Nach einem verkrampften Start erhält der britische Premierminister viel Lob für seine transatlantische Diplomatie. Unter dem Druck der geopolitischen Ereignisse gelingt es dem spröden Juristen, über seinen Schatten zu springen.
Als Wolodimir Selenski nach dem Eklat mit Donald Trump und seinem Vize J. D. Vance das Weisse Haus verliess, überboten sich europäische Politiker mit Solidaritätsbekundungen. Der britische Premierminister Keir Starmer hingegen sonderte keinen Kommentar auf der Plattform X ab, sondern griff zum Telefonhörer. Er sprach mit Selenski und mit Trump, den er wenige Tage zuvor im Weissen Haus besucht hatte.
Sein Ziel: den Riss zwischen Selenski und Trump kitten und Europa auf dem Weg zu mehr verteidigungspolitischer Verantwortung anführen. Seine Strategie: stille Verhandlungen hinter den Kulissen. Aber auch gezielt inszenierte Diplomatie und grosse Symbolik wie die Umarmung Selenskis bei dessen Ankunft zum Sondergipfel am Sonntag in London.
Paragrafen statt Inszenierung
Offen ist, ob Starmer diese Umarmung geplant hatte oder ob sie einem spontanen Impuls entsprang. Fest steht, dass sie für den spröden Juristen Starmer untypisch ist. Tom Baldwin, der 2024 eine vielbeachtete Biografie Starmers veröffentlichte, bezeichnete den Premierminister vor einigen Monaten im Gespräch noch als «Anti-Politiker». Starmer interessiere sich für Paragrafen, doch sei ihm der performative Aspekt der Politik zuwider. Als ein Umfrageinstitut vor der Unterhauswahl vom letzten Juli Wähler befragte, welche Eigenschaften sie mit Starmer in Verbindung brächten, war «langweilig» das mit Abstand meistgenannte Adjektiv.
Nach seinem Wahlsieg rieb sich Starmer mit innenpolitischen Reformversuchen auf, und seine Umfragewerte sanken in den Keller. Doch in Zeiten dramatischer geopolitischer Umwälzungen scheinen seine Qualitäten als Langweiler plötzlich willkommen zu sein. An der Downing Street Nummer 10 sitzt ein Premierminister, der integer wirkt, Ruhe bewahrt und einem berechenbaren Kompass folgt.
Zudem trifft er auf einmal den richtigen Ton und findet die passenden Gesten: Nach seiner Charmeoffensive im Weissen Haus und seinem Auftritt als Organisator eines Krisengipfels in London sind die britischen Medien und selbst Oppositionspolitiker des Lobes voll. Starmer habe endlich seinen Tritt und womöglich auch seine Aufgabe gefunden, schreibt der ehemalige Tory-Aussenminister William Hague in der «Times».
Familienleben bleibt privat
Eigentlich wirkt der 62-jährige Sir Keir, der 2013 von Königin Elizabeth II. für seine Verdienste als Leiter der Staatsanwaltschaft zum Ritter geschlagen wurde, in der trumpschen Ära aus der Zeit gefallen. Während Trump seine Politik und sein Familienleben wie in einer Reality-TV-Show inszeniert, gibt Starmer wenig über sich preis.
Nur widerwillig spricht er über seine Ehe mit Gattin Victoria und die beiden Kinder im Teenageralter, die nach dem jüdischen Glauben ihrer Mutter aufwachsen. Schlaflose Nächte bereite ihm manchmal die Sorge, dass sein Sohn und seine Tochter keine gewöhnliche Kindheit durchleben könnten, sagte Starmer vor seinem Amtsantritt.
Victoria Starmer gilt als engste Beraterin des Premierministers. In die Negativschlagzeilen geriet die 52-jährige Arbeitsmedizinerin im letzten Sommer wegen privater Designerkleider, die sich die Starmers von einem Labour-Geldgeber hatten finanzieren lassen. Die Bilder von Lady Starmer in Abendroben stachen offenbar auch Trump ins Auge: Jedenfalls lobte er sie beim Treffen mit Starmer als «wunderschöne, grossartige Frau», ohne sie je getroffen zu haben.
Bei öffentlichen Auftritten wirkte Starmer bis anhin oft hölzern und verkrampft. Umso erstaunter nahmen Beobachter zur Kenntnis, wie geschmeidig der Premierminister Trump im Oval Office mit Schmeicheleien und einer Einladung von König Charles III. umgarnte. Seine Entourage hatte ihn minuziös auf den Besuch in Washington vorbereitet. Doch wirkt der Premierminister unter dem Druck der Ereignisse auch gelöster, als habe es einer geopolitischen Krise bedurft, damit er über seinen Schatten springt.
