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Das kenyanische Gesundheitswesen ist stark unterentwickelt. Die Lücken füllen seit Jahren freiwillige Mitarbeiterinnen. Die Last auf deren Schultern ist enorm. Dem Staat kam das lange sehr zupass.
Mit einem Baby im Arm hört das junge Ehepaar der Besucherin aufmerksam zu. Die Eltern sitzen auf einem Sofa, oft nickend, während die drei Monate alte Joy schläft. Das Wellblechdach ihrer Hütte knarrt in der Hitze. In der lokalen Sprache Luo spricht die Besucherin über Gesundheit: über das Stillen, die Familienplanung, das Impfen. Ob Joy eine Geburtsurkunde hat? Die Eltern nicken. Gibt es Spielsachen im Haus? Ein paar, ja. Schläft das Baby unter einem Moskitonetz? Wieder ein Nicken.
Die Besucherin, Millicent Miruka, ist eine 45-jährige ehrenamtliche Gesundheitshelferin. Ihre Aufgabe besteht darin, Familien in der Region des Dorfes Lwala im Westen Kenyas eine medizinische Grundversorgung zu bieten. Miruka testet auf Krankheiten wie Malaria, klärt über Ernährung auf und überweist Patienten in die Klinik. «Ich bin das Bindeglied zwischen der Bevölkerung und der Gesundheitseinrichtung», sagt Miruka.
In einem Land wie Kenya, in dem die staatliche Gesundheitsversorgung nicht ausreichend finanziert wird und ausserdem überlastet ist, sind diese mehr als 100 000 Freiwilligen sehr oft überlebenswichtig. In Kenya kommt laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein Arzt auf 10 000 Einwohner, in der Schweiz sind es 44,4 Ärzte. Häufig befindet sich die nächste Klinik kilometerweit entfernt, für Kranke zu weit weg, um zu laufen, und oft zu teuer, um ein Motorradtaxi zu nehmen.
Vom staatlichen Gesundheitssystem vergessen
Miruka selbst litt unter solch prekären Bedingungen. Als sie eine junge Frau war, erkrankte ihre Tochter schwer. «In der Gemeinde sagten alle, mein Kind sei verflucht», erinnert sie sich. Sie gab ihr Kräuter, doch das Mädchen starb. Erst später erfuhr sie, dass es mangelernährt war. Das inspirierte sie, freiwillige Gesundheitshelferin zu werden. «Ich möchte nicht, dass mein Umfeld so leidet, wie ich das tat», sagt die Mutter von fünf Kindern und drei Enkeln.
Mirukas Zuhause in der Region Migori war damals, wie die meisten ländlichen Gebiete Kenyas, völlig unterversorgt, was das nationale Gesundheitssystem betraf. In dieses Vakuum trat die Organisation Lwala. Sie wurde von zwei Brüdern aus dem Dorf Lwala gegründet, die dank Stipendien in den USA Medizin studieren konnten. Während ihres Studiums starben beide Eltern an Aids. Die Brüder kehrten in ihr Dorf zurück, um die erste Klinik der Region zu eröffnen und ein Netzwerk von freiwilligen Gesundheitshelferinnen und -helfern aufzubauen. Diesem schloss sich Miruka vor zwölf Jahren an.
Wie in der Region Migori wurden damals im ganzen Land sogenannte Community Health Systems aufgebaut, grösstenteils durch gemeinnützige Organisationen. Ihre Arbeit wurde durch Spenden oder Fördergelder finanziert, etwa aus dem Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria mit Sitz in Genf. Er wurde 2002 unter anderem von der Bill-&-Melinda-Gates-Stiftung ins Leben gerufen. Der Globale Fonds setzt nach eigenen Angaben zwischen 2017 und 2027 in Kenya rund 200 Millionen Dollar für die Gesundheit bestimmter Gruppen (Community Health) ein.
Dreimal pro Woche legt Miruka mehrere Kilometer zu Fuss zurück, um ihre «Klienten», wie sie sie nennt, zu besuchen. Sie läuft durch Felder, an Lehmhäusern und Reihen von Eukalyptusbäumen vorbei, über unbefestigte Strassen, die in der Regenzeit zu Schlammbächen werden. «Jedes Kind verdient einen 5. Geburtstag», steht auf ihrem T-Shirt.
