Donnerstag, Dezember 26

Um die sexuelle Gewalt an Israelinnen am 7. Oktober hat ein Differenzierungsbemühen eingesetzt, das einer Obsession gleicht. Damit wird eine Strategie verfolgt.

Mehr als fünf Monate sind seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel vergangen, und inzwischen fällt ein sonderbares Bemühen auf, die Vergewaltigungen von Frauen herunterzuspielen oder sogar zu leugnen.

Der israelischen Regierung wird unterstellt, sie instrumentalisiere das Thema, um von der zunehmenden Kritik an Israels Vorgehen in Gaza abzulenken oder dieses zu rechtfertigen.

Und wenn es so sein sollte: Es macht die Taten der Hamas nicht weniger bestialisch.

Linksextremisten werfen Untersuchungskommissionen vor, diese würden bewusst übertreiben. Man stelle die Hamas-Mitglieder als «triebgesteuerte Wilde» dar, «deren Grausamkeit weder politischen Zweck noch Erklärungsbedarf hat». Das schreibt das deutsche Nachrichtenportal «Klasse gegen Klasse».

Auch die Philosophin Judith Butler zweifelt die Sexualverbrechen am 7. Oktober an. Wenn man sieht, wie sie von ihren Anhängern beklatscht wird, wird klar, dass dieses Denken weit verbreitet ist.

In der Diskussionssendung Anfang März, in der sie die Hamas-Attacke als «bewaffneten Widerstand» bezeichnete, sagte sie, sie wolle für die sexuelle Gewalt Beweise sehen. Sie verlange, dass diese geprüft würden. Erst dann verurteile sie sie.

Die Beweise, dass am 7. Oktober Frauen, Mädchen und Männer vergewaltigt und verstümmelt wurden, lagen zu diesem Zeitpunkt seit Monaten vor. Es gibt Augenzeugenberichte. Es gibt die dokumentierten Schilderungen von Sanitätern. Dazu kommt die Spurensicherung der Forensiker. Freigelassene Geiseln berichten, die Hamas habe junge Frauen «wie Puppen» behandelt.

Doch all das hat kein Gewicht. «Können Männer Killer sein, die den freigelassenen Geiseln Wasserflaschen mit auf den Heimweg geben?», so tönt es stattdessen in den sozialen Netzwerken. Bewies die Hamas nicht Herz, indem sie den Hund einer der Geiseln am Leben liess?

Sex mit Ungläubigen sei «haram»

Es wird weiter argumentiert, dass strenggläubige Muslime keine fremde Frau anfassten. Die Hamas sagte es doch selber. Nach dem Terrorangriff wurde ein Hamas-Funktionär in der «Washington Post» mit den Worten zitiert, Sex ausserhalb der Ehe sei «komplett haram», also nach islamischem Gesetz verboten. «Wer so etwas tut, begeht ein schweres Vergehen und würde sowohl rechtlich als auch am Tag des Jüngsten Gerichts bestraft werden.»

Die Aussagen der am 30. November freigelassenen Geisel Mia Schem werden angezweifelt, seit sie Anfang Januar öffentlich über die Zeit ihrer Gefangenschaft im Gazastreifen sprach und über ihre Angst, vergewaltigt zu werden. Sie sei verschont geblieben, so mutmasste sie über die Zeit in der «Hölle», weil sich Frau und Kinder ihres Bewachers nebenan befunden hätten.

Journalisten und Experten sehen in Mia Schem ein Propagandawerkzeug der israelischen Regierung. Warum hätte sie nach ihrer Freilassung sonst einen ganzen Monat geschwiegen? So wurde unter anderem im öffentlichrechtlichen Fernsehen RTBF in Belgien gefragt. In den sozialen Netzwerken wurde Schem verhöhnt. Es liege wohl an ihrem Aussehen, dass die Hamas sie nicht angefasst habe.

Andere wiederum attackieren Recherchen, in denen nachgewiesen wird, dass die Hamas Vergewaltigungen bei ihrem Überfall auf Israel als Kriegswaffe benutzte. So bezichtigt das Medienportal «The Intercept» die «New York Times» der Lüge, weil diese in einem Artikel von systematischer sexueller Gewalt sprach.

