Der neue Premierminister versprach eine Rückkehr zu Pragmatismus und Sachpolitik. Doch sechs Monate nach seiner Wahl leidet seine Labour-Regierung unter katastrophalen Popularitätswerten. Kann Starmer das Steuer herumreissen?
Sechs Monate nach seinem Wahlsieg wirkt Keir Starmer ratlos und einsam. Im Sommer hatte der britische Labour-Premierminister sozialdemokratische und zentristische Alliierte in anderen Ländern noch voller Zuversicht dazu aufgerufen, mit der «Phantasie des Populismus» zu brechen und den Rechtsnationalismus als «Quacksalberei» zu entlarven.
Nun aber steht in den USA Joe Biden in den letzten Tagen seiner Amtszeit und Donald Trump vor der Machtübernahme. In Frankreich ist Emmanuel Macron politisch angeschlagen, und in Deutschland droht dem Sozialdemokraten Olaf Scholz bei der Bundestagswahl eine krachende Niederlage. Und im eigenen Land trägt Starmers Plan, dem Populismus mit Pragmatismus und Sachpolitik den Nährboden zu entziehen, bis anhin kaum Früchte.
Einbruch in den Umfragen
Normalerweise gewähren die Wählerinnen und Wähler neuen Regierungen eine Schonfrist. Doch in den Meinungsumfragen brachen die Werte der Labour-Partei bereits kurz nach der Unterhauswahl ein. Die Regierung spürt nicht nur die konservative Opposition im Nacken, sondern auch die rechtspopulistische Reformpartei von Nigel Farage. Im Dezember äusserten 61 Prozent der Befragten eine negative Meinung zu Starmer, während ihn nur 17 Prozent positiv sahen. Seit Jahrzehnten war kein neu gewählter britischer Premierminister so kurz nach der Amtsübernahme derart unbeliebt wie Starmer.
Warum sind der Labour-Chef und seine Regierung so unpopulär? Und kann es Starmer gelingen, das Steuer herumzureissen?
Starmers Wahlsieg vom 4. Juli wirkte deutlicher, als er war. Die Labour-Partei errang zwar fast zwei Drittel aller Unterhaussitze, aber bloss einen Wähleranteil von 34 Prozent. Labour profitierte vom Majorzwahlrecht, das in jedem Wahlkreis dem Kandidaten mit einer relativen Stimmenmehrheit zum Sieg verhilft. Die Wahl war also kein Vertrauensbeweis für Labour, sondern ein Misstrauensvotum gegenüber den seit vierzehn Jahren regierenden Tories. Die Wut über die Konservativen war so gross, dass sich Starmer im Wahlkampf darauf beschränken konnte, möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten.
Das rächte sich nach der Wahl. Die Labour-Regierung wirkte schlecht vorbereitet. Zwar war Starmers hartes Durchgreifen gegen die fremdenfeindlichen Proteste vom Sommer im Volk populär. Doch peinliche Affären rund um Geschenke für Minister und Streit in seiner Entourage sorgten bereits wenige Wochen nach der Wahl für Negativschlagzeilen.
Belastungen für Rentner, Bauern und Unternehmer
Zudem musste Starmer feststellen, dass man in der Verwaltung die Staatsgeschäfte lieber so weiterführt, wie man es schon immer gemacht hat. «Zu viele Beamte haben es sich bequem eingerichtet im lauwarmen Bad des verwalteten Niedergangs», erklärte Starmer kürzlich – und klang dabei ähnlich frustriert über die Trägheit des Staatsapparats wie seine konservativen Vorgänger Boris Johnson oder Liz Truss.
Auch Kritiker räumen ein, dass Starmer ein schweres Erbe angetreten habe. Die Konservative Partei hat ihm ein Land mit stagnierender Wirtschaft, rekordhohen Staatsschulden und Steuern sowie einer maroden Infrastruktur hinterlassen. Die Bevölkerung hat daher Verständnis dafür, dass nicht über Nacht alles besser werden kann.
Dennoch brachten es Starmer und seine Schatzkanzlerin Rachel Reeves fertig, bei der Präsentation des Staatshaushalts im Herbst gleich mehrere mächtige Wählergruppen gegen sich aufzubringen. Den Rentnern strichen sie staatliche Heizzuschüsse. Die Bauern sollen steuerliche Vorteile bei der Vererbung ihrer Grundstücke verlieren. Und die Arbeitgeber müssen sich mit höheren Lohnabgaben herumschlagen – was keineswegs nur Grosskonzerne trifft, sondern auch Kleinunternehmer, Stiftungen und Nichtregierungsorganisationen.