Die Arbeit ist anstrengend, aber Miruka ist stolz darauf. Denn seit sie damit begonnen hat, «hat sich viel verändert», sagt die Kenyanerin. Dies bezeugen etliche Studien. Zum Beispiel gehen Frauen, die von Ehrenamtlichen betreut wurden, viel eher für eine Geburt in eine Klinik als solche, die nicht betreut wurden: In Eburru im Zentrum Kenyas waren es gemäss einer Erhebung 46 Prozent gegenüber 19 Prozent.
2018 entwickelte die WHO globale Richtlinien für das Einsetzen von freiwilligen Gesundheitsmitarbeitern. Bei Gesundheitskrisen wie etwa der Corona-Pandemie und derzeit bei der Ausbreitung von Mpox sind es diese Freiwilligen, die trotz grossem persönlichem Risiko an vorderster Front stehen.
Doch das System ist noch lange nicht perfekt. «Warum sind die Freiwilligen so effektiv? Weil sie die Arbeit von fehlendem medizinischem Personal machen», kritisiert Kathy Dodworth von der Universität von Edinburg, die lange in Kenya geforscht hat. Die Last auf den Schultern der Freiwilligen sei enorm. «Die staatlichen Investitionen in die freiwilligen Gesundheitshelfer sind viel schneller gestiegen als jene in das Gesundheitssystem. Dies darum, weil die Gesundheitshelfer als kostengünstige Methode angesehen werden», sagt Catherine Kyobutungi, die Leiterin des African Population and Health Research Center in Nairobi.
Bis vor kurzem bekamen die Freiwilligen – meist von Nichtregierungsorganisationen bezahlt – nur eine kleine Aufwandentschädigung von 15 bis 30 Franken im Monat. Kyobutungi kritisiert die Bezahlung als «ausbeuterisch». Darunter leiden vor allem Frauen, denn sie machen rund 70 Prozent der Freiwilligen aus.
Regierung wertet Ehrenamtliche auf
Vergangenes Jahr aber hat die kenyanische Regierung ein deutliches Zeichen gesetzt. Mit einer neuen Gesetzgebung hat sie die Ehrenamtlichen ein Stück weit professionalisiert. Sie hat 103 000 Freiwillige registriert und sie mit Smartphones sowie medizinischer Grundausrüstung ausgestattet. Neu wird sie die Freiwilligen bezahlen, rund 30 Franken pro Monat sollen sie bekommen.
Vor allem schafft das neue Gesetz einen landesweiten Ausgleich. Bisher haben internationale Fördergelder bestimmt, wo und wofür die Freiwilligen ausgebildet werden. So bestand zum Beispiel in Gebieten mit der höchsten Malariabelastung auch die grösste Kapazitätsentwicklung für Ehrenamtliche, wie Aloise Gikunda erklärt, der Leiter von Community Health bei der medizinischen Organisation Amref. Mit der neuen Gesetzgebung und einem einheitlichen Lehrplan werden nun alle Freiwilligen auf den gleichen Wissensstand gebracht. Amref führt die Schulungen für die Regierung durch. «Wir schaffen nun gleiche Ausgangsbedingungen», sagt Gikunda.
Freiwillige wie Millicent Miruka sehen diese Veränderungen als Zeichen dafür, dass ihre Arbeit ernster genommen wird. Aber nicht ernst genug. «Mein Traum war es immer, Krankenschwester zu werden», sagt sie. Heute würde sie sich gerne weiterbilden und andere Freiwillige führen. Doch in dem bestehenden System hat sie keine Karriereaussichten, sie kann keinen medizinischen Beruf und keine Festanstellung beim Gesundheitsministerium ergattern. «Man will nicht für immer Gesundheitshelferin bleiben, ich möchte aufsteigen. Wenn das möglich wäre, würde uns das weiter motivieren.»
Deswegen engagiert sich Miruka mithilfe der Organisation Lwala als Fürsprecherin für erweiterte Rechte der Freiwilligen. Sie tritt an Konferenzen auf, berichtet von den Erfolgen ihrer Arbeit und fordert bessere Bedingungen. «Wir wollen wie andere Gesundheitsarbeiter anerkannt werden.»
Die Recherche wurde vom European Journalism Centre im Rahmen des Solutions Journalism Accelerator unterstützt. Das Programm wird von der Bill-&-Melinda-Gates-Stiftung finanziert.