Die «New York Times» kam zum Schluss, dass es sich bei den Vergewaltigungen um keine isolierten Ereignisse handle, sondern diese ein Muster geschlechtsspezifischer Gewalt bestätigten. «The Intercept» verlangt für diese «Behauptung» «solide Beweise» und schreibt: «Die Frage war nie, ob es am 7. Oktober zu einzelnen sexuellen Übergriffen gekommen sein könnte. Vergewaltigungen sind im Krieg nicht ungewöhnlich.» Und jetzt?

Der Wortlaut im Uno-Bericht

Wenn nun darüber gestritten wird, ob die Gewalt «zufällig» oder «systematisch» war, ist das zynisch. So wird Leid relativiert. Entsprechend fragwürdig ist das Vorgehen der Uno.

Die Uno ist jene Organisation, die zwei Monate brauchte, um die sexualisierte Gewalt durch die Hamas zu verurteilen. UN Women, ihrer Frauenrechtskommission, lag von Beginn des Kriegs an mehr am Leid der Palästinenserinnen in Gaza als daran, das Massaker der Hamas an israelischen Frauen und Mädchen auch nur zu erwähnen.

Das eine soll nicht gegen das andere abgewogen werden. Aber es bleibt augenfällig, wie offenbar nicht jedes Opfer gleich viel Mitgefühl verdient.

Inzwischen hat die Uno die Vorwürfe über die sexualisierte Gewalt untersucht und Anfang März ihren Bericht veröffentlicht. Pramila Patten, die Uno-Sonderbeauftragte für sexuelle Gewalt in Konflikten, bestätigte, dass es während des Hamas-Massakers an verschiedenen Orten zu Vergewaltigungen und Gruppenvergewaltigungen kam. Auch an toten Frauen vergingen sich die Terroristen. Die Opfer wurden verbrannt, sie waren nackt, gefesselt, ihre Körper verstümmelt.

Befremdlich sind die Formulierungen im Bericht. Es gebe «hinreichende Gründe für die Annahme», dass es zu den Gewaltverbrechen gekommen sei, heisst es. Es gebe «hinreichende Gründe für die Annahme», dass die von der Hamas entführten israelischen Geiseln sexuelle Gewalt erlebt hätten und weiterhin erlebten.

Zwar wiesen Opfer verstümmelte Genitalien auf, wie der Bericht festhält. Um gleich zu differenzieren: «Erkennbare Muster von Genitalverstümmelungen konnten nicht verifiziert werden.» Dazu seien weitere Untersuchungen nötig.

Denn ohne erkennbare Muster lässt sich der Vorwurf nicht bestätigen, dass die Gewalt «systematisch» war, so die Folgerung. Systematisch wäre die Gewalt, wenn sie geplant wäre, um die Opfer zu erniedrigen.

Die Suche nach einem «System»

Die Wahrheit ist wichtig. Fakten zu checken, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Es kommt darauf an, wie sich etwas genau zugetragen hat. Sexualisierte Gewalt in Konflikten ist ein Kriegsverbrechen, bei dem das Völkerrecht angewendet wird.

Nur wenn bewiesen werden kann, dass die Vergewaltigung Teil einer militärischen Strategie war oder dass solche Verbrechen in grossem Umfang begangen wurden, können die Täter vor dem Internationalen Strafgerichtshof angeklagt werden.

Doch inzwischen gleicht das Bemühen, die Greueltaten der Hamas als systematisch labeln zu können, einer Besessenheit mit Strategie. Solange man den Terroristen kein System vorwerfen kann, scheint dies ihre Grausamkeit zu mildern.

Die Ärztin Hadas Ziv warnt vor dieser Logik. Sie hat für Physicians for Human Rights Israel einen Bericht mitverfasst, der die sexualisierte Gewalt am 7. Oktober bereits im November nachwies. Der israelischen Zeitung «Haaretz» sagte Ziv, der Fokus auf die systematische Gewalt impliziere, «dass alles andere als das Schlimmste gar nicht so schlimm ist».

Dabei haben andere Untersuchungen die vorsätzliche Sexualgewalt durch die Hamas festgestellt. Die Vereinigung der Krisenzentren für Vergewaltigte in Israel legte einen gut dokumentierten Bericht vor, der von strategisch eingesetzten Vergewaltigungen spricht. Den Bericht liess man im Februar auch der Uno zukommen.