Blick aufs Resultat
Bei seinen diplomatischen Manövern kommt dem Premierminister sein Pragmatismus zugute. Als Sohn einer Krankenschwester und eines Werkzeugmachers wuchs er südlich von London in der Kleinstadt Oxted in der Grafschaft Surrey in einfachen Verhältnissen auf. Der fleissige Schüler schaffte im Alter von elf Jahren die Aufnahmeprüfung einer Grammar School. Durch den Besuch dieser selektiven öffentlichen Schule erhielt er eine Chance zum sozialen Aufstieg.
Die Beziehung zum Vater blieb stets unterkühlt. Die Schicksale seiner Mutter, die unter der Autoimmunerkrankung Morbus Still litt, und des kürzlich verstorbenen Bruders, der mit schweren Lernschwierigkeiten zu kämpfen hatte, begründeten den Einsatz für sozial Schwächere. Doch war Starmers Engagement nie dogmatisch. «Er gehörte keinem ideologischen Labour-Flügel an, was ihm politisch mehr Flexibilität gibt», sagt der Biograf Baldwin.
Nach dem Jurastudium in Leeds und einem Nachdiplomstudium in Oxford arbeitete Starmer zunächst als idealistischer Menschenrechtsanwalt. Vor seinem relativ späten Einstieg in die Politik im Alter von 51 Jahren machte er als Staatsanwalt Karriere und stieg bis zum Leiter der Generalstaatsanwaltschaft auf. Im Wahlkampf betonte er immer wieder, er habe mit harter Hand Terroristen verfolgt und Verbrecher ins Gefängnis gesteckt.
Ein Schlüssel zum Verständnis Starmers ist laut Baldwin die «obsessive» Begeisterung für Fussball. Starmer ist ein eingefleischter Fan des Nordlondoner Klubs Arsenal. Auch nach seiner Wahl zum Premierminister spielt er wenn immer möglich sonntags mit seinen Kumpeln Fussball. Er spielt im zentralen Mittelfeld, wo er die Übersicht behalten muss.
Wie im Fussball spielt Starmer auch in der Politik auf Resultat. Im Wahlkampf trat er defensiv auf und liess die Konservativen auflaufen, indem er ihnen keine Angriffsfläche bot. Nun setzt Starmer, der einst den Brexit vehement bekämpfte, bloss auf eine Mini-Annäherung an die EU, damit die Opposition die Brexit-Debatte nicht neu lancieren kann.
Starmer kann aber auch hart durchgreifen, um sein Team auf Kurs zu bringen. Als Labour-Chef merzte er den Antisemitismus aus, der unter seinem Vorgänger Jeremy Corbyn in der Partei grassiert hatte. Dann marginalisierte er mit ruchlosem Machtinstinkt das altlinke Lager. Schritt für Schritt besetzte er alle Schlüsselpositionen mit Loyalisten und schreckte am Ende nicht davor zurück, seinen einstigen «Freund» Corbyn aus der Partei zu werfen. Er war davon überzeugt, dass die Labour-Partei nur gewinnen kann, wenn sie ins politische Zentrum rückt.
Zuletzt überrumpelte er die Genossen mit einem schmerzhaften Abbau der Entwicklungshilfe, um die Mehrausgaben für die Verteidigung zu finanzieren. Sein Kalkül: Die Kürzungen schmälern zwar die britische Soft Power im Ausland, betreffen aber die Wähler zu Hause nicht direkt. Den Rücktritt seiner Entwicklungsministerin nahm Starmer in Kauf.
«Special relationship» oder «America First»?
Der Effort der letzten Tage hat sich für Starmer bereits in leicht höheren Zustimmungswerten niedergeschlagen. Der von Boris Johnson eingeleitete Kurs der tatkräftigen Unterstützung Selenskis ist in Grossbritannien sehr populär. Gleichzeitig sehen es die Briten gerne, wenn ihr Premierminister auf der Weltbühne mitmischt.
Margaret Thatcher erlebte dank dem Falklandkrieg einst einen Popularitätsschub. Tony Blair hingegen haftet der Makel des Irakkriegs bis heute an. Starmer sprach am Sonntag von der grössten sicherheitspolitischen Herausforderung seit einer Generation. Er versucht, an die britische Rolle als Brückenbauer zwischen Amerika und Europa anzuknüpfen und sein Land in den drohenden Handelskriegen schadlos zu halten.
Doch besteht die Gefahr, dass sich seine «Koalition der Willigen» als Rohrkrepierer entpuppt, dass seine Vermittlungsversuche scheitern und dass die «special relationship» in Zeiten von «America First» nichts mehr gilt. Als Fussballer weiss Starmer, dass am Ende das Resultat entscheidend ist. Bisher hat der neue Hoffnungsträger viel Applaus von den Zuschauerrängen erhalten, aber auf dem Platz noch wenig Zählbares erreicht.