Freitag, Dezember 27

Humanitäre Tradition hin, Bürgenstock-Konferenz her. Im internationalen Vergleich schneidet die Schweiz bei der Unterstützung der Ukraine unterdurchschnittlich ab. Doch auch in anderen Ländern wird die Stimmung kritischer.

Geht es nach dem Parlament, sollen künftig weniger Flüchtlinge aus der Ukraine in die Schweiz kommen. Neu sollen nur noch jene Schutz erhalten, die in Gebieten gelebt haben, die umkämpft oder von Russland besetzt sind. Am Montag hat der Nationalrat eine entsprechende Forderung der St. Galler Ständerätin Esther Friedli mit 96 zu 87 Stimmen angenommen. Der Ständerat hatte dem Vorstoss der SVP-Politikerin bereits im Juni zugestimmt.

Der Entscheid ist ein Richtungswechsel, und er steht der Schweiz nicht gut an. Dass ein neutrales Land weder Waffen noch Munition in ein Kriegsland liefert, wird im Ausland verstanden. Nicht aber, dass die Schweiz anderen Ländern auch den Export von Schweizer Rüstungsmaterial in die kriegsversehrte Ukraine untersagt.

Der Entscheid, künftig nicht mehr allen ukrainischen Flüchtlingen – vornehmlich Frauen und Kindern – den Status S zu gewähren, passt ins Bild. Im internationalen Vergleich schneidet die Schweiz bei den Unterstützungsmassnahmen nämlich eher mittelmässig ab – trotz humanitärer Tradition, Bürgenstock-Konferenz und Ignazio Cassis’ Bekenntnis zu einer «flexiblen Neutralität».

Wiederaufbauhilfe, aber . . .

Das zeigt sich in fast allen Bereichen, wo die Solidarität mit dem überfallenen Land die Schweiz etwas kosten würde. Ein regelmässig aktualisierter Vergleich des Kieler Instituts für Weltwirtschaft verweist die Schweiz auf die hinteren Ränge. Im Zeitraum vom 24. Januar 2022 bis zum 31. August 2024 zahlte die Schweiz gerade einmal 0,7 Milliarden an humanitärer Hilfe. Sie rangiert zwar noch unter den 20 grössten Geberländern, aber nur knapp. Gemessen nach Bruttoinlandprodukt sieht es noch schlechter aus. Hier kommt die Schweiz auf 0,1 Prozent. Zum Vergleich: Österreich beteiligt sich im Umfeld von 0,3 Prozent seines BIP an der Ukraine-Hilfe.

Immerhin hat der Bundesrat mittlerweile gemerkt, dass dem Land Geiz angesichts eines verheerenden Krieges mitten in Europa schlecht ansteht. Er beantragte deshalb, dass neu 13 Prozent der für die Jahre 2025 bis 2028 budgetierten Auslandshilfe der Ukraine zukommen sollen. Weiter sollen Entwicklungszusammenarbeit, humanitäre Hilfe, Massnahmen zur Friedensförderung und zur Stärkung der Menschenrechte finanziert werden. Die Mittel sind als Verpflichtungskredite im Rahmen der Strategie zur internationalen Zusammenarbeit (IZA) eingestellt. Nach dem Willen des Bundesrats und der bürgerlichen Parteien im Parlament geht die Aufstockung der Ukraine-Hilfe zulasten anderer Länder.

Um dem Bröckeln bei der Solidarität der Schweizer Gesellschaft mit der Ukraine Einhalt zu gebieten, hat der Bundesrat bereits im Juni beschlossen, Schweizer Unternehmen von der geplanten Wiederaufbauhilfe profitieren zu lassen. Er tut dies, indem er dem Schweizer Privatsektor eine führende Rolle beim Wiederaufbau der Ukraine zuweist. In den kommenden vier Jahren will die Schweiz rund ein Drittel (500 Millionen Franken) der IZA-Mittel für die Ukraine aufwenden. Der Clou: Spezialisierte private Firmen sollen in Form von Gutscheinen für Arbeiten im Bereich der Wiederaufbauhilfe gewonnen werden. Somit flösse ein Teil der Hilfsgelder in die Schweiz zurück.

