Dienstag, Oktober 8

Fluktuierende Energiequellen bringen das Stromnetz an seine Grenzen. Um den Strommix zu ergänzen und das Netz zu stabilisieren, kann man Kernenergie nutzen. Damit das funktioniert, sind allerdings einige Punkte zu beachten.

Sie könnten unterschiedlicher kaum sein: Solaranlagen und Windkraftanlagen sind über das Land verteilt; sie generieren Strom, wenn gerade die Sonne scheint oder der Wind weht. Kernkraftwerke hingegen liefern permanent Strom, pro Anlage ist das Stromangebot wesentlich grösser als bei den beiden Quellen erneuerbarer Energien.

In der Schweiz, Deutschland und vielen anderen Ländern werden Solar- und Windkraftanlagen derzeit ausgebaut, um weniger Kohlendioxid auszustossen. Das bringt aber auch Herausforderungen mit sich. Das schwankende Stromangebot muss in das Stromnetz eingespeist werden, ohne Probleme zu verursachen. Und es muss mit dem Betrieb von permanent laufenden Kraftwerken vereinbart werden.

Kernkraftwerke sind eine konstante Energiequelle und ausserdem CO2-arm. Doch nicht überall wird die Kernenergie von der Bevölkerung akzeptiert. Deutschland ist ausgestiegen, während die Schweiz sie weiterhin nutzt. Man will sie hier zwar auslaufen lassen, doch über diesen Entscheid wird derzeit neu diskutiert. Österreich hat nie ein Kernkraftwerk betrieben, andere europäische Länder sind der Kernenergie treu geblieben, manche bauen sie aus, manche wollen ganz neu in sie einsteigen.

Unabhängig davon, wie man nun zu der Energiequelle steht: In der Schweiz wie auch auf europäischer Ebene stellt sich die Frage, ob die fluktuierenden erneuerbaren Energiequellen Wind und Sonne mit der Kernenergie vereinbar sind – und wie das funktioniert. Fachleute sehen zwar Schwierigkeiten, aber auch Lösungen, die noch nicht alle realisiert sind. Die Integration der beiden Energiequellen scheint mit Gewinn möglich zu sein, sofern man eine Reihe von Punkten beachtet.

Einspeisung und Nachfrage müssen ausgeglichen sein

Grundsätzlich ist eine fluktuierende Stromerzeugung eine Herausforderung für das Stromnetz. Um eine stabile Netzfrequenz von 50 Hertz zu gewährleisten, müssen Angebot und Nachfrage immer im Gleichgewicht sein. Die schwankende Stromproduktion durch Wind und Sonne muss also ausgeglichen werden, um die Energiequellen in das Stromnetz zu integrieren.

Für diesen Ausgleich kommen zum Beispiel Wasserkraft- oder Gaskraftwerke infrage, aber auch Kernkraftwerke. Die Anlagen Gösgen und Leibstadt in der Schweiz seien im Prinzip darauf ausgelegt, dass man sie im sogenannten Lastfolgebetrieb fahren könne, sagt der Physiker Andreas Pautz vom Paul-Scherrer-Institut (PSI). Er leitet dort das Zentrum für Nukleartechnologien und -wissenschaften.

Lastfolge bedeutet, dass die Einspeisung des Kraftwerks ins Stromnetz dem Strombedarf folgt. Es sei technisch möglich, sagt Pautz, die Leistung von Kernkraftwerken innerhalb von einer Minute um wenige Prozent zu senken oder zu steigern.

Allerdings ist es für Kernkraftwerke nicht gerade günstig, wenn sie ihre Auslastung temporär senken müssen, nur weil plötzlich sehr viel Solar- oder Windstrom ins Netz fliesst. Das verringert die Wirtschaftlichkeit der Kernkraftwerke, und der Verschleiss der Anlagen nimmt zu. Ideal wäre es, wenn sie 95 Prozent der Zeit unter Volllast betrieben werden könnten, sagt der Ingenieur Russell McKenna, ebenfalls vom PSI – dort leitet er das Labor für Energiesystemanalyse.

