Montag, November 25

Unser Nachtfalter flattert durch venezianischen Novembernebel, um sanft auf einer der berühmtesten Theken der Welt zu landen. Oder neben ihr?

Der Novembernebel legt sich über die Lagune, die Kälte steigt aus den Kanälen, und der Falter wärmt sich an einer der berühmtesten Theken der Welt: In «Harry’s Bar» trotzt Venedig dem Overtourism mit Understatement. Der Eingang in einer versteckten Ecke hinter dem Markusplatz ist diskret beschriftet, weder Prunk noch Pomp prägen das Interieur mit altmodischen Lämpchen an der pastellgelben Wand.

Keine Musik berieselt die sich drängende Gästeschar, die Geräuschkulisse bildet ihr eigenes Stimmengewirr in diesem Bienenstock. Der pinkfarbene Hausdrink kommt in unscheinbaren Gefässen, die anderswo als profanes Wassergläschen durchgehen würden. Er heisst Bellini und hat längst die Welt erobert, seit der Gründer Giuseppe Cipriani ihn hier vor rund achtzig Jahren kreiert hat.

An diesem Samstagabend ergattern der Falter und seine Gefährtin einen wenig komfortablen und doch privilegierten Platz: Gleich nach der Eingangstür gibt es eine Nische, in die gerade ein Bänklein passt. Und wenn zwei Gäste darauf Platz genommen haben, montiert einer der überaus zahlreichen, aufmerksamen Kellner in weissem Jackett und schwarzer Fliege ein Brett als improvisiertes Tischchen. Wer da sitzt, wird von Ankommenden für einen Teil des Inventars oder der Belegschaft gehalten. Er sieht sich entsprechenden Fragen ausgesetzt («Ist Carmela heute Abend da?») – und der Zugluft des Herbstwinds, wenn sich die Eingangstür im Minutentakt öffnet.

Im Jahre 2020 ging das Gerücht durch den Blätterwald, der Besitzer Arrigo Cipriani wolle die ein Jahr vor seiner Geburt gegründete Bar nach der Pandemie gar nicht mehr wiedereröffnen. Es erschienen bereits Nachrufe auf diese Institution, die seit 2001 offiziell zum kulturellen Erbe Italiens zählt. Doch sie kehrte zurück, zum Glück.

Es gibt gemütlichere Trinkstätten in der Stadt, auch edlere, doch keine ist eine Zeitmaschine wie diese, täglich von elf Uhr früh bis elf Uhr spät in Betrieb: Der Gast ist hier Teil der Geschichte und doch ganz im Jetzt, das nirgends durchlässiger wirkt als in Venedig. In den Gassen scheint jeden Augenblick Giacomo Casanova, ein Doge oder zumindest Commissario Brunetti um die Ecke biegen zu können, derweil die Gegenwart schrumpft: Im historischen Zentrum gibt es heute mehr Gästebetten als Einwohner, deren Zahl im Schaufenster der Apotheke Morelli nahe der Rialtobrücke in roter Leuchtschrift abzulesen ist. 48 672 Menschen wohnen zurzeit im Stadtkern, zweitausend weniger als vor drei Jahren.

Dreimal so viele waren es noch, als Ernest Hemingway vor einem Dreivierteljahrhundert in Venedig überwinterte – und weitgehend in «Harry’s Bar» lebte. Das ist eine der vielen Legenden, die sich um das 1931 eröffnete Lokal ranken. Es ist noch ein Jahr älter als die Filmfestspiele, denen es einen Teil seines Ruhms und seiner eindrücklichen Gästeliste verdankt, von Chaplin bis Clooney. An diesem Abend sind keine Stars zu sichten unter den Habitués, Touristen und Gästen der Kunstbiennale, deren 60. Ausgabe sich dem Ende zuneigt – mehr Kunstwillen als Kunst nach dem Urteil des laienhaften Falters. Also hebt er das Glas auf die Barkultur.

Benannt ist «Harry’s Bar» nach keinem abtrünnigen Prinzen des britischen Königshauses, sondern nach einem abgebrannten Amerikaner namens Harry Pickering. Ihm soll der Barman Giuseppe Cipriani 10 000 Lire gegeben haben, um ihm die Rückkehr in die Heimat zu ermöglichen, und als der Beschenkte zwei Jahre später wiederkehrte, beglich er die Schuld mit grosszügigen Zinseszinsen. Mit dem Geld gründeten die beiden die Bar. Se non è vero, è ben trovato.

Cipriani begann damit den Aufbau eines Familienimperiums, erfand in dieser Bar später die Fleischspeise Carpaccio – und irgendwann in den 1940er Jahren den Cocktail, den noch immer die meisten bestellen: Der Bellini – drei Teile Prosecco, ein Teil hausgemachtes Pfirsichpüree – schmeckt hier angenehm herb, nicht übersüsst wie vielerorts. Hinter der Theke wird er mit routinierten Handgriffen im Akkord zubereitet und in die in Reih und Glied stehenden Gläschen gefüllt.

Der Preis pro Glas ist mit den Jahren bei 22 Euro angelangt, einige Oliven inbegriffen (man kann auch richtig speisen, zu gesalzenen Preisen). An der Kasse versucht ein blutjunger Gast, der seine noch jüngere Begleiterin mutmasslich beeindrucken will, beim Zahlen der Rechnung über 44 Euro keine Miene zu verziehen. Unter der Theke zerknüllt er die Quittung in seiner Faust. Es ist nicht billig, Teil dieser Geschichte zu sein.

Harry’s Bar
Calle Vallaresso 1323, 30124 Venedig (It)
Telefon 39 041 52 85 777

Der Nachtfalter ist stets unangemeldet und anonym unterwegs und begleicht am Ende stets die Rechnung. Sein Fokus liegt auf Bars in Zürich, mit gelegentlichen Abstechern in andere Städte im In- und Ausland.

Die Sammlung aller NZZ-Restaurantkritiken der letzten fünf Jahre finden Sie hier.

Exit mobile version