Dienstag, November 26

Er war einer der erfolgreichsten Schweizer Fussballer der Geschichte. Doch dann erlebte Inler einen radikalen Bruch in seiner Karriere. Nun startet er in Italien als Funktionär. Ein Porträt.

Vorgesehen war, dass Gökhan Inler das dritte Kapitel seines Fussballlebens in der Türkei verbringen würde, zumindest den Anfang. Mit 39 Jahren kehrte er 2023 zu Besiktas Istanbul zurück – und spielte keine Minute. Doch das war sekundär, denn das letzte Jahr als Profi sollte mehr eine Annäherung an das Dasein als Funktionär sein. Als indessen die Besiktas-Führung mitten in der Saison wechselte, zerstoben seine Absichten. Besiktas, nein. Zu unruhig, keine Leute des Vertrauens mehr da.

Dafür kehrte der Schweizer an jenen Ort zurück, der ihm im internationalen Fussball zum Durchbruch verholfen hat. Nach Udine, in die Stadt im Friaul, in der ungefähr 100 000 Personen wohnen. In den Klub Udinese Calcio, der seit Jahrzehnten zum Inventar der Serie A gehört und mehr Konstanz verspricht als Besiktas Istanbul. Inler kann überallhin zurückkehren, weil er nie im Unfrieden weggegangen ist. Stunk machen entspricht nicht seinem Charakter.

Im verzweigten Konstrukt von Udine ist Inler im Sommer Sportdirektor geworden. Oder besser: Teammanager. Er sitzt auf der Ersatzbank, redet mit Spielern, erhebt sich bei brenzligen Szenen, schreit in Richtung Spielfeld und eilt sogar der Seitenlinie entlang zur jubelnden Spielertraube, nachdem Udinese im eigenen Stadion gegen Cagliari das 2:0 erzielt hat.

Der Deutsche Kosta Runjaic coacht Udinese

In Udine ist so etwas wie Euphorie zu spüren. Der Klub, der in der letzten Saison fast abgestiegen wäre, mischt im oberen Viertel der Serie-A-Tabelle mit, mitten in den Ton angebenden Klubs aus Neapel, Turin und Mailand. Im vergangenen Jahr war der italienische Weltmeister Fabio Cannavaro Trainer hier, nun ist es der unbekanntere Deutsche Kosta Runjaic, der an Medienkonferenzen Deutsch parliert. Das ist eine Seltenheit im italienischen Fussball. Möglich im nordöstlichen Zipfel des Landes, in unmittelbarer Nähe zu Österreich und Slowenien, weniger vorstellbar im Süden. Runjaic ist in Österreich geboren.

Udinese ist ein Unternehmen der Familie Pozzo. Seit Jahrzehnten. Der 83-jährige Patron Giampaolo Pozzo ist mit der Herstellung von Werkzeugen reich geworden; ihm zu Ehren steht eine Art Thron in der Geschäftsstelle des Klubs. Keine Entscheidung im Klub wird ohne dessen Sohn Gino Pozzo getroffen. Gianluca Nani wird als technischer Direktor der Gruppe bezeichnet. Im kleinen Pozzo-Reich wird mit Geschick gehandelt, in Udine und im Watford FC in der englischen Championship. Das Scouting-Netz ist dicht und teuer. Dementsprechend hoch ist der Spielerverkehr zwischen Udine und Watford.

Mit den Pozzos bürgt Udine für eine gewisse Kontinuität. Als das Stadio Friuli vor ein paar Jahren modernisiert wurde, standen hauptsächlich sie dafür gerade.

Gökhan Inler spielte ab 2007 während vier Jahren für Udinese und liess den Kontakt zu Gino Pozzo danach nie abbrechen. Derzeit besucht der Schweizer Uefa-Kurse und lässt sich dazu in Florenz zum Sportdirektor ausbilden. Er macht dort weiter, wo er als Fussballer aufgehört hat. Er stand auf und neben dem Rasen für «Disziplin, Mentalität und Seriosität», so sagt er das selbst.

