Mittwoch, April 2

Junge Männer fallen in der Schule und im Berufsleben zurück und wenden sich frauenfeindlichen Influencern zu. Was ist los mit Englands Jungs?

Dass die Netflix-Serie «Adolescence» in Grossbritannien auf enorme Resonanz gestossen ist, erstaunt Edward Davies nicht. «Seit einiger Zeit hatte man das Gefühl, dass mit den englischen Buben etwas nicht stimmt, ohne das Problem genau benennen zu können», erklärt der Politdirektor der Denkfabrik Center for Social Justice (CSJ) im Gespräch in London. «In der Serie nehmen diese Ahnungen auf schreckliche Weise Gestalt an.»

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Die vierteilige Serie dreht sich um einen 13-jährigen Jungen aus einer Kleinstadt, der im Internet mit radikal frauenfeindlichen Inhalten in Kontakt kommt, eine Klassenkameradin ermordet und seine Familie in die Verzweiflung stürzt. In den ersten zwei Wochen nach ihrem Erscheinen ist die Serie 66,3 Millionen Mal angeschaut worden – das ist der erfolgreichste Start einer Filmproduktion in der britischen Geschichte.

Nun debattieren Kolumnisten und Podcaster über Jugendgewalt und Social Media. Sie fragen: Was ist los mit den Jungs im Land?

Adolescence | Official Trailer | Netflix

Die Knaben fallen zurück

Diese Frage treibt Davies vom Center for Social Justice seit längerem um. Die vom früheren Chef der Konservativen Partei Ian Duncan Smith gegründete Denkfabrik widmet sich sozialpolitischen Fragen. Fast zeitgleich zur Lancierung von «Adolescence» publizierte das CSJ eine Studie mit dem Titel «Lost Boys», die das Malaise der britischen Knaben mit Daten und Statistiken greifbar zu machen versucht.

Die Studie zeigt, dass Knaben vom Kindergarten bis zur Universität leistungsmässig hinter die Mädchen zurückgefallen sind. Junge Männer sind auch häufiger arbeitslos und erhalten in ihren ersten Jobs weniger Lohn als die jungen Frauen. Allein seit der Pandemie ist die Zahl der 16- bis 24-jährigen Männer, die weder eine Ausbildung absolvieren noch einer Arbeit nachgehen, um 40 Prozent gestiegen. Bei den Frauen nahm die Zahl um 7 Prozent zu. In den Kriminalitätsstatistiken sind die Buben nach wie vor stark übervertreten.

«Früher schnitten die Knaben in der Schule besser ab, aber nun hat der Wind gedreht», konstatiert Davies. Er führt dies auf den Erfolg von Programmen zurück, die Mädchen in naturwissenschaftlichen Fächern förderten. Davies vermutet, dass auch der Rückgang von männlichen Lehrpersonen einen Einfluss auf den Leistungsabfall der Knaben haben könnte.

«Epidemie der Vaterlosigkeit»

Männliche Bezugspersonen fehlten auch im Privatleben, sagt Davies: «Grossbritannien leidet unter einer Epidemie der Vaterlosigkeit.» 2,5 Millionen britische Kinder – rund 20 Prozent – haben keine Vaterfigur zu Hause. Fast die Hälfte lebt nicht mehr mit beiden Elternteilen zusammen, wenn sie das Alter von 16 Jahren erreicht haben – das sind mehr als in allen anderen Ländern Westeuropas.

Davies betont, dass er kein traditionalistisches Familienbild propagiere und dass männliche Bezugspersonen oft auch in Patchwork-Familien vorhanden seien oder alleinerziehende Mütter sekundierten. Doch wo Vaterfiguren gänzlich fehlten, häuften sich soziale und psychische Probleme: «Inzwischen haben Knaben häufiger ein Smartphone als einen Vater.»