Ein hoher Anteil fluktuierenden Stroms verteuert den Preis

Konstant gelieferter Strom für den Grundbedarf wird als Bandenergie bezeichnet. Eine Reihe von Energiesystemanalysen zeige, dass ein extrem hoher Anteil an fluktuierenden erneuerbaren Energiequellen die Systemkosten enorm anhebe, sagt Pautz. «Dann muss man viel bei der Speicherung und beim Netzausbau machen.» Höhere Systemkosten bedeuten auch einen höheren Strompreis.

Der PSI-Wissenschafter vermutet, dass es ein Optimum für die Anteile an Bandenergie und an fluktuierenden erneuerbaren Energiequellen gibt. Seiner Ansicht nach ist ein Anteil von 20 bis 25 Prozent an Bandenergieerzeugung vernünftig. Der Institutskollege McKenna sieht das genauso. Aus Kostensicht sei es nicht unbedingt optimal, auf 100 Prozent erneuerbare Energiequellen zu setzen.

Wie sieht die internationale Perspektive aus?

Nicht nur in der Schweiz und Deutschland wird darüber gestritten, wie gut sich verschiedene Energiequellen vereinbaren lassen, sondern auch in vielen anderen europäischen Ländern. In Schweden zum Beispiel gebe es geradezu einen Kulturkampf zwischen Befürwortern der Windenergie und Befürwortern der Kernenergie, sagt Filip Johnsson, Professor für Energiesysteme an der Chalmers University of Technology in Göteborg, Schweden.

Derzeit verfügt Schweden für seine Stromversorgung über sechs Kernreaktoren, ausserdem eine Menge Wasserkraft, einige wenige fossile Energiequellen, Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen in Fernwärmesystemen und eine wachsende Zahl an Windkraftanlagen.

Es gebe Pläne, den Bestand an Kernkraftwerken auszubauen, sagt Johnsson. Doch was die Umsetzung angeht, ist er skeptisch. Die Kernenergie sei kostspielig und mit langen Vorlaufzeiten verbunden. Die drei anderen europäischen Kernkraftwerkprojekte – in Grossbritannien, Frankreich und Finnland – hätten sich alle verzögert, und sie seien mit hohen Kostenüberschreitungen verbunden. Europa und Nordamerika seien es nicht mehr gewohnt, so komplexe Projekte wie den Bau eines Kernkraftwerks zu stemmen.

Es komme hinzu, so Johnsson, dass in Schweden wie auch in anderen europäischen Ländern inzwischen das Fachpersonal fehle, das man für den Bau eines Kernkraftwerkes brauche: «Viele Fachleute sind gestorben oder in Rente.»

Lehren aus den schwedischen Erfahrungen

Die grösste Herausforderung bei der Aufgabe, verschiedene Energiequellen miteinander in Einklang zu bringen, seien jedoch nicht technische Hindernisse, sondern solche wie Ideologie, soziale Akzeptanz und finanzielle Risiken, sagt Johnsson.

Für den Zuwachs an erneuerbaren Energiequellen sei es jedenfalls nötig, das Stromnetz in bestimmten Gebieten auszubauen, sagt McKenna vom PSI. Darüber hinaus könnten spezielle Überwachungstechnologien helfen, bestehende Trassen maximal auszulasten, ohne eine Überlastung der Leitungen zu riskieren.

Ausserdem braucht es Speicher, und zwar nicht nur solche für einige wenige Stunden. Sondern auch saisonale Speicher, die den Überschuss aus dem Sommer in den Winter retten. Beispielsweise könnten sogenannte Power-to-X-Technologien zum Einsatz kommen, die Strom in einen anderen Energieträger umwandeln, Wasserstoff zum Beispiel. Dieses Prinzip ist theoretisch für die Deckung der «Winterlücke» durch Stromerzeugung in Brennstoffzellen geeignet, leidet aber unter niedriger Effizienz und sehr hohen Kosten.

Falls der Stromüberschuss nur in Wärme umgewandelt werden solle, seien Wärmepumpen in Verbindung mit saisonalen thermischen Energiespeichern eine gute Technikkombination, sagt McKenna. Sie habe sich beispielsweise in Deutschland und Dänemark bereits bewährt.