Er ist kein begnadeter Kommunikator

Daran ändert sich nichts. In Udine zeigt sich dieser Tage, dass Inler über die Jahre nicht zum PR-Agenten seiner selbst geworden ist. Er ist kein Schreihals. Keiner, der das Podium und die öffentliche Ansprache sucht und liebt. Seine Führungsqualität kam stets auf und nicht neben dem Rasen zum Ausdruck.

Die Karriere Inlers hatte lange etwas Fulminantes, erlebte aber 2015 auch einen Bruch, von dem er sich lange nicht erholte. Der in Olten geborene Sohn einer türkischstämmigen Familie kämpfte sich im FC Zürich in den Schweizer Fussball, wurde zweimal Meister und stieg die Treppenstufen hoch. 2007 der Transfer nach Udine, 2011 der Wechsel für 18 Millionen Euro nach Neapel. Das war damals Schweizer Rekord.

Unvergessen, wie der in der Filmbranche tätige Napoli-Präsident Aurelio De Laurentiis Inler vorstellte – auf einem Schiff und mit einer Löwenmaske. Blitzlichtgewitter, Show, helle Aufregung. Der ruhige Inler etwas verschämt und mit zwei erhobenen Daumen mittendrin.

Das Berufsleben wie ein Traum. Ein neapolitanischer Film.

INLER è DEL NAPOLI!  LE IMMAGINI DELLA PRESENTAZIONE

Als er 2015 mit 31 Jahren zu Leicester City wechselte, den Lohn verdoppelte und netto 80 000 Euro in der Woche verdiente, kippte die Karriere, obschon der englische Klub in jener Saison das bis heute letzte Märchen der Premier League schrieb. Leicester wurde mit dem Trainer Claudio Ranieri Meister, doch Inler war zweite Wahl und spielte nur 195 Minuten. Also praktisch nie. Obschon ihn Ranieri unbedingt haben wollte.

Inler hängte acht Jahre in der Türkei an

Heute sagt Inler: «Die Erfahrung in Leicester stärkte meinen Willen, meine Widerstandskraft.» Aber der Preis war hoch, oder? «Ja, leider. Doch ich habe nicht aufgegeben und noch acht Jahre angehängt.» Acht Jahre in der Türkei, seiner zweiten Heimat. Besiktas Istanbul, Basaksehir, Adana Demirspor, das letzte Jahr als angehender Funktionär bei Besiktas.

Das für den Klub erfolgreiche, aber für Inler verhängnisvolle Jahr in Leicester kappte zudem die Verbindung zwischen dem Spieler und dem Schweizer Nationalteam. Inler hat 89 Länderspiele absolviert und war lange der Captain der Mannschaft. EM 2008, WM 2010, 2014. Doch als er in Leicester nicht mehr zum Einsatz kam, bot ihn der damalige Nationaltrainer Vladimir Petkovic nicht mehr auf. Inler erfuhr, was viele verdiente Nationalspieler erfahren, immer wieder: Der Abgang ist oft unrühmlich. Inler war in seinem Stolz verletzt. Das lässt ihn bis heute nicht los.

Das Schema wiederholte sich: Dem über 30-jährigen Schweizer wurden plötzlich andere Spieler vorgezogen, in Leicester, in der Schweizer Auswahl und 2016/17 bei Besiktas. Den Weg des Teams zum türkischen Meistertitel verfolgte er damals mehrheitlich als Zuschauer.

Über das stille und schmerzhafte Ende im Schweizer Nationalteam will Gökhan Inler auch neun Jahre nach seinem letzten Match nicht reden. Doch die Enttäuschung ist zu spüren, wenn er dazu sagt: «Ich habe nicht zehn, sondern fast neunzig Länderspiele.» Petkovic kann auch aus der zeitlichen Distanz kein Vorwurf gemacht werden, denn die Einsatzzeiten sprachen damals nicht (mehr) für Inler. Dass zugleich aber die Kommunikation des Trainers mangelhaft gewesen sein soll, kann man sich gut vorstellen. «Ich kann und darf nicht weinen», sagte Inler, als er 2017 im Bauch des Stadions von Basaksehir darauf angesprochen wurde.