Geregelt werden soll die Schweizer Unterstützung für den Wiederaufbau der Ukraine über einen Staatsvertrag. Das Wirtschaftsdepartement ist derzeit dabei, ein Mandat für Verhandlungen mit der Ukraine auszuarbeiten. Damit orientiert sich die Schweiz am Beispiel Frankreichs, das ebenfalls einen ähnlichen Staatsvertrag mit der Ukraine abgeschlossen hat.

Schweiz nimmt viele Schutzsuchende auf – aber weniger als andere Länder

Trotz dieser mittel- bis langfristigen Hilfe dominiert die Aufnahme von Flüchtlingen die öffentliche Wahrnehmung. Fast 100 000 Ukrainerinnen und Ukrainern hat die Schweiz seit Kriegsbeginn den Schutzstatus S gewährt, über 66 000 nehmen ihn noch immer in Anspruch. Zwei Drittel der Gesuche wurden dabei im ersten halben Jahr nach der Aktivierung des Schutzstatus im März 2022 gestellt. Für Bund, Kantone und Gemeinden bedeutete die Aufnahme einer so grossen Zahl von Schutzsuchenden in kürzester Zeit eine grosse Belastung. Dies, zumal auch die regulären Asylgesuche aus andern Ländern zunahmen.

Im internationalen Vergleich steht die Schweiz dennoch nicht besonders gut da. Vor allem die Länder in Osteuropa haben gemessen an der Einwohnerzahl ein Vielfaches an Menschen aufgenommen. So leben in der Moldau pro 1000 Einwohner 50 Ukrainerinnen und Ukrainer. In Tschechien sind es 36, in Estland 28 und in Polen 24. In der Schweiz sind es nur gerade 8 Personen.

Mit der geografischen Nähe lässt sich das nur teilweise erklären. Denn Deutschland weist mit 15 Personen auf 1000 Einwohner einen fast doppelt so hohen Wert aus wie die Schweiz. Und sogar der weit entfernte Inselstaat Irland hat auf 1000 Einwohner 12 Flüchtlinge aufgenommen. Immerhin bildet die Schweiz bei weitem nicht das Schlusslicht: Länder wie Frankreich, Italien oder Spanien kommen auf teilweise deutlich tiefere Werte.

Auch in absoluten Zahlen und mit historischem Blick gesehen stellt die fluchtbedingte Zuwanderung von Ukrainerinnen und Ukrainern nur bedingt einen Ausreisser dar. Nach dem Zerfall Jugoslawiens und während der Kriege in den 1980er und 1990er Jahren kamen deutlich mehr Menschen aus dieser Krisenregion in die Schweiz. 1980 lebten rund 60 000 Personen aus Jugoslawien in der Schweiz, vor allem Personen – die meisten waren Arbeitsmigranten –, die in der Hochkonjunktur in die Schweiz geholt wurden.

Fünfzehn Jahre später lebten rund 330 000 Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien in der Schweiz. Diese Migrationswellen sorgten für eine massive Verschärfung der Migrationsdebatte. Doch nicht zuletzt weil sich der Zustrom über einen längeren Zeitraum erstreckte und die Integration ins Erwerbsleben vergleichsweise effizient gelang, konnte sich die Lage wieder beruhigen.

Arbeitsintegration ist Wiederaufbauhilfe – doch auch hier hinkt die Schweiz hinterher

Bei den Schutzsuchenden aus der Ukraine bleibt mangelhafte Integration ins Erwerbsleben einer der zentralen Faktoren für die schwindende Hilfsbereitschaft. Auch nach fast drei Jahren haben erst knapp 30 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer im erwerbsfähigen Alter einen Job. Viele sind nach wie vor in vollem Umfang von der Sozialhilfe abhängig, wobei die Unterschiede zwischen den Kantonen teilweise massiv sind. Auch in anderen Ländern gelingt die Arbeitsintegration teilweise deutlich besser.

Vor allem dort, wo die Sprachprobleme nicht so eklatant ins Gewicht fallen wie in der Schweiz. Das betrifft vor allem die Länder in Osteuropa. In Polen hat die Mehrheit der Geflüchteten Arbeit: Ukrainer integrieren sich schneller in den polnischen Arbeitsmarkt, weil sie wegen der Ähnlichkeit der beiden Sprachen schnell Polnisch lernen.

