Mittwoch, März 12

Der Schriftsteller Michael Köhlmeier schildert Episoden aus dem Eheleben seiner Eltern, die das Schicksal zusammengeführt und fast wieder getrennt hätte.

Ich möchte von meiner Mutter erzählen und ihrer besten Freundin Marianne. Die beiden hatten sich kennengelernt, da war meine Mutter schon Mitte zwanzig, Marianne vier Jahre jünger. Marianne besuchte die Schwesternschule in Coburg, sie stammte aus Nürnberg, bei einer Versammlung katholischer Jugendlicher begegneten sie einander. Sie sahen einander ähnlich. Meine Mutter erzählte, das Erste, was sie zueinander sagten, gleichzeitig, war: «Du siehst ja aus wie ich!»

Wenn es das Geld erlaubte, zogen sie sich gleich an, vor Fremden machten sie sich die Gaudi und gaben sich als Zwillinge aus. Sie hatten beide keinen Freund, und beide waren sie wählerisch. Sie wollten einen Katholischen. Grundbedingung. Coburg war eine protestantische Stadt, die Katholiken lebten, wie meine Mutter es nannte, in der Diaspora.

Marianne und sie waren sportlich, gern fuhren sie mit ihren Fahrrädern aus der Stadt hinaus über die Felder, und manchmal fuhren sie bis Vierzehnheiligen, zu dieser beeindruckenden barocken Kirche, die bewies, dass die Katholiken recht hatten, dort beteten sie. Sie beteten, dass sie einen guten Mann bekommen, Marianne und Paula. Einen hilfsbereiten, respektvollen, der sie annehmen konnte, wie sie waren, nämlich selbstbewusst und in keiner Weise unterwürfig und lustig, manchmal albern, Marianne manchmal streng.

Paula stellte Marianne ihren Cousin Karl vor, sie meinte, der würde gut zu ihrer Freundin passen. Weil er ihr Gegenteil war. Marianne war eine Frau mit einem ausgeprägten Beschützerinstinkt, und Karl war ein Ruhiger, ein Insichgekehrter, nicht schwach in sich selbst, aber nach draussen, weltfremd, verträumt, des Schutzes bedürftig. Ein Dichter. Einer, der Rilke zitieren konnte und Heinrich Heine und Friedrich Hölderlin. Er schrieb Gedichte in freien Rhythmen. Über die Natur schrieb er und über das Alleinsein.

Paula sagte zu Marianne: «Ich denke, der ist etwas für dich. Sei sorgsam!» Marianne verliebte sich. Und Karl verliebte sich. «Du bist unser guter Geist», sagte Marianne zu Paula. «Ich bin eure Kupplerin», lachte Paula.

Zwei Soldaten auf Heimaturlaub

Dann brach der Krieg aus. Karl wurde eingezogen. Wieder fuhren meine Mutter und ihre Freundin nach Vierzehnheiligen. Nun beteten sie, dass Karl gesund aus dem elenden Krieg zurückkomme, gesund an Leib und Seele und Geist. Und dafür, dass auch Paula einen guten Mann finde. Einige, die infrage gekommen wären, waren schon in den ersten Wochen weggeschossen worden. Aber was heisst «infrage kommen»? Das wäre zu wenig, viel zu wenig. Paula fand einen guten Mann.

Eines Tages, es war Sommer, schoben die beiden Frauen ihre Fahrräder durch den Hofgarten hinauf zur Veste. Sie wollten wieder einmal von ganz oben, ohne auch nur einmal zu treten, bis hinunter in die Stadt fahren, bis zum Marktplatz vor das Denkmal von Prinz Albert von Sachsen-Coburg und Gotha. Und wie sie so gingen und ihre Fahrräder schoben und schwitzten, kamen ihnen zwei Soldaten entgegen, die waren auf der Veste gewesen.

Den einen kannte Paula, ein Katholik, er war in ihrem Alter und ein bisschen hübsch. Der andere stellte sich vor, er heisse Alois, komme aus Österreich, aus Vorarlberg, alle nennen ihn Wise, sagte er, weil in seinem Dialekt der Alois als «Alawis» ausgesprochen werde. Ein Schlanker. Einer mit einem hohen schmalen Kopf.

