Mittwoch, April 30

Das Stimmvolk allein soll über die neuen Verträge mit der EU entscheiden, ohne das Ständemehr: So schlägt es der Bundesrat vor. Der Entscheid kommt erstaunlich früh.

14:00 - BR Cassis

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Nun also doch: Der Bundesrat hat am Mittwoch bereits beschlossen, nach welchen Spielregeln dereinst über die neuen Abkommen mit der EU entschieden werden soll. Dass es am Ende eine Abstimmung geben wird, ist klar. Die grosse Frage ist jedoch, ob das Volk alleine das letzte Wort haben soll, oder ob zusätzlich die Mehrheit der Kantone ihren Segen geben muss (Ständemehr). Der Bundesrat hat sich nun für ein fakultatives Referendum ausgesprochen, bei dem das einfache Volksmehr genügt.

Diese Frage kann entscheidend sein für das Schicksal des gesamten Vertragspakets – und somit für die künftigen Beziehungen mit der EU ganz generell. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Einigung scheitert, wäre deutlich höher, wenn neben dem Volks- auch das Ständemehr erreicht werden müsste. Ob es dabei bleibt, kann der Bundesrat jedoch nicht abschliessend entscheiden. Das letzte Wort hat das Parlament, es wird sich frühestens nächstes Jahr festlegen. Schon jetzt aber ist die Aufregung gross in Bern.

Ignazio Cassis weiss selbst am besten, wie schnell einem das EU-Dossier um die Ohren fliegen kann. Nachdem der erste Anlauf vor vier Jahren gescheitert ist, bemüht sich der Aussenminister dieses Mal nach Kräften, Ruhe in die Gespräche zu bringen. Tatsächlich ist in den letzten Monaten alles erstaunlich reibungslos gelaufen.

Nun aber ziehen Turbulenzen auf, die sich wohl hätten vermeiden lassen. Zuerst hat das Aussendepartement plötzlich beschlossen, einzelnen Exponenten von Parteien und Verbänden Einblick in die Abkommenstexte zu gewähren, die offiziell noch immer unter Verschluss sind. Man bemüht sich zwar, alle Seiten gleich zu behandeln. Aber der Schaden ist angerichtet. Aussenpolitiker und Verbände, die keinen Zugang haben, protestieren lautstark über das unorthodoxe Vorgehen.

FDP und Mitte haben es in der Hand

Für zusätzliche Unruhe sorgt der Entscheid vom Mittwoch. Dass der Bundesrat in der maximal brisanten Frage des Ständemehrs so früh einen Vorentscheid fällt, kommt unerwartet. Das Thema ist nicht nur politisch, sondern auch juristisch umstritten. Deshalb hätte man annehmen können, dass sich die Regierung erst festlegt, wenn sie den Entscheid auch transparent herleiten und begründen kann. Das aber ist erst möglich, sobald die Texte der neuen Abkommen veröffentlicht werden, was voraussichtlich im Juni erfolgen soll, wenn die Vernehmlassung eröffnet wird.

Nun aber hat sich der Bundesrat schon vorab festlegt. Er will das Paket in vier Teile aufgliedern: in ein Basispaket zu den bestehenden bilateralen Abkommen sowie in drei Vorlagen zu den ausgehandelten neuen Verträgen (Strom, Lebensmittelsicherheit, Gesundheit). Alle vier Vorlagen sollen dem fakultativen Referendum unterstellen. Somit würde jeweils das einfache Mehr des Volks genügen, das Ständemehr wäre vom Tisch.

Das letzte Wort in dieser Sache hat das Parlament. Im Bundesrat war der Entscheid über das Referendum stark umstritten, wie mehrere Quellen berichten. Die Stellungnahmen in der Sitzungsvorbereitung sollen darauf hindeuten, dass es ein 4:3-Entscheid war, was relativ selten vorkommt.

Für eine Abstimmung ohne Ständemehr votierten laut den Quellen der Aussenminister Cassis, die SP-Bundesräte Beat Jans und Elisabeth Baume-Schneider sowie der neue Mitte-Vertreter Martin Pfister. Auf der anderen Seite haben sich die SVP-Bundesräte Albert Rösti und Guy Parmelin aus sowie FDP-Bundesrätin Karin Keller-Sutter für ein doppeltes Mehr ausgesprochen.

Dass die Freisinnigen die Frage unterschiedlich beurteilen, ist kein Zufall. Die FDP dürfte auch im Parlament gespalten sein. Dasselbe gilt für die Mitte-Partei, bei der primär die Ständeräte zu einer Abstimmung mit doppeltem Mehr tendieren. Weil die Linke inklusive GLP gegen eine Abstimmung mit Ständemehr ist und die SVP ebenso klar dafür, dürften die FDP und die Mitte den Ausschlag geben.

Bilaterale II wären am Ständemehr gescheitert

Dass im Parlament letztlich taktische Motive schwerer wiegen dürften als juristische Erwägungen, liegt in der Natur der Sache. Die Korrelation ist deutlich: Wer die neuen Verträge mit der EU unterstützt, bevorzugt eine Abstimmung mit einfachem Volksmehr – und umgekehrt. Mit gutem Grund: Viele Abstimmungen haben gezeigt, dass das Ständemehr gerade bei Fragen der europäischen Integration eine hohe Hürde darstellen kann. Es verschafft den kleineren Landkantonen, die auch aussenpolitisch konservativer gesinnt sind, eine Sperrminorität.

