Sonntag, Oktober 13

Im Schatten einer Eskalation mit Iran und der Offensive in Libanon will Israel in Nordgaza Fakten schaffen. Hinter den heftigen Angriffen der vergangenen Tage steckt wohl ein Vorschlag einflussreicher Ex-Offiziere.

Die israelische Armee ist in den nördlichen Gazastreifen zurückgekehrt – mit voller Kraft. Am 6. Oktober veröffentlichte sie zum ersten Mal seit Wochen neue Evakuierungsbefehle für den Norden Gazas. In den Tagen darauf wurden diese noch einmal ausgeweitet – das gesamte Gebiet nördlich von Gaza und Teile der Stadt sollen demnach geräumt werden.

Kurz darauf begann die Offensive: Mit einer zusätzlichen Division, unterstützt von Artillerie und Luftwaffe, führt die Armee derzeit heftige Kämpfe in Jabalia. Dort tötete die israelische Armee laut eigenen Angaben Dutzende Terroristen der Hamas und des Palästinensischen Islamischen Jihad. Zudem soll sie 40 Stellungen der Terroristen zerstört haben, darunter eine Abschussrampe, von der am Samstag zwei Raketen auf die südisraelische Stadt Ashkelon abgefeuert worden waren.

Am Freitag fielen drei israelische Reservisten in dem Gebiet. Laut palästinensischen Quellen wurden am Samstag mehr als 20 Personen bei den Angriffen in Jabalia getötet. Diese Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen.

Israelische Sicherheitsexperten gehen davon aus, dass die Armee auf Geheiss der politischen Führung nun teilweise den sogenannten «Plan der Generäle» umsetzt. Bereits im April hatte eine Gruppe ehemaliger hochrangiger israelischer Offiziere unter Führung des früheren Vorsitzenden des Rates für die nationale Sicherheit Giora Eiland einen radikalen Plan veröffentlicht, um die Hamas zu besiegen.

Evakuierungsbefehle und Stopp von Hilfslieferungen

Darin schlagen die Generäle die vollständige Evakuierung der schätzungsweise 300 000 Zivilisten aus der Stadt Gaza und allen Gebieten nördlich davon vor. Danach sollen humanitäre Hilfslieferungen komplett gestoppt werden. Die 5000 Hamas-Terroristen, die laut Giora Eiland im Norden verbleiben, hätten dann die Wahl, zu kapitulieren oder von israelischen Soldaten getötet zu werden. Die anschliessende Besetzung des nördlichen Gazastreifens soll den Druck auf die Hamas so weit erhöhen, dass sie sich auf eine Freilassung der Geiseln einlässt.

Ende September sagte Ministerpräsident Benjamin Netanyahu, der «Plan der Generäle» sei eine der Vorgehensweisen, die er für den Krieg im Gazastreifen erwäge. Noch wurden nicht alle Bewohner des Nordens inklusive der Stadt Gaza dazu aufgefordert, das Gebiet zu verlassen. Dennoch deutet vieles darauf hin, dass die israelische Armee den Plan im äussersten Norden Gazas in die Tat umsetzt. Am Samstag teilte ein israelischer Armeesprecher mit, das Militär werde noch lange energisch gegen Terroristen im nördlichen Gazastreifen vorgehen. Die Konsequenzen für die Bevölkerung sind schon jetzt verheerend.

Katastrophale Bedingungen für die Zivilbevölkerung

Laut der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen erreichen bereits seit dem 1. Oktober keinerlei Hilfslieferungen mehr den Norden des Gazastreifens. Ein palästinensischer Sicherheitsbeamter im Dienst der Organisation sagte in einer Sprachnachricht am 7. Oktober, dass die Evakuierungsbefehle im Norden sehr kurzfristig ausgegeben worden seien. «Wir konnten unsere Habseligkeiten nicht mitnehmen, keine Kleidung, keine Decken, keine Matratzen.» Laut dem Mann gibt es keine sicheren Orte in Gaza. Die Menschen hätten nicht gewusst, wo sie hingehen sollten.