Die beiden Soldaten hatten Heimaturlaub, für den Wise aber wäre es zu weit gewesen bis hinunter zum Bodensee in das Dorf Hard, wo seine Mutter und seine Geschwister lebten. Bauern. Da hatte der Coburger gesagt, komm doch mit zu mir, meine Eltern freuen sich, meinen Kameraden kennenzulernen. «Und nun», sagte er, «habe ich ihm unsere Veste gezeigt.»

Der Wise sagte: «Dürfen wir Ihnen behilflich sein und die Fahrräder schieben?» Marianne sagte: «Aber ihr kommt doch gerade von oben.» – «Dann gehen wir halt noch einmal hinauf», sagte Wise.

Oft haben unsere Eltern mir und meiner Schwester von ihrem ersten Treffen erzählt. Es sei so und nicht anders gewesen, wie sie in Vierzehnheiligen darum gebeten habe, sagte unsere Mutter. «Ja, ja», sagte unser Vater und lächelte in sich hinein und grinste aus sich heraus.

Paula und Wise tauschten die Adressen aus. Dann musste er wieder in den Krieg. Wenige Wochen später gab es den Kameraden nicht mehr.

Sie schrieben einander Briefe, jeden Tag schrieben sie. Sie hundert, er achtzig. Sie verlobten sich schriftlich. Noch zweimal besuchte er Coburg, beim dritten Mal heirateten sie. Da hatten sie einander zusammengezählt keine zwölf Stunden gesehen.

Das Verstummen am Ende des Krieges

Ich sage es gleich: Die Ehe war gut. Ich habe meine Eltern als respektvoll, liebevoll und ironisch im gegenseitigen Umgang erlebt. Letztgenanntes ging auf das Konto unserer Mutter. Beide waren sie begeisterte Leser und begeisterte Auswendiglerner. Unsere Mutter zitierte aus dem «Faust», unser Vater aus Wilhelm Busch, «Plisch und Plum» konnte er frei und vollständig heruntersagen.

«Zugereist in diese Gegend, / Noch viel mehr als sehr vermögend, / In der Hand das Perspektiv, / Kam ein Mister namens Pief. / ‹Warum soll ich nicht beim Gehen› – / Sprach er – ‹in die Ferne sehen? / Schön ist es auch anderswo, / Und hier bin ich sowieso.›»

Es gibt ein Foto, da stehen sie vor der Kirche St. Augustin, sie in Weiss, er in Uniform. Viele Jahre später haben meine Frau Monika und ich das Foto nachgestellt.

Zwei Tage nur durfte Wise von der Front wegbleiben, um zu heiraten, dann musste er zurück.

Der Krieg kam an sein Ende, und Paula hört nichts mehr von ihm. Ihre Brüder waren im Krieg, der ältere in Afrika. Der jüngste, erst fünfzehn, kehrte nach wenigen Wochen zurück, die Amerikaner hatten ihn heimgeschickt, die Brille war ihm zerbrochen, das war alles. Der Krieg meines charmanten Onkels Gerhard. Auch mein Onkel Hans kehrte zurück, in der amerikanischen Gefangenschaft in Afrika habe er gelernt, dass sich der Mensch zwei- bis dreimal am Tag duschen kann, ohne Schaden zu erleiden, erzählte er, eine Seife, so gross wie ein Stück Butter für jeden pro Tag. Sonst erzählte er wenig vom Krieg.

Vom Wise aber war gar nichts zu erfahren. Auch nicht vom Karl. Von ihm hatte Marianne lange nichts gehört. Auch sie hatten einander Briefe geschrieben. Dann stand eines Tages ein Mann vor dem Haus in Coburg, in dem Paula und ihre Mutter und ihre Tante wohnten, wo auch der Karl wohnte, und der Mann hatte traurigen Bericht: Der Karl war tot. Gestorben in britischer Gefangenschaft in einem der Lager entlang des Rheins zwischen Büderich und Mainz. An Typhus. Die Meldung kam, als der Krieg gerade eine Woche zu Ende war.

