen oder Kätzchen, wie auch immer man sie sehen möchte. Doch 2024 feierte man ihren Fünfzigsten, denn empfangen – konzipiert – wurde sie 1974 von der Japanerin Yuko Shimizu, im folgenden Jahr dann erstmals auf einer Geldbörse publiziert und verkauft. In Japan hat mittlerweile jede der 47 Präfekturen ihr eigenes Maskottchen. Dem süssen Kätzchen von Shimane – Shima-neko – haben sie ein Tempeldach auf den Kopf gesetzt. Bari-san aus Imabari ist ein gekröntes Küken, weil es dort leckeres Yakitori gibt, und so weiter.

Das Maskottchen(un)wesen hat seinen Ursprung im Walt-Disney-Imperium, und es ist kein Zufall, dass Japan eifriger als jede andere Nation dem Disney-Kult huldigt. Kaum ein Japaner war nicht zumindest einmal in Tokyo Disneyland oder Tokyo Disneysea. Nicht nur Kinder und Jugendliche wollen dorthin, und wenn jemand erzählt, eine Reise aus der Provinz in die Hauptstadt gemacht zu haben, stellt sich regelmässig heraus, dass er den Vergnügungspark meint.

Die universitäre Service-Gesellschaft Coop bietet den Studenten für ihre Bachelor-Abschlussreisen Jahr für Jahr günstige Reisen nach Disneyland an. Die bekannte Schriftstellerin Hiromi Kawakami schrieb einen Roman, in dem sich eine 38-Jährige in ihren inzwischen pensionierten Lehrer verliebt; die gemeinsame Love-Reise führt sie – keine Parodie – dorthin, wohin für den Japaner des 21. Jahrhunderts alle Wege führen: nicht auf den Fuji-san, sondern zu Mickey und Minnie.

Politisches Potenzial

Die japanische Politik hat dieses Potenzial längst erkannt. 2009 wurden offiziell drei Kawaii-Botschafterinnen ernannt, drei junge Schauspielerinnen, von denen sich die eine als Harajuku-Girl kleidete, die andere im Lolita-Stil, die dritte in Schulmädchenuniform. Das Aussenministerium präsentierte sie damals würdevoll der Öffentlichkeit. Ob sie noch im Amt sind oder inzwischen abgelöst wurden, ist nicht bekannt.

«Ich habe ein Faible für Süsses», erklärte damals eine von ihnen, Shizuka Fujioka. Sie passe aber gut auf, dass sie nicht zunehme. Nicht so schwierig bei den winzigen Portionen in den hübschen Cafés und Patisserien. Der Kult von hübschen Süssspeisen, eingenommen im passenden Ambiente, der bei vielen Konsumenten wohl kompliziertere Vergnügungen ersetzt, ist ein weiterer von zahllosen Aspekten der Kawaii-Kultur. Bei jungen Frauen betrifft er vor allem die westliche Patisserie, auch hier gibt es aber mit den Wagashi, den zum bitteren Tee gereichten kleinen ästhetischen Reiskügelchen, einen Vorläufer.

Inszenierungen für die Massenmedien haben es an sich, dass ihre Wirkung bald verpufft; signifikant können sie trotzdem sein. Begründet wurde die Aktion 2009 damit, dass sich Japan im Verlauf der vergangenen friedlichen Jahrzehnte verändert habe und nunmehr auf Soft-Power setze. Gefragt sei das, was auch «Japanese Cool» genannt wurde, aber «Kawaii» ist sicher das passendere Wort.

2016 spielte sogar Ministerpräsident Shinzo Abe Cosplay, und zwar bei der Schlussfeier der Olympischen Spiele in Rio. Er entpuppte sich dort als Super Mario, um die Spiele von Tokio anzukündigen, die dann 2021 stattfanden – mit einem vieldiskutierten Maskottchen im grossäugigen Manga-Stil. Super Mario, ein Nintendo-Produkt, werden Japaner nicht unbedingt als «kawaii» bezeichnen, aber die Inszenierung von Rio gehörte ebenfalls zur offiziell bestätigten Infantilkultur. Besser als die alte militaristische Ideologie, der Imperialismus aus dem Fernen Osten.

In Wahrheit, doch für Ausländer schwer erkennbar, besteht viel von den alten Strukturen neben dem sanften Image weiter, denn die Hierarchien, der Drill, die Unterordnung von Individualinteressen unter die der Gruppe und das hohe Leistungsethos herrschen ungebrochen in Schulen, Firmen und Ämtern – was dem Land gewaltige Beharrungskräfte auch in Zeiten von Krise und demografischer Schrumpfung verleiht.

Westliche Kritiker meinten über die Kawaii-Kultur, sie sei regressiv und antisozial; am Ende stehe gewissermassen der Hikikomori, der seine Zelle nicht mehr verlässt. Doch das Gegenteil ist der Fall, die Kawaii-Kultur eint die Gesellschaft, sie schafft Ersatz, wo – auch in Japan – Religionen und Ideologien verschwinden.

Kinderarme Gesellschaft

Da trifft es sich sogar, dass der alte synkretistische (Aber-)Glaube mit seinen kleinen Ritualen selbst etwas Kindliches besitzt und dieses Kindliche durch die Jahrhunderte bewahrt hat, allen Versuchen zur Eingemeindung der heimischen Religion in den Militarismus zum Trotz. Symbolfigur kann Jizo sein, der Gott, der die verstorbenen Kinder ins Jenseits geleitet, zugleich Gott der Pilger, der Wanderer. Die japanischen Fluren und städtischen Winkel werden von Abertausenden Jizo-Statuen bevölkert, fast immer bekleidet mit einem Lätzchen und einem Häubchen, beschenkt mit Süssigkeiten und Spielzeug: kawaiiii!

Ein wenig kritischer betrachtet könnte man sagen, dass die Entwicklung der letzten Jahrzehnte, seit dem Platzen der Spekulationsblase um 1990 und mit dem damals eingeleiteten, wenn auch sehr langsamen wirtschaftlichen Niedergang, durch die Infantilisierung allenfalls begleitet, wenn nicht unterstützt oder gar beschleunigt wird.

Je weniger Kinder die Bewohner des Landes zu zeugen und aufzuziehen fähig oder bereit sind, desto kindlicher wird ihr Verhalten. Statt kleiner menschlicher Wesen setzen sie Hündchen, am Ende gar nur Maskottchen in den Kinderwagen. Die sind, unterm Strich, billiger und machen weniger Probleme. Beharrungskräfte und gemächliche Talfahrt – schön und gut, aber irgendwann sollte eine Umkehr einsetzen. Ausländische Arbeitskräfte werden vermehrt, aber zögerlich ins Land gelassen.

Die immer wieder neu von oben lancierten Programme zur Erhöhung der Geburtenrate sind hilflos und bleiben ohne Wirkung. Geld allein, sei es auch für Kindergärten (denen die Kindergärtner fehlen), kann diese Misere nicht ändern. Die Universitäten wollen ihre ohnehin schon horrenden Studiengebühren kräftig erhöhen, und die jungen Paare, so sich noch welche finden, da es bequemer ist, sich einem Idol hinzugeben, werden noch weniger Grund sehen, Familien mit Kindern zu gründen. Obwohl die doch so «kawaii» wären.

Leopold Federmair, Schriftsteller und Übersetzer, in Oberösterreich geboren, lebt seit 2002 in Japan, seit 2006 in Hiroshima.

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