Für mache dieser Einschnitte gibt es gute Argumente. So ist es kaum Aufgabe der Allgemeinheit, allen Pensionären unabhängig von ihrem Vermögen die Heizkosten zu vergünstigen. Doch kommunizierten Starmer und Reeves ungeschickt. Und sie zogen den Vorwurf der Unredlichkeit auf sich, weil Labour diese Sparmassnahmen und Steuererhöhungen im Wahlkampf verschwiegen oder sogar explizit ausgeschlossen hatte.
«Die Menschen wollen Geschichten hören»
Als ehemaliger Leiter der Staatsanwaltschaft ist Starmer ein fähiger Jurist. Aber es fehlen ihm das Charisma und die Kommunikationsfähigkeit eines Boris Johnson oder eines Tony Blair. Der Premierminister interessiert sich für Inhalte, doch deren Marketing ist ihm zuwider. Man mag diese Sprödheit den grosssprecherischen Slogans der letzten Jahr vorziehen, doch die Herzen erreicht Starmer damit nicht.
«Die Menschen wollen Geschichten hören», sagt etwa der ehemalige Labour-Abgeordnete und Starmer-Vertraute Jonathan Ashworth, der heute die linke Denkfabrik Labour Together leitet. In den westlichen Demokratien sinke das Vertrauen in die Fähigkeit von Politikern, Versprechen umzusetzen, so Ashworth. Das Misstrauen äussere sich in der Volatilität der Wählerschaft und im Einbruch Labours in den Meinungsumfragen. «Die Wähler wollen, dass ein Politiker ein klares Bild davon zeichnet, wo er das Land hinführen will.»
Kurz vor Weihnachten hielt Starmer eine Rede in den berühmten Pinewood-Studios westlich von London, wo viele James-Bond-Filme gedreht wurden. Den Gästen liess der Premierminister glänzende Werbebroschüren verteilen. Hinter ihm auf der Bühne prangte der Slogan «Plan für den Wandel» mit konkreten Zielen, an denen man seinen Erfolg bis zum Ende der Legislatur messen solle.
Die Bürger sollen mehr Geld in der Tasche haben. Die Wartezeiten im maroden Gesundheitswesen sollen kürzer werden. Zudem will Starmer massiv mehr Häuser bauen, Polizisten auf die Strasse schicken und erneuerbare Energien erschliessen.
Etatistische Instinkte
Starmers grosser Vorteil ist, dass er den Faktor Zeit auf seiner Seite hat. Neuwahlen kann er bis 2029 hinauszögern, und dank seiner riesigen Parlamentsmehrheit sitzt er fest im Sattel. Er setzt darauf, dass er mittelfristig Verbesserungen wird vorweisen können, die für die Wähler sichtbar und spürbar sind. Stellt sich der Erfolg ein, wird der verkorkste Start seiner Amtszeit bald vergessen sein.
Doch versprechen Starmers Rezepte auch Erfolg? Die Reform des Planungswesens wäre ein Meilenstein für ein Land, in dem wegen des Dickichts von Vorschriften kaum noch grosse Infrastrukturprojekte realisiert werden können. Insgesamt aber drohen Starmer seine etatistischen Instinkte zum Verhängnis zu werden. Die Erhöhung des Mindestlohns und zahlreiche Steuererhöhungen belasten die Unternehmen, die für das Wirtschaftswachstum sorgen müssten, das die Regierung für die Finanzierung ihrer Reformen dringend braucht. Die Bank of England hat jüngst im Lichte des Labour-Haushalts ihre Wachstumsprognosen nach unten korrigiert.
Für Starmer steht viel auf dem Spiel. Gelingt es dem selbsterklärten Antipopulisten nicht, die Lebensumstände der Wählerschaft spürbar zu verbessern, hätte sich nach den Konservativen auch Labour als Regierungspartei diskreditiert. In London mutmassen immer mehr Beobachter, dass in diesem Fall die rechtspopulistische Reformpartei bei der nächsten Unterhauswahl trotz den hohen Hürden des Mehrheitswahlrechts zur grossen Nutzniesserin avancieren könnte.