Ähnlich argumentiert Gareth Southgate. Der ehemalige englische Fussball-Nationaltrainer hielt kürzlich die «Richard Dimbleby Lecture», ein vielbeachteter Vortrag, zu dem die BBC jedes Jahr eine Person des öffentlichen Lebens einlädt.

Junge Männer fühlten sich isoliert und flüchteten sich in Videospiele und Pornografie, erklärte Southgate in seinem Referat. Im Internet stiessen sie auf manipulative und toxische Influencer. «Diese machen sie glauben, Erfolg messe sich an Geld und Dominanz, dass Stärke bedeute, keine Emotionen zu zeigen, und die Welt und Frauen ihnen feindlich gesinnt seien.» England müsse seinen jungen Männern in der realen Welt positive männliche Vorbilder vermitteln, erklärte Southgate. Lehrer, Sporttrainer oder Jugendarbeiter könnten solche Funktionen wahrnehmen.

Der Einfluss von frauenfeindlichen Influencern wie Andrew Tate, der in Rumänien wegen Vergewaltigung angeklagt ist und kürzlich in die USA ausreisen konnte, ist schon lange ein Thema. Offene Bestürzung löste im März aber der Prozess gegen einen jungen Engländer aus, der aus Trennungsschmerz seine Ex-Partnerin vergewaltigt und deren Schwester und Mutter mit einer Armbrust hingerichtet hatte. Am Abend vor der Bluttat hatte er einen Podcast von Tate angehört.

Handyverbot an der Schule?

Die Krise von Knaben ist kein spezifisch britisches Phänomen. Laut Davies ist allerdings die Zahl der jungen Männer, die ohne Vater aufwachsen und die keiner Ausbildung und Arbeit nachgehen, in Grossbritannien überdurchschnittlich hoch. Als möglichen Grund dafür nennt er die verbreitete Armut sowie die Perspektivenlosigkeit in den postindustriellen Gebieten Nordenglands.

Besonders gross sind die Probleme laut Davies unter weissen Männern aus der Unterschicht, aber etwa auch unter Knaben mit karibischem Hintergrund. Ein Blick in die Statistiken zeige derweil, dass schwarze Jugendliche afrikanischer Abstammung schulisch besser abschnitten und weniger oft kriminell würden als ihre Altersgenossen mit Wurzeln in der Karibik. Davies erklärt dies mit den starken Familienstrukturen in der afrikanischstämmigen Bevölkerung.

Längst hat die Debatte auch die Politik erreicht. Premierminister Keir Starmer erklärte, er habe «Adolescence» mit seinen Kindern im Teenager-Alter angeschaut: «Die von jungen Männern verübte und durch Online-Inhalte beeinflusste Gewalt ist ein echtes Problem.» Doch während die konservative Opposition ein Handyverbot an Schulen fordert, bleibt unklar, wo genau die Labour-Regierung Handlungsbedarf erkennt.

Davies plädiert für eine Regulierung von Mobiltelefonen und dem Inhalt, den Jugendliche im Internet abrufen können. «Wenn man einem 11-Jährigen ein Handy gibt, erhält er Zugang zu harter Pornografie und zu Videos von Enthauptungen und über Suizid. Da müssen wir Teenager besser schützen, wir lassen sie ja auch keine Flasche Wodka kaufen oder Auto fahren.»

Handlungsbedarf sieht Davies auch in der Schule. Laut einer Umfrage glaubt fast die Hälfte der jungen Männer, dass Werte wie Mut oder Kampfgeist nicht mehr geschätzt würden. Die Herausforderung sei, solche Werte wieder positiver zu besetzen, ohne die Kinder in traditionelle Geschlechterrollen zurückzudrängen, sagt Davies. Als positives Beispiel nennt er das Pilotprojekt einer amerikanischen Schule, die zwischen allen Lektionen ein kurzes Basketballspiel organisiert, was die Konzentrationsfähigkeit der Kinder fördern soll. «Das schätzen auch viele Mädchen, es kommt aber speziell den Bedürfnissen hyperaktiver Knaben entgegen.»

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