Dienstag, Oktober 8

Seit dem Überfall Russlands wird viel über die Geschichte der Ukraine geschrieben. Jaroslaw Hrizak setzt den vom Kreml verbreiteten Mythen eine nüchterne Sicht auf die Entstehung einer Nation entgegen.

Seit mehr als zweieinhalb Jahren wird darüber debattiert, wie die Vereinigten Staaten und Europa die Ukraine am besten darin unterstützen können, im Krieg gegen die russischen Invasoren zu bestehen. Meist geht es dabei um Waffenlieferungen und moderne Aufklärungstechnologie. Um Instrumente also, mit denen die Ukraine die drückende Überlegenheit der Russen an Menschen und Material so gut wie möglich kompensieren kann.

Darüber gerät die Stärke der ukrainischen Nation, die sich dem überlegenen Feind in beeindruckender Entschlossenheit entgegenstellt, oft in den Hintergrund. In seiner jetzt auf Deutsch erschienenen Geschichte der Ukraine vergleicht der renommierte Lwiwer Historiker Jaroslaw Hrizak (Yaroslav Hrytsak) die Ukraine mit dem antiken Sparta, das im 5. Jahrhundert v. Chr. den Angriff der zahlenmässig weit stärkeren Perser auf Griechenland abwehrte.

Treffender wäre ein Blick auf Südosteuropa vor dem Ersten Weltkrieg, wo Hrizak einige Gemeinsamkeiten zur ukrainischen Nationswerdung entdeckt. Die Siege der noch jungen Balkanstaaten über die militärisch vermeintlich überlegenen osmanischen Besetzer wurden in Europa als Resultat einer herausragenden nationalen Kraftanstrengung gewertet. Als Effort, bei dem sich nicht nur die Armeen, sondern auch die Bevölkerungen uneingeschränkt in den Dienst der gemeinsamen Sache stellten – und so einen Feind zurückschlugen, dessen Soldaten gar nicht recht wussten, wofür sie fern der Heimat kämpfen und sterben sollten.

Putins Mythen

Hrizak macht kein Hehl aus seiner Position. Er wünscht sich die moderne Ukraine als liberale Demokratie und Mitglied der Europäischen Union. Doch widersteht er der Versuchung, der russischen Propaganda, die darauf abzielt, der Ukraine jegliches Existenzrecht abzusprechen, eine nicht minder einseitige ukrainische Opfer- und Heldengeschichte entgegenzustellen.

Stattdessen skizziert Hrizak die grossen Linien der ukrainischen Nationswerdung, deren Ursprünge er im 10. Jahrhundert mit der Entstehung der Kiewer Rus verortet – jenes frühen Staatswesens, welches das heutige Territorium der Ukraine umfasste und von Putin als Beleg dafür genannt wird, dass die Ukraine im Kern seit je ein Teil Russlands gewesen sei.

Hrizak widerlegt vereinfachende Verzerrungen wie diese, indem er ihnen die dezidiert ukrainischen Elemente in den historischen Entwicklungslinien entgegenstellt. In die Schilderung der Ereignisgeschichte flicht er Kapitel ein, die sich mit kulturellen Phänomenen wie der Geschichte des ukrainischen Brots, des Liedguts, oder der Herausbildung der ukrainischen Sprache befassen.

Grenzland gegen den Westen

Andererseits verweist er auf polnische und österreichische Einflüsse, die die Geschichte der Ukraine über die Jahrhunderte prägten. Und er weist auf die Auswirkungen global wirkmächtiger Grossereignisse und Umbrüche hin, die in der Ukraine ihre Spuren hinterliessen. Etwa die Epoche der Gewalt, die dem Land in einem von Hrizak so benannten dreissigjährigen Krieg zwischen 1914 und 1945 von aussen aufgezwungen wurde. Dieser führte dazu, dass im Zuge mehrerer Genozide rund die Hälfte der ukrainischen Männer und rund ein Viertel der weiblichen Bevölkerung gewaltsam ums Leben kamen.

Wie fast überall in Europa bildeten sich auch die Hauptmerkmale der ukrainischen Nation im langen 19. Jahrhundert heraus. Gleichwohl führte die Kulmination des nationalen Befreiungskampfes der Jahre 1914 bis 1920, anders als zeitgleich etwa in Irland, nicht zum ersehnten Nationalstaat. Vielmehr fand sich die ukrainische Nation staatenlos im russischen Einflussbereich wieder.

Die im 19. Jahrhundert virulente «ukrainische Frage» verlor an internationaler Bedeutung und wurde fortan weitgehend als innerrussische Angelegenheit wahrgenommen. Bis spät im 20. Jahrhundert galt die Ukraine aus russischer Sicht als wichtiges Grenzland, von dem aus nicht nur westliche Einflüsse abgewehrt, sondern auch die Weltrevolution westwärts verbreitet werden sollte.

Wie steht es mit Europa?

Überzeugend schlägt Hrizak die Verbindung vom Mittelalter zum modernen Nationalstaat an der Schwelle des 21. Jahrhunderts. Er erzählt keine Opferlegende und schreibt kein Heldenepos. Unangenehmen Themen weicht er nicht aus: etwa der Kollaboration ukrainischer Nationalisten beim Holocaust. Wie in fast allen Staaten Europas war dieser Weg von Brüchen geprägt. Bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts galt die Ukraine als eine der gefährlichsten Regionen der Welt.

Eine Konstante der ukrainischen Geschichte war immer die Abwehr russischer Infiltration und Okkupation. Wer Jaroslaw Hrizaks Buch aufmerksam liest, versteht nicht nur die Hintergründe des gegenwärtigen Konflikts, sondern auch, warum sich die Ukraine so erbittert gegen die russische Aggression zur Wehr setzt.

Vielleicht fragt man sich beim Lesen auch, wie es jenseits aller laufenden Beschaffungs- und Aufrüstungsdebatten um die Verteidigungsbereitschaft Europas bestellt wäre. Gäbe es einen gesellschaftlichen Konsens, Europa notfalls auch militärisch zu verteidigen? Man darf es bezweifeln. Dabei zeigt der Krieg in der Ukraine eindrücklich: Ohne den Willen der Ukrainer, den Fortbestand ihrer Nation bis zur letzten Konsequenz zu verteidigen, wären alle Waffenlieferungen des Westens vergeblich.

Yaroslav Hrytsak: Ukraine. Biographie einer bedrängten Nation. Aus dem Englischen von Karlheinz Dürr und Norbert Juraschitz. C. H. Beck, München 2024. 480 S., Fr. 49.90.

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