Der Nationaltrainer Murat Yakin und sein Staff überzeugen mit ihren Massnahmen. Das Schweizer Team ist ausbalanciert und verbindet an der Europameisterschaft die besten Elemente aus zwei total gegensätzlichen Philosophien.

Ein Gedanke am Samstagabend während des EM-Achtelfinals der Schweizer in Berlin: wie klein sich der Titelverteidiger Italien macht, wie traurig der Aussenseiterfussball des stolzen Fussballlandes ist, wie uninspiriert und langsam, wie fehlerhaft und schwach.

Ein anderer Gedanke: Diese Schweizer spielen wie ein Titelkandidat. Mit Mut und Kombinationsfluss, mit Spielfreude und Aggressivität, mit Dominanz und Zielstrebigkeit, mit Organisation und Optimismus, stets in der Balance und ohne Hektik. Mit allen Eigenschaften, die grosse Mannschaften auszeichnen.

Es sind zwei unerhörte Gedanken, die einem noch vor ein paar Monaten niemals gekommen wären. Der 2:0-Sieg der Schweizer und vor allem die Art und Weise des Auftritts gegen Italien haben Grenzen verschoben. Undenkbares wird denkbar. Die Bilder aus dem Berliner Olympiastadion sendeten eindeutige Signale aus, den Sound dazu lieferten die ambitionierten, fokussierten Schweizer Nationalspieler mit ihren abgeklärten Aussagen. «Das ist für mich die beste Zeit im Nationalteam», sagte der herausragende Abwehrchef Manuel Akanji. «Und wir sind noch nicht am Ende.»

Die Schweizer stehen auf ihrer langen Reise kurz vor dem Gipfel. Sie haben Rückschläge erlitten, sind dadurch gereift, haben gelernt, einen Schritt nach dem anderen zu gehen. Für keinen gilt das mehr als für Granit Xhaka, den Captain, der mit 31 Jahren zum ersten Mal an einer Endrunde den Eindruck hinterlässt, dass er mit sich im Reinen ist. Keine emotionalen Serbien-Spiele, keine Skandale, keine Scharmützel mit den Medien, kein Ärger mit dem Nationaltrainer, keine unüberlegten Aktionen, Aussagen oder Auftritte.

Die grosse Erfahrung der Fussballer in der Achse

An der Entwicklung von Xhaka lässt sich die Evolution der Schweizer Nationalmannschaft festmachen. Da ist eine Einheit zusammengewachsen, über Umwege und während Jahren, die bereit ist, Geschichte zu schreiben. Erster Halbfinal? Warum nicht das Endspiel in Berlin? Sogar der Titelgewinn?

Bemerkenswert ist, wie der Trainer Murat Yakin und seine Mitarbeiter nach dem teilweise desaströsen Länderspieljahr 2023 reagiert haben.

Ein Beispiel: Ricardo Rodriguez gehört mit seiner Ruhe, Erfahrung und Ballsicherheit ins Team, aber in einer Viererkette ist er als Linksverteidiger zu wenig dynamisch – in der Dreierkette passt er als Linksfuss perfekt, zumal er den linken Aussenspieler defensiv ideal unterstützen kann.

Ein anderes Beispiel: Granit Xhaka spielt jetzt auf jener Position, auf die er am besten passt, im Mittelfeld direkt vor der Abwehr, an seiner Seite ist mit Remo Freuler ein laufstarker Arbeiter. Oder: Fabian Schär, unter Yakin lange ein Wackelkandidat, ist jetzt unumstritten, er ist mit seiner tollen Spieleröffnung ein wichtiger Faktor im Aufbau.

So geht das immer weiter, von hinten bis nach vorne.

Das Gerüst des Schweizer Teams mit dem Torhüter Yann Sommer, den Verteidigern Rodriguez, Akanji und Schär sowie den zentralen Mittelfeldspielern Xhaka und Freuler weist die Erfahrung von 561 Länderspielen auf, in über 50 Partien standen diese sechs Fussballer gemeinsam auf dem Rasen. Bis jetzt sind sie ohne grobe Blessuren und Sperren durchs Turnier gekommen. Auch der gegen Italien gesperrte Silvan Widmer und der Stürmer Breel Embolo sind seit vielen Jahren dabei.

An ihrer Seite haben sich junge Spieler prächtig entwickelt. Ruben Vargas bereitete gegen Italien das 1:0 vor und schoss das 2:0 mit einem traumhaften Schlenzer. Dan Ndoye mit seiner Schnelligkeit und Fabian Rieder mit seiner Spielintelligenz sind die Aufsteiger; sie bringen Energie, Entschlossenheit und Einsatz mit.

Mutige Entscheide, erstaunliche Kaderbreite

Nahezu jeder taktische und personelle Entscheid von Yakin und seinem Staff hat sich an dieser EM als Volltreffer erwiesen. Es waren teilweise mutige Dispositionen, entstanden sind sie dank starkem Scouting der Gegner, ausführlichen Analysen sowie der Bereitschaft, auch einmal ungewohnte Wege zu gehen. Zu sehen ist das auf den Aussenpositionen, die gegen Italien von Fussballern besetzt wurden, die man dort vor einem halben Jahr nicht erwartet hätte: Michel Aebischer links und Ndoye rechts.

Dem Schweizer Trainerstab ist es wichtig, Fussballer wie Aebischer und Rieder, eigentlich zentrale Aufbauer, mit ihren spielerischen Qualitäten im Team zu haben – nun halt links im Mittelfeld oder auf einer Halbposition in der Offensive. Beide zeichnet eine hohe Passgenauigkeit aus, Rieder ist zudem ein glänzender Schütze bei Eckbällen und Freistössen.

Und so spielt diese Schweizer Mannschaft einen sehr ansehnlichen Fussball. Mit vielen Ballbesitzphasen und starken Umschaltmomenten. Die Schweiz paart an dieser EM die besten Elemente aus zwei total gegensätzlichen Philosophien. Es spielte auch noch keine Rolle, dass der mit Abstand beste Stürmer Embolo nach langer Verletzungspause nicht in Bestform ist.

Im EM-Aufgebot stehen zudem Fussballer wie der Goalie Gregor Kobel oder der Mittelfeldspieler Ardon Jashari, die in den nächsten Jahren wichtige Rollen einnehmen könnten.

Sowieso: Die Kaderbreite der Schweizer ist bemerkenswert und deutlich besser als an den letzten Turnieren. Es hat Spieler im Team, die jahrelang zu den Leistungsträgern gehörten oder als Hoffnungsträger gelten, an dieser EM aber erstaunlich wenig oder noch gar keinen Beitrag zum Erfolg geleistet haben: der Verteidiger Nico Elvedi, der Mittelfeldspieler Denis Zakaria, die Stürmer Zeki Amdouni und Noah Okafor – und allen voran: Xherdan Shaqiri. Er erzielte zwar gegen Schottland das vielleicht schönste EM-Tor, sonst wurde er aber nicht eingesetzt.

Die angeblich mangelhafte Fitness und die defensiven Schwächen von Shaqiri sind kein zentrales Thema. Und doch: Wenn die Schweiz einmal in Rückstand geraten sollte, könnten die magischen Momente des Künstlers wieder benötigt werden.

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