Und am nächsten Tag stand Marianne vor der Tür. Im schwarzen Kleid. Sehr ernst war sie. Sie wollte gar nicht hereinkommen. Draussen auf der Strasse redete sie mit Paula. Ob sie mit ihr nach Nürnberg fahre. Sie habe gehört, Nürnberg sei völlig zerstört. Sie wolle ihre Eltern und ihre Geschwister suchen. Von Karl sprach sie nicht. Sie habe eine Möglichkeit, in einem Lastwagen nach Nürnberg zu fahren. Sie fürchte sich allein. Ob Paula mit ihr komme.

Kein Wort über Karl.

Im zerstörten Nürnberg

Paula dachte bei sich, ich will nicht damit anfangen. Sie kann noch nicht darüber sprechen. Alles ist zerstört. Alles. Ich will warten, bis sie damit anfängt.

Paula packte ein paar Sachen zusammen, und sie fuhren in dem Lastwagen, zusammen mit einem Dutzend Menschen, nach Nürnberg. Während der Fahrt wurde kein Wort gesprochen.

Nürnberg war zerstört. Die Burg gab es nicht mehr. Die Stadt gab es nicht mehr. Die Bürger nannten ihre Stadt: Adolf-Hitler-Gebirge. Marianne fand die Strasse nicht, in der sie aufgewachsen war, in der sie gewohnt hatte bis zu ihrem zwanzigsten Lebensjahr. Von ihren Eltern und ihren Geschwistern hatte sie nichts mehr gehört, schon lange nicht. Sie musste glauben, sie haben die Bomben nicht überlebt. Wie soll jemand diese Zerstörung überleben können.

In der Nacht fanden die beiden Frauen einen Unterschlupf. Eng schmiegten sie sich aneinander. Da sagte Marianne: «Das alles könnte ich nicht ertragen, wenn ich nicht wüsste, dass ich bald meinen Karl sehe.»

Da erschrak Paula sehr. Sie dachte nämlich, Marianne will sich das Leben nehmen, nur das dachte sie. Marianne glaubte an ein Leben nach dem Tod, und dort, so dachte Paula, dort wird sie Karl wiedersehen.

«Marianne», sagte sie, «das darfst du nicht!» – «Was darf ich nicht?» – «Der Mensch darf sich das Leben nicht nehmen!» – «Was redest du, Paula! Ich will mir doch nicht das Leben nehmen! Ich will ein Leben zusammen mit Karl, dass wir heiraten, dass wir Kinder kriegen.»

Sie weiss es nicht, dachte Paula. Um Gottes willen, sie weiss es nicht! Das schwarze Kleid – weil sie vielleicht kein anderes mehr hat.

Sie konnte es ihr nicht sagen, nicht in dieser Nacht, als sie glaubte, Mariannes Familie gebe es nicht mehr. Wie viel Not kann ein Mensch ertragen.

Sie erfuhren, dass Mariannes Eltern und ihre Brüder rechtzeitig Nürnberg verlassen konnten.

Die Suche nach dem Mann

Nicht Paula sagte ihr, dass Karl nicht mehr lebte, Karls Mutter sagte es ihr. Marianne studierte Medizin, sie trat in ein Kloster ein, in die Gemeinschaft der Augustinusschwestern. Als Ärztin fuhr sie nach Westafrika, arbeitete in einer Leprastation, kehrte nach Jahren nach Deutschland zurück, wurde Oberin ihres Ordens. Oft besuchte sie uns. Es war immer ein grosses Lachen. Meine Schwester und ich sagten Tante Marianne zu ihr. Sie war unsere Wahltante, wir mochten sie sehr gern.

Und Paula? Bald nach Ende des Krieges zog sie nach München. Sie arbeitete in einem Heim, in dem Kinder untergebracht waren, die ihre Eltern im Krieg verloren hatten. Von ihrem Mann hörte sie nichts. Sie dachte, wenn es Gott will, finde ich ihn, wenn nicht, nicht.