Es geht vergessen, wie schwierig es überhaupt ist, hinter sexualisierter Gewalt ein «System» zu erkennen. Die Schweizer Gynäkologin Monika Hauser arbeitet seit dreissig Jahren mit Frauen, die im Krieg Misshandlungen erlebt haben. Der NZZ sagte sie einmal, es sei in einem Konflikt kaum nachweisbar, dass sexualisierte Gewalt angeordnet worden sei.

Ob eine Armeeführung ihren Soldaten den Befehl zu Vergewaltigungen erteilt habe, finde man selten heraus, sagen Experten. Deshalb wurden in Den Haag bisher nur wenige Täter überführt und bestraft.

Überlebende verlieren Vertrauen

Die Folgen des Anzweifelns, Leugnens und Missachtens der sexuellen Gewalt am 7. Oktober sind verheerend. Sie haben dazu geführt, dass die Überlebenden und die Familien der Geiseln das Vertrauen in Organisationen wie die Uno und nationale und internationale Medien verloren haben.

Der Uno-Untersuchungsbericht stellt das selber fest, so steht es im Bericht, und es muss den Verfassern zu denken geben: Die Überlebenden misstrauen der Arbeit der Uno-Experten so sehr, dass sie ihnen keine Auskunft gaben.

Das verstärkt die Schweigespirale, die nach Erfahrungen von sexueller Gewalt meist einsetzt. Psychologinnen und Traumaforscher haben es in den vergangenen Wochen in unzähligen Interviews gesagt, zum Teil arbeiten sie mit den Überlebenden vom 7. Oktober: Vergewaltigungsopfer brauchen oft Jahre, um über das Erlebte zu sprechen. Die Scham lässt sie schweigen. Sie verdrängen, um zu überleben.

Viele der Vergewaltigungsopfer in Israel können zudem nicht mehr reden. Sie sind tot. Manchmal erschossen, während sie vergewaltigt wurden.

Kollektives Verdrängen eigener Schuld

Lauter als das Schweigen der Überlebenden bleibt aber das Schweigen der Weltöffentlichkeit. Sucht man nach Gründen dafür, findet man Parallelen zu anderen Konflikten, dem Zweiten Weltkrieg, dem Genozid in Rwanda, dem Bosnienkrieg in den frühen 1990er Jahren. Es dauerte auch da jeweils lange, bis über die sexuelle Gewalt gesprochen wurde und Regierungen, Organisationen und Medien das Leid der vergewaltigten Frauen anerkannten.

Bezogen auf Deutschland hat der Psychologe Louis Lewitan in der «Zeit» von unverarbeiteten Traumata gesprochen, die dem Wegschauen möglicherweise zugrunde liegen. Eine «Gefühlserbschaft», die von Generation zu Generation weitergegeben wird. Das Massaker der Hamas erinnert demnach an die eigene unheilvolle Vergangenheit, an Schuld und Scham, an den nicht zugelassenen Schmerz und eine unterdrückte Trauer. Was so unerträglich war, wird bis heute kollektiv verdrängt.

Doch die Zurückhaltung im Verurteilen der Sexualgewalt der Hamas ist keine deutsche Eigenart. Deshalb genügt die psychologische Erklärung nur teilweise.

Vor allem, wenn man bedenkt, wie viel aufgeklärter westliche Gesellschaften heute sind, was sexuelle Gewalt und Sexismus betrifft. Das ist #MeToo zu verdanken. Die feministische Bewegung hat zu einer neuen Sensibilisierung geführt, übergriffiges Verhalten wird nicht mehr heruntergespielt. Man nimmt die Betroffenen ernst, hört ihnen zu, zweifelt ihre Erzählungen nicht an.

Wenn sich nun aber die Opfer mit ihren Erlebnisberichten nicht mehr öffentlich aussetzen mögen, weil man ihnen nicht glauben könnte, so ist das ein Rückfall in die Zeit vor #MeToo. Wie lässt sich das erklären?

Vielleicht ist der Krieg zu gross für #MeToo, und die Empathie im Westen stellt sich leichter ein, wenn es um alltäglichen Sexismus geht. Vielleicht ist der Grund für das Verschweigen und Verleugnen ein halbes Jahr nach dem 7. Oktober aber auch ein rassistischer und politischer: Israelinnen wird weniger geglaubt. Kein Mitgefühl für Jüdinnen.

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