Donnerstag, Januar 2

Die Misere im österreichischen Bildungswesen ist in den letzten Monaten zu einem Politikum geworden. Eine Wiener Lehrerin erzählt von ihrer Frustration und sagt, warum sie dennoch weitermacht.

Ihre Namen sind Alper, Elif, Fatima, Hafsa, Natalia und Selin. Gemeinsam mit 19 weiteren Kindern besuchen sie die grösste Primarschule Wiens im Stadtteil Favoriten. «Habt ihr auch römisch-katholische Kinder in der Klasse?», fragt der Priester, als diese bei einem Schulausflug den Stephansdom besichtigt, die berühmteste Kirche Österreichs. Selbst etwas erstaunt, stellt die Lehrerin Ilkay Idiskut fest, dass das nicht der Fall ist. «Wir haben hier serbisch-orthodox und rumänisch-orthodox», sagt sie fast entschuldigend und zeigt auf zwei der Kinder. «Römisch-katholisch hab ich nicht.»

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Es ist eine Schlüsselszene im Film «Favoriten», der seit einigen Wochen in den österreichischen Kinos läuft. Drei Jahre lange begleitete die Regisseurin Ruth Beckermann dafür Idiskut und ihre Schulklasse in dem Arbeiterbezirk, einem traditionellen Schmelztiegel der Kulturen, der in den vergangenen Monaten mit Messerstechereien und Bandengewalt Schlagzeilen gemacht hat. Sie wirft damit ein Schlaglicht auf einen Mikrokosmos von Kindern aus oft schwierigen Verhältnissen, auf deren Frustration ebenso wie auf kleine Erfolgserlebnisse. Der Film zeigt aber auch die Realität eines Schulsystems, das von Migration, Ghettoisierung und Personalmangel überfordert ist – nicht nur in Wien, sondern in allen grösseren Städten Österreichs.

Kinder können nicht mit Stiften oder Besteck umgehen

«Favoriten» wurde zwischen 2020 und 2023 gedreht, ist nun aber just zu einer Zeit zu sehen, da die Misere im Bildungswesen zu einem nationalen Politikum geworden ist. In den vergangenen zwei Jahren hat sich die schon prekäre Lage nochmals zugespitzt: Nachdem rund 4000 Kinder aus der Ukraine allein im Wiener Schulsystem aufgenommen worden waren, kamen in den letzten Monaten Tausende weitere über den Familiennachzug von anerkannten Flüchtlingen dazu – hauptsächlich aus Syrien.

An den Wiener Primarschulen sprechen rund zwei Drittel der Kinder im Alltag kein Deutsch. Laut Angaben des Bildungsministeriums wurden im vergangenen Schuljahr 37 Prozent der Erstklässler als ausserordentliche Schüler geführt, das heisst, ihre Sprachkenntnisse sind so schlecht, dass sie dem Unterricht gar nicht folgen können. In diesem Herbst sind es sogar 45 Prozent. «Dramatisch», nennt das selbst der Bildungsstadtrat. In den anderen Bundesländern sind die Werte besser, aber auch in Oberösterreich, der Steiermark und Vorarlberg versteht rund ein Fünftel der Erstklässler die Lehrkraft nicht.

Die fehlenden Deutschkenntnisse sind aber nicht das einzige Problem. Viele der neu ankommenden Kinder lebten in den vergangenen Jahren in Flüchtlingslagern, sind teilweise selbst in ihrer Muttersprache nicht alphabetisiert, hatten kein geordnetes Leben und leiden an Traumata. Sie können nicht mit Stiften, Scheren oder Besteck umgehen und haben zu Hause keinen Platz zum Lernen, wie kürzlich die Direktorin einer Wiener Primarschule der «Presse» erklärte. Manche Eltern hätten selbst keine Schule besucht und wüssten deshalb nicht, «wie Schule funktioniert».

In solchen Situationen brauchen die Lehrer Unterstützung, die jedoch wegen Personalmangels oft fehlt. Auch das zeigt der Film «Favoriten»: Zu Beginn des neuen Schuljahres informiert der Direktor das Lehrpersonal darüber, dass die für die ersten Wochen jeweils vorgesehene Sprachförderung dieses Jahr nicht stattfinde. Zudem habe die Schulsozialarbeiterin an eine andere Schule gewechselt, wo sie mehr Stunden bekommen habe. Die Schulpsychologin sei schwanger. «Die werden wir auch nicht mehr lange haben. Mal sehen, ob es Ersatz gibt.»

Ganz heftig sei, wie es momentan zugehe in den Wiener Schulen, entfährt es Idiskut einmal, als sie eine neue Schülerin bekommt, die kein Wort Deutsch spricht, und die für den Sprachkurs vorgesehene Kollegin wegen Krankheit ausfällt. Wegen des Films ist sie derzeit wohl die bekannteste Lehrerin des Landes. Warmherzig, geduldig und doch mit der gebotenen Bestimmtheit baut sie zu den Kindern ein Vertrauensverhältnis auf, schlichtet Konflikte, spricht Mut zu, hinterfragt Wertvorstellungen.