Eindrücklichstes Beispiel sind die Bilateralen II, die 2005 an die Urne kamen. Teil davon war das Schengen-Abkommen, das bereits verbindliche Regeln für die dynamische Rechtsübernahme umfasst, die heute im Zusammenhang mit dem neuen Paket als Grund für ein doppeltes Mehr genannt werden. Damals aber hat das Parlament die Bilateralen II dem fakultativen Referendum ohne Ständemehr unterstellt.

Das war entscheidend. Obwohl das Volk die Vorlage mit 54,6 Prozent Ja-Stimmen relativ klar angenommen hat, wäre sie gescheitert, wenn das Ständemehr verlangt worden wäre. Die Bilateralen II erreichten nur elf Standesstimmen statt der notwendigen zwölf (das Total beträgt 23, weil sechs Kantone nur eine halbe Standesstimme haben).

Aus dieser und anderen Europa-Abstimmungen lässt sich als Faustregel ableiten: Gilt das Ständemehr, liegt das notwendige Quorum rechnerisch bei 55 Prozent oder mehr. Beim EWR hätten rein rechnerisch sogar mehr als 62 Prozent zustimmen müssen, um das doppelte Mehr zu erreichen.

Bisher gab es nur dreimal ein «Referendum sui generis»

Ebenso klar ist jedoch, dass im Prinzip nicht abstimmungstaktische, sondern staatspolitische Überlegungen den Ausschlag geben sollten. Allerdings sind die Politiker insofern in einer bequemen Lage, als sich für beide Sichtweisen ausreichend Rechtsgelehrte finden lassen, die es so oder anders sehen. Zumindest in einem Punkt ist der Tenor aber relativ deutlich: Kaum jemand argumentiert, das Vertragspaket unterstehe dem obligatorischen Referendum mit Ständemehr, das stets zum Zug kommt, wenn die Verfassung geändert werden soll. Bei Staatsverträgen greift dieses Referendum nur, wenn es um den Beitritt zu «supranationalen Gemeinschaften» wie der EU oder «Organisationen kollektiver Sicherheit» wie der Nato geht.

Daneben gibt es jedoch die Tradition eines ausserordentlichen «Referendums sui generis», das nicht in der Verfassung festgeschrieben ist. Es kam bisher nur bei drei Volksabstimmungen zur Anwendung: beim Beitritt zum Völkerbund (1920), beim Freihandelsabkommen mit der heutigen EU (1972) sowie beim Beitritt zum EWR (1992). In diesen Fällen hat das Parlament die fraglichen Staatsverträge freiwillig von sich aus dem doppeltem Mehr unterstellt, weil ihnen «Verfassungscharakter» zukomme.

Heute jedoch ist unter Juristen erstens umstritten, ob dieses «freiwillige» Referendum noch zulässig ist, nachdem das Parlament 2020 darauf verzichtet hat, es in ordentliches Recht zu überführen. Und wird diese Frage bejaht, ist zweitens strittig, ob das vorliegende Vertragspaket ein Fall für ein solches Referendum wäre.

Vorwärtsstrategie mit Risiken

Der Bundesrat hat sich nun festgelegt: Aus seiner Sicht ist ein «Referendum sui generis» im Prinzip weiterhin möglich, im konkreten Fall aber nicht angezeigt. Der Entscheid sei kohärent mit der bisherigen Praxis, zumal das Ständemehr bereits bei den Bilateralen I und II keine Rolle spielte. Zudem erinnert der Bundesrat daran, dass das Volk 2012 die Initiative «Staatsverträge vors Volk», die ein Ständemehr für völkerrechtliche Verträge mit wichtigen rechtsetzenden Bestimmungen verlangte, wuchtig verworfen hat.

In den vergangenen Wochen haben beide Seiten grossen Druck auf einzelne Bundesratsmitglieder ausgeübt, um einen Entscheid zu erzwingen. Dass Ignazio Cassis die Schlüsselrolle spielte, ist offenkundig. Zuletzt gab es Anzeichen, dass er die Sache aufschieben möchte. Der Bundesrat hätte sich auch erst Ende Jahr, nach der Vernehmlassung, festlegen können.

Jetzt aber hat er die Vorwärtsstrategie gewählt. Ob es dem Dossier hilft, ist fraglich. Es besteht das Risiko, dass weiterhin mehr über referendumsrechtliche Finessen gestritten wird statt über die Inhalte der Verträge. Allerdings lässt sich der Entscheid über das Referendum auch nicht ewig hinauszögern. Im Departement Cassis hatte man die Wahl: Entweder gibt es jetzt Ärger oder Ende Jahr.

Eine zentrale Rolle spielen nun die Kantone, die «Hüter des Föderalismus». Wenn sie sich in der Vernehmlassung klar für oder gegen das Ständemehr aussprechen, braucht das Bundesparlament gute Gründe, um davon abzuweichen. Umso interessanter ist die Frage, wie die Meinungsbildung in den Kantonen ablaufen wird. Überlassen die Parlamente es den Regierungen, wie sie sich äussern? Und werden sich die Kantone einzeln zu Wort melden oder gemeinsam via die Konferenz der Kantonsregierungen? Es bleibt spannend, und das EU-Dossier wird plötzlich Sache der Kantone.

Exit mobile version