Zwar hat die israelische Armee die sogenannte humanitäre Zone im Süden des Küstenstreifens jüngst erweitert. Dort harren allerdings bereits jetzt über eine Million Menschen unter katastrophalen Bedingungen aus. Laut verschiedenen Medienberichten hat daher ein Grossteil der Bevölkerung den Norden Gazas trotz den Aufforderungen der israelischen Armee nicht verlassen. «Viele von uns ziehen es vor, hier zu sterben, statt fortzugehen», sagt ein Mann aus dem nördlichen Gazastreifen der israelischen Zeitung «Haaretz».

Ein anderer Bewohner von Jabalia sagte dem Fernsehsender CNN, dass die israelische Armee auf Menschen geschossen habe, die in den umkämpften Ort zurückkehren wollten, um ihre Habseligkeiten einzusammeln. Ein Sprecher des israelischen Militärs stand für ein Gespräch nicht zur Verfügung.

Die Leiterin des medizinischen Teams von Ärzte ohne Grenzen im Gazastreifen, Julie Faucon, arbeitet derzeit in einem Spital in Deir al-Balah im Zentrum des Küstengebiets. Sie berichtet von desaströsen sanitären Bedingungen, die jenseits aller Vorstellungskraft lägen. Die Spitäler seien komplett überfüllt, und die Wunden der meisten Patienten könnten nur verspätet behandelt werden, Infektionskrankheiten breiteten sich aus. Derzeit seien Ärzte ohne Grenzen noch in einem Spital der Stadt Gaza aktiv, doch nördlich davon hätten alle Gesundheitseinrichtungen ihren Betrieb eingestellt.

Die Kämpfe im Norden des Gazastreifens haben offenbar massiv zugenommen. Das geht nicht nur aus den Mitteilungen des israelischen Militärs hervor. Laut dem Palästinenserhilfswerk UNRWA ist es zwischen dem 8. und dem 10. Oktober zu 118 Angriffen im nördlichen Gazastreifen gekommen. Im gesamten Monat September habe es im gleichen Gebiet 140 Angriffe gegeben. Diese Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen.

Kann Israels neuer Plan aufgehen?

Die Befürworter des «Plans der Generäle» argumentieren, dass der Hamas-Chef Yahya Sinwar vor allem zwei Dinge fürchte: eine unzufriedene Bevölkerung und einen Verlust von Territorium. Mit neuer Härte im Norden des Gazastreifens könnte er zu Konzessionen bereit sein, glauben sie. Michael Milshtein, ehemaliger Leiter der Palästinenserabteilung im israelischen Militärgeheimdienst, hält das allerdings für Wunschdenken. Seiner Ansicht nach ist der Plan, der derzeit teilweise umgesetzt werde, verfehlt.

«Ich verstehe wirklich nicht, wie dieser Plan zu einer Freilassung der Geiseln oder zu einer Kapitulation der Hamas führen soll», sagt er im Gespräch. Denn vielleicht befänden sich einige der verschleppten Israeli noch in Gaza-Stadt. Sollte die israelische Armee dann vorrücken, würde die Hamas sie voraussichtlich töten, so wie sie bereits Ende August sechs Geiseln ermordet habe, sagt Milshtein.

Zudem glaubt der Hamas-Experte nicht, dass eine Besetzung des nördlichen Gazastreifens den Druck auf Sinwar erhöht. «Seit einem halben Jahr kontrolliert Israel Gebiete im Gazastreifen – den Netzarim- sowie den Philadelphi-Korridor.» Ersterer durchtrennt den Küstenstreifen in der Mitte, letzterer markiert die Grenze zwischen Gaza und Ägypten. «Das hat nicht dazu geführt, dass die Hamas ihre Bedingungen für einen Waffenstillstand verändert hat. Warum sollte es jetzt im Norden Gazas anders sein?»

So wie bereits zu Beginn des Kriegs habe Israel zwei Optionen. Entweder es besetze den gesamten Gazastreifen dauerhaft und töte Yahya Sinwar. «Dann ist allerdings klar, dass wir die Geiseln nicht wiedersehen», sagt Milshtein. Die andere Option: ein Abkommen mit der Hamas, das zwar einen hohen Preis habe, aber die verschleppten Staatsbürger rette.

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