Granit Xhaka wurde zum Inler-Konkurrenten

Wenn man sich aus heutiger Sicht vergegenwärtigt, wer auf Inler folgte, liegt der Schluss nahe, dass 2015 einiges zusammenkam. Der Nachfolger Inlers, später auch als Captain, war im Mittelfeld Granit Xhaka. Ein solcher Konkurrent taucht nicht alle Tage auf. Xhaka entsprach Petkovic mehr. Inler weniger.

Inler stand eher für das defensiver ausgerichtete System des Petkovic-Vorgängers Ottmar Hitzfeld, Inler war mehr Serie A als Premier League. Ein Fussballer, der seinen Körper einzusetzen wusste und den Ball mit dem energischen Einsatz seines Hinterteils abzudecken verstand. Einer, der mit beiden Füssen (Weitschuss-)Tore erzielte. Er war Zweikämpfer, nicht Läufer – die Kraft in den Beinen, nicht auf der Zunge.

Unvergessen ist der Kontrast, als es 2011 zum Captain-Wechsel im Schweizer Nationalteam gekommen war. Damals trat Alex Frei ab, der vor Länderspielen Medienkonferenzen und Interviews als Bühne und Meinungsverstärker genutzt hatte. Dem Nachfolger Inler schien es bei diesen Aufgaben unwohl zu sein.

Inler sah in über 600 Spielen dreimal rot, Xhaka vierzehnmal

Inler hätte sich auch im Affekt nie zu einer politischen Geste verleiten lassen, hätte nie eine Stimmungslage politisch aufgeheizt, nie Kontroversen losgetreten wie Xhaka. Inler spielte jahrelang für Basaksehir, für einen der Erdogan-Klubs. Aber er äussert sich nicht über den türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan.

Inler wurde in über 600 Spielen dreimal des Feldes verwiesen, Xhaka in ungefähr ebenso vielen Einsätzen vierzehnmal. Inler bleibt nur schwer fassbar. Er hat etwas Freundliches, Integratives. Und gleichzeitig etwas Geheimnisvolles, Rätselhaftes. So war er bisweilen auch in der Spielerkabine.

Aber er hätte nie eine Intrige initiiert. Über seine Ausbootung im Nationalteam schweigt er bis heute. Andere trompeten in vergleichbaren Fällen umgehend in den Medien.

Das erste Kapitel des Inler-Epos war der Aufstieg als Secondo über Zürich und Udine bis nach Neapel. Das zweite beschreibt den Bruch in Leicester und mit dem Nationalteam, die Trennung von seinem langjährigen Berater – und acht Jahre in der Türkei. Und das dritte?

Er hat nach Udine zurückgefunden und will sich neben dem Rasen beweisen. Inler ist zwar kein Lautsprecher, aber mehrsprachig. Irgendwie passt er in den multinationalen Klub der Familie Pozzo – neben dem deutschen Trainer und dessen polnischen Assistenten, neben dem spanischen Athletiktrainer. Die Umgangssprache im Klub ist Englisch. In einer Mannschaft, die mit dem 24-jährigen Stürmer Lorenzo Lucca nur einen Italiener in ihren Reihen hat. Udinese kauft und verkauft seit Jahren Personal, schiebt Spieler auch auf Leihbasis herum.

Udinese schreibt mit Transfers Millionengewinne

2011 war auch der Schweizer Teil des Karussells. In dem Jahr, als er nach Neapel und Alexis Sánchez nach Barcelona weiterzog, nahm Udinese netto 50 Transfer-Millionen ein. Udinese ist und bleibt eine Drehscheibe, die vor allem einer in Schwung hält, der kein Geld mehr einschiessen will: Gino Pozzo. Das Modell geht auf Kosten der Identifikation und des eigenen Nachwuchses, dessen Weg nach oben eher versperrt als offen ist. Aber damit ist Udinese nicht allein in der Fussballwelt.

Die aktuellen Resultate legen nahe, dass Gökhan Inler im richtigen Moment nach Udine zurückgekommen ist. In seiner Karriere war das Timing oft gut. Bis er sich neu ausrichten musste, mitten im Märchen von Leicester.

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