In einer Szene geht es ums Schwimmen. Mohammed meint, Mädchen sollten keinen Bikini tragen und den Bauch nicht zeigen. «Er darf für andere entscheiden, was sie tragen?», fragt Idiskut die Siebenjährigen ungläubig. «Wie geht denn das?» Melisa erzählt, dass in ihrer Familie nur die Männer schwimmen dürften. «Wäre das schön für dich, wenn nur dein Bruder schwimmen gehen dürfte und du nicht?», erwidert die Lehrerin. Das Mädchen schüttelt energisch den Kopf.

«Es brennt hier nichts»

An Wiener Primarschulen sind Muslime mittlerweile die grösste religiöse Gruppe. Schon seit Jahren machen die Auswirkungen Schlagzeilen – etwa das Phänomen der jugendlichen «Sittenwächter», die auf eine strenge Einhaltung islamischer Regeln pochen. Bei den jüngeren Kindern sei das weniger ein Problem, erzählt Idiskut im Gespräch. Aber auch sie hat Schüler in der Klasse, die keine Weihnachtslieder hören wollen und sich die Ohren zuhalten. «Dann beginne ich eine Diskussion, um zum Nachdenken anzuregen.»

Seit der Geburt ihres ersten Kindes unterrichtet die Lehrerin in Ottakring, auch das ein migrantisch geprägter Stadtteil. An einer Glastür hängt der Speiseplan, auf dem Gerichte ohne Schweinefleisch ausgewiesen sind, an einer anderen ein Foto von Weihnachtsbasteleien. In jedem Klassenzimmer gebe es einen Adventskranz und in vielen auch Christbäume, sagt Idiskut.

Die Schule ist ebenfalls eine sogenannte Brennpunktschule. Idiskut mag den Begriff nicht. «Es brennt hier nichts, das sind ganz normale Kinder», sagt sie. Nur hätten eben nicht alle die gleichen Voraussetzungen im Leben. Auch in Ottakring fehlten ein Sozialarbeiter und ein Schulpsychologe, obwohl es Integrationsklassen für Kinder mit sonderpädagogischem Bedarf gebe.

Idiskut ist deshalb wie viele Berufskollegen neben Lehrerin auch Sozialarbeiterin, Elternersatz, manchmal sogar Hilfspolizistin. «Kinder sind ehrlich. Wenn man eine Beziehung zu ihnen aufbauen kann, erzählen sie alles – etwa auch über Gewalt zu Hause», sagt sie. «Dann reagiere ich sofort.» In Favoriten habe es in fast jeder Klasse solche Fälle gegeben. Mehrmals habe sie eine Gefährdungsmeldung gemacht.

Die grösste Herausforderung im Unterricht seien aber die Sprachdefizite und die unterschiedlichen Niveaus der Kinder, die man ansprechen müsse, um ihre Lernbereitschaft nicht zu verlieren. Idiskut ist selbst Tochter türkischer Migranten, wuchs aber in Wien auf. Damit unterscheidet sie sich nicht von vielen ihrer Schüler: Zwei Drittel der Erstklässler mit unzureichenden Deutschkenntnissen sind schon in Österreich geboren – die Umstände sind also nicht nur eine Folge der jüngsten Fluchtbewegungen.

Es braucht mehr Ressourcen und eine bessere Durchmischung

Es fehle die Durchmischung, erklärt Idiskut. Sie sei das einzige türkischsprachige Mädchen ihrer Klasse gewesen, unter solchen Umständen lernten Kinder die Sprache sofort. Die Missstände haben die Segregation aber noch befördert. Die Schule in Ottakring liegt unweit des Gürtels, der die Aussenbezirke von der Wiener Innenstadt trennt. Bildungsaffine Eltern würden ihre Kinder dort in «bessere» Schulen schicken. «Ich verstehe sie», sagt Idiskut.

Die 35-Jährige attestiert der Politik, dass das Problem erkannt worden sei. Ihre ehemalige Schule in Favoriten wurde inzwischen mit mehr Personal ausgestattet. Aber es brauche noch viel mehr Ressourcen für Schulen mit besonderen Schwierigkeiten, fordert Idiskut – oder eine bessere Verteilung auf unterschiedliche Standorte, eine Art «busing» wie einst in den USA. Und schliesslich plädiert sie für mehr frühkindliche Betreuung, damit man Kinder nicht erst beim Schuleintritt mit sechs Jahren erreiche. Das verpflichtende Kindergartenjahr davor sei offenkundig zu wenig. Andernfalls drohe eine verlorene Generation.

Idiskut räumt ein, dass ihre Arbeit manchmal sehr frustrierend sei. Aufgeben wie so viele Berufskollegen derzeit will sie dennoch nicht. «Die Kinder brauchen mich ja. Ich kann sie nicht im Stich lassen.»

FAVORITEN - Trailer

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