Sie machte sich auf den Weg, ging zu Fuss von München zum Bodensee. Viel wusste sie nicht über ihn. Dass er aus dem Dorf Hard stammte. Aus einer katholischen Bauernfamilie. Hard lag direkt am See. Schön musste es dort sein. Sie nahm ihren Rucksack, den sie getragen hatte, als sie zusammen mit Marianne nach Vierzehnheiligen gefahren war.

In dem Rucksack war nur wenig, der «Faust», der war schon arg mitgenommen. Es war für Deutsche verboten, nach Österreich zu kommen, und umgekehrt. Sie schlich über die Grenze. Wenn ich ihn nicht finde, dachte sie, gehe ich weiter, gehe über die Berge nach Italien bis Rom, dort will ich den Heiligen Vater sehen und Gott danken, dass ich den Krieg überlebt habe.

Und dann stand sie in Hard auf dem Dorfplatz. Und wartete. Und war voll Zuversicht. Ein Bub kam daher, der trieb ein paar Kühe zum Brunnen. «Kennst den Wise?», fragte sie ihn. «Welchen?», fragte er zurück. «Den Köhlmeier Wise.» – «Ja.» – «Ist er da?» – «Ja.» – «Geht es ihm gut?» – «Ja.» – «Ist er verheiratet?» – «Weiss nicht.» – «Hat er eine Frau?» – «Weiss nicht.»

Da sah sie ihn. Am Schritt erkannte sie ihn. Barfuss war er, die Hosenbeine hatte er hochgekrempelt, ein weisses Hemd hatte er an, auch die Ärmel hochgekrempelt. Kam daher, die Hände in den Taschen, der schlanke Mann mit dem hohen Kopf.

«Kennst du mich noch? Ich bin deine Frau.» So begann ihr Zusammenleben.

Sie weinte wie keine sonst

Paula und Wise zogen nach Innsbruck, er hatte dort eine Stelle in Aussicht. Meine Schwester kam zur Welt, dann zogen sie wieder zurück nach Vorarlberg, ich kam zur Welt. Und dann war Paula ein drittes Mal schwanger. Bei der Geburt dieses Kindes, ein Knabe, schlug der Blitz in sie ein.

In ihrem Kopf platzte eine Ader. Unsere Mutter war linksseitig gelähmt. Sie erholte sich nicht wieder. Das Kind starb wenige Stunden nach der Geburt.

Von nun an konnte sie nur noch mit einem Stützapparat gehen, später sass sie im Rollstuhl. Ihre linke Hand war verkrampft. Sie war eine, die weinte, wie ich nie jemanden kennengelernt habe, der so weinen konnte. Sie war eine, die konnte lachen, dass man es drei Häuser weiter gehört hat, und wer es hörte, der konnte nicht anders, als mitzulachen. Nichts lieber hatte sie getan, als mit dem Fahrrad zu fahren oder zu wandern. Nun blieb ihr nur, davon zu erzählen.

Sie war eine gläubige Frau, voll Vertrauen auf Gott, die Muttergottes, Jesus und alle Heiligen. Dass sie mit dem Sog, den Jesus in seiner Himmelfahrt geschaffen hatte, hinaufgezogen würde in die jenseitige Glückseligkeit, daran hatte sie nie einen Zweifel. Einmal wäre sie gern mit dem Flugzeug geflogen. Ich fuhr mit ihr nach Frankfurt, in meinem alten VW, da verbrachten wir einen ganzen Tag am Flughafen.

Wir fuhren mit der Rolltreppe hinauf und hinunter, und wir lachten über das Wortspiel «Rollstuhl auf Rolltreppe». Wir besuchten den Zoo, ein Gewitter brach los, wir flüchteten in das Giraffenhaus. Dort waren wir allein. Die grossen Tiere beugten sich zu uns nieder und schauten uns mit ihren grossen Augen an. Da weinte meine Mutter, und ich weinte mit ihr. Das tat uns gut.

Der Schriftsteller Michael Köhlmeier lebt in Hard. Auf Einladung der Bach-Stiftung hat er den vorliegenden Text am 26. April in der Kirche Trogen zur Aufführung von Johann Sebastian Bachs Kantate «Auf Christi Himmelfahrt allein» vorgetragen.

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