Auch in Ländern, in denen die Bevölkerung bessere Englischkenntnisse hat, sind die Erwerbstätigenquoten teilweise deutlich höher. In den Niederlanden zum Beispiel betrug die Erwerbstätigenquote schon 2023 über 50 Prozent – zu einem Zeitpunkt, als diese in der Schweiz noch nicht einmal bei der Hälfte dieses Wertes lag. Die Schweiz hat hier einen deutlichen Nachholbedarf. Integration steht nämlich nur scheinbar im Widerspruch zur Rückkehrorientierung des Schutzstatus S: In der Schweiz erworbene berufliche Fähigkeiten stellen einen wichtigen Eckpfeiler für den späteren Wiederaufbau der Ukraine dar.

Führend im Bereich der Minenräumung – aber Japan tut mehr

Und wie sieht es mit der Hilfe vor Ort aus? Die Schweiz liefert zwar kein militärisches Material, engagiert sich aber im humanitären Bereich. Rund die Hälfte der ukrainischen Bevölkerung ist heute auf humanitäre Hilfe angewiesen. Seit Ausbruch des Krieges hat die Schweiz über 1400 Tonnen medizinisches Material, Generatoren, Winterkleider und anderes zur Unterstützung geliefert. Nicht genug, finden Politiker von SP, Mitte und GLP. Im Nationalrat werden am Donnerstag gleich drei Vorstösse diskutiert, die eine Aufstockung der humanitären Hilfe als Zeichen der internationalen Solidarität fordern.

Sehr engagiert ist die Schweiz im Bereich der Minenräumung. Die internationale Minenräumkonferenz wurde im Oktober nicht zufällig in Lausanne durchgeführt. Die Ukraine ist heute eines der am stärksten verminten Länder der Welt. Laut Schätzungen sind 139 000 Quadratkilometer mit Minen und anderen Kampfmitteln belastet. Das entspricht dreieinhalb Mal der Fläche der Schweiz.

Bei der Entminung von zivilen und landwirtschaftlichen Gebieten unterstützt die Schweiz das Land einerseits finanziell (für die Jahre 2024 bis 2027 wurden 100 Millionen Franken genehmigt). Andererseits hat sie bereits eine ferngesteuerte Minenräummaschine sowie drei Minenräumsysteme in die Ukraine geliefert.

Im Frühling will Japan eine Folgekonferenz zu Minenräumungen in der Ukraine veranstalten. Für die Minenräumung hat der asiatische Inselstaat der Ukraine 70 Millionen US-Dollar für Maschinen und Geräte, aber auch für Ausbildung und Aufklärung zugesprochen. Dies, nachdem er im Februar rund 12 Milliarden Dollar gesprochen hatte. Das Land ist damit einer der grössten Unterstützer der Ukraine.

Solidarität bröckelt nicht nur in der Schweiz

Das im Vergleich zu Ländern wie Japan oder Deutschland zurückhaltende finanzielle Engagement der Schweiz für die Ukraine hat international schon mehrfach für Kritik gesorgt. Der deutsche Kanzler Olaf Scholz konnte sich bei einem Berlin-Besuch der Schweizer Bundespräsidentin Viola Amherd im Mai einen entsprechenden Seitenhieb nicht verkneifen.

Doch mittlerweile ist die Solidarität mit den ukrainischen Flüchtlingen auch in anderen Ländern unter Druck geraten. Norwegen hat bereits vor zwei Monaten beschlossen, dass Flüchtlinge aus der Ukraine nicht mehr automatisch einen Schutzstatus erhalten. Auch werden die Hilfeleistungen für Ukrainer, die sich bereits im Land befinden, stark reduziert. In Polen, wo sich nach Ausbruch des Krieges über 90 Prozent für die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge ausgesprochen hatten, sind es heute noch 53 Prozent. Und in Deutschland haben CDU und CSU für den Fall eines Wahlsiegs im Februar bereits angekündigt, die Sozialhilfe für Ukrainerinnen und Ukrainer zu kürzen.

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