Dienstag, März 25

Die türkische Justiz versetzt Erdogans gefährlichstem Herausforderer weitere Schläge. Die Empörung im Land ist gross. Das Vorgehen der Polizei gegen die Proteste wird derweil immer heftiger.

Die Repressionsmaschinerie der türkischen Regierung läuft auf Hochtouren. Ein Richter hat am Sonntagmorgen für den Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu Untersuchungshaft angeordnet. Das bedeutet, dass ein strafrechtliches Verfahren gegen ihn eröffnet und er aus einer Polizeizelle in ein Gefängnis gebracht wird.

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Der populäre Oppositionspolitiker war am Mittwoch wegen Verdachts auf Korruption und Zusammenarbeit mit einer Terrororganisation in Polizeigewahrsam genommen worden. Laut türkischem Recht muss ein Verhafteter innert vier Tagen einem Haftrichter vorgeführt werden. Dies ist nun geschehen.

Am Sonntagnachmittag teilte das Innenministerium mit, dass Imamoglu auch seines Amtes als Istanbuler Bürgermeister «vorübergehend» enthoben worden sei. Begründet wurde es mit der Untersuchungshaft. Auch die Bürgermeister der Istanbuler Stadtteile Beylikdüzü und Sisli wurden abgesetzt. In Sisli wurde ein Zwangsverwalter bestimmt.

Grösste Proteste seit über zehn Jahren

Die Empörung über das Vorgehen gegen die türkische Opposition und ihren Hoffnungsträger ist gross im Land. Obwohl in Istanbul, Ankara und Izmir ein Versammlungsverbot gilt, gehen in diesen drei grössten sowie vielen anderen Städten des Landes jeden Abend Tausende auf die Strasse. Es sind die grössten Demonstrationen gegen die Herrschaft von Recep Tayyip Erdogan seit den sogenannten Gezi-Protesten 2013.

Damals formierte sich Widerstand gegen die Bebauung eines kleinen Parks in Istanbul. Daraus wuchs innert kurzer Zeit eine landesweite Unmutsbekundung gegen die Regierung. Die Niederschlagung der Bewegung beschleunigte die autoritäre Wende von Erdogans Herrschaft.

Seitens der Regierungsgegner besteht auch heute kein Zweifel, dass Imamoglus Festnahme politisch motiviert ist. Der charismatische Bürgermeister der wichtigsten Stadt des Landes gehört der grössten Oppositionspartei, CHP, an und gilt als jener Mann, der Präsident Erdogan dereinst gefährlich werden könnte. In vielen Umfragen schnitt Imamoglu jüngst besser ab als Erdogan.

Die nächsten regulären Wahlen finden zwar erst 2028 statt. Um das eigene Lager zu einen und sich gegen Angriffe der Regierung zu schützen, will sich die CHP in einer Vorwahl bereits diesen Sonntag auf einen Kandidaten festlegen. Der einzige Name auf der Liste ist Ekrem Imamoglu.

Trotz seiner Verhaftung hält die Partei an den Vorwahlen fest. Die Abstimmung ist zurzeit im Gange. Personen, die nicht Parteimitglieder sind, können eine «Stimme der Solidarität» abgeben. Imamoglu rief in einer Erklärung alle 86 Millionen Bürger der Türkei auf, an der Vorwahl teilzunehmen und «der Welt unseren Kampf für Demokratie und Gerechtigkeit zu zeigen».

Mehr als 300 Verhaftungen

Gleichzeitig wird der Protest auf der Strasse lauter. Nachdem die Polizei am ersten Tag von Imamoglus Verhaftung spontane Kundgebungen toleriert hat, geht sie nun immer heftiger gegen die Demonstranten vor. Dabei wurden laut Augenzeugen zumindest in Istanbul auch Plastikgeschosse und Tränengas eingesetzt.

Der Innenminister Ali Yerlikaya erklärte, dass im Zusammenhang mit den Protesten in der Nacht auf Sonntag 323 Personen festgenommen worden seien. Tags zuvor waren es 343 gewesen. Die Festnahmen wurden teils mit der Teilnahme an den Protesten, teils mit Aufrufen dazu in sozialen Netzwerken begründet.

Die Regierung blockierte die Konten von Aktivisten, oft Studenten, auf Social Media. Neben der Oppositionspartei CHP sind die Studenten des Landes die treibende Kraft hinter den Demonstrationen.

Die Türkei gehört seit Jahren zu den Staaten mit der höchsten Zahl an Anfragen an X, regierungskritische Mitteilungen zu löschen oder gewisse Konten zu blockieren. In der Regel kommt X diesen Forderungen nach.

Holt sich Erdogan Istanbul zurück?

Seit Imamoglus Festnahme am Mittwoch wurde viel darüber spekuliert, ob die Regierung in Istanbul einen Statthalter einsetzt und somit die Macht über die grösste und reichste Stadt des Landes wieder an sich reisst. Der Wahlsieg Imamoglus im Jahr 2019, der die 25-jährige Herrschaft von Erdogans AKP in Istanbul beendete, und seine Wiederwahl fünf Jahre später waren ein herber Rückschlag für das Regierungslager.

Im mehrheitlich kurdisch besiedelten Südosten des Landes hat die Regierung in den vergangenen Jahren unter fadenscheinigem Vorwand in Dutzenden von Städten Bürgermeister ihres Amtes enthoben und Zwangsverwalter eingesetzt. Die Praxis steht bei Regierungsgegnern für die offensichtliche Missachtung des Wählerwillens und hat deshalb auch symbolische Bedeutung.

Der Parteivorsitzende der CHP, Özgür Özel, sagte am Sonntag, dass das von seiner Partei dominierte Stadtparlament für die Dauer von Imamoglus Haft einen neuen Bürgermeister wählen werde. Die Einsetzung eines Zwangsverwalters sei nicht möglich, weil die Untersuchungshaft gegen Imamoglu nur wegen der Korruptionsvorwürfe verfügt worden sei, nicht wegen Terrorverdachts. Tatsächlich ist ein Terrorbezug Voraussetzung für die Einsetzung eines Statthalters. Angesichts des lamentablen Zustands des türkischen Rechtsstaats ist auf solche Feinheiten allerdings wenig Verlass.

Ohnehin hat Erdogan noch weitere Pfeile im Köcher, um seinen grössten Herausforderer aus dem Rennen zu nehmen. In einem Prozess wegen Beamtenbeleidigung wurde Imamoglu bereits Ende 2022 erstinstanzlich verurteilt. Scheitert das Berufungsverfahren, darf er sich mehrere Jahre lang nicht politisch betätigen. Ausserdem wurde ihm am Tag vor seiner Verhaftung sein Universitätsdiplom aberkannt. Ein Hochschulabschluss ist eine Bedingung für eine Präsidentschaftskandidatur.

Imamoglu weiss, dass in diesem Machtkampf auf die politisierte Justiz der Türkei kein Verlass ist. «Versammelt euch vor dem Rathaus in Istanbul und auf den anderen Plätzen der Demokratie und erhebt eure Stimme», sagte er in einer Erklärung auf X. «Heute ist der Tag, um gegen jene aufzustehen, die sich über den Willen des Volkes hinwegsetzen.»

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