Grundsätzlich denkbar ist es auch, dass die Nachfrage der Industrie nach Strom flexibler gestaltet wird. Diese Massnahme ist allerdings umstritten, auch weil man sich Sorgen um die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie macht. Besonders energieintensive Prozesse müssten auf angebotsreiche Stunden verlegt werden. Dafür braucht es finanzielle Anreize und eine geeignete Infrastruktur.

Das Stromnetz muss intelligenter werden

Eine wichtige Rolle, wenn man mehr Flexibilität in der Stromversorgung will, spielt auch das sogenannte intelligente Stromnetz (Smart Grid). Eine Idee ist zum Beispiel, dass Elektroautos an Ladestationen nicht nur Strom beziehen, sondern manchmal auch Strom abgeben, wenn sie gerade nicht zum Fahren gebraucht werden. Das könnte bei der Stabilisierung des Stromnetzes helfen. Die Geräte, die für das Smart Grid gebraucht werden, sind aber vielerorts noch nicht vorhanden.

Theoretisch könnten Privathaushalte ihren Strombedarf an das Angebot anpassen. Der Geschirrspüler würde dann vielleicht nachts laufen, wenn der Strom billig ist. Doch laut McKenna würden Privathaushalte derzeit nur sehr wenig Geld sparen, wenn sie flexibler bei der Stromnachfrage wären – vielleicht 30 bis 40 Franken pro Jahr. Derzeit seien nur wenige Menschen zu dieser Verhaltensänderung bereit.

Eine lokale Lösung könnten sogenannte Energy-Communitys bieten. Das sind lokale Energiegemeinschaften von Haushalten, die zu einem flexibleren Stromnetz beitragen, etwa indem sie einen gemeinsamen Energiespeicher nutzen. Zum einen ist das für den einzelnen Haushalt günstiger, weil ein grosser Speicher billiger ist als viele kleine. Zum anderen treten Synergieeffekte auf, weil sich die Nachfrage nach dem Strom wie auch das Angebot – über die gesamte Energy-Community betrachtet – zeitlich besser verteilen.

Eine Herausforderung ist die lokale Ebene der Verteilnetze

Auf der Gemeindeebene ist die Schweiz in den kommenden Jahren grundsätzlich gut auf die Aufgabe vorbereitet, das lokale Stromnetz flexibler zu gestalten. Die Verteilnetze, welche den Strom lokal zu den Haushalten führten, seien hierzulande in der Regel überdimensioniert, sagt McKenna. «Da steht der typisch schweizerische Gedanke dahinter, dass das Netz sehr robust sein soll.»

Mittelfristig allerdings, etwa bis 2035, könnten zusätzliche Energiequellen wie Photovoltaik oder eine zusätzliche Nachfrage, zum Beispiel durch Elektroautos, häufiger zu Problemen im Netz führen. Das bedeutete jedoch laut McKenna nicht gleich, dass das Netz instabil würde. Stattdessen verzögerte sich der Netzanschluss so lange, bis man die Netzinfrastruktur erweitert hätte.

Für die Netzbetreiber wäre es allerdings auch ein Problem, wenn sie nicht mehr so gut planen könnten wie früher. Diese Entwicklung zeichnet sich bereits ab: Mancherorts sinkt die Nachfrage nach Strom lokal, weil Haushalte den selbst generierten Strom, zum Beispiel von einem Solardach, auch gleich selbst nutzen. Eine Herausforderung für die Zukunft wird ausserdem sein, genügend Fachkräfte für den Umbau des Stromnetzes zu finden.

Grundsätzlich findet McKenna, dass die Diversifizierung bei der Stromversorgung eine Stärke sei. Vor zwei Jahren hätten Kollegen vom PSI untersucht, wie es um die Versorgungssicherheit der nationalen Stromsysteme in Europa stehe. Frankreich habe da relativ schlecht abgeschnitten, weil dort die Kernenergie so dominant sei. Eine höhere Punktzahl erreichten Länder mit einer stärkeren Mischung der Stromquellen wie zum Beispiel Dänemark, Island, Schweden und die Schweiz.

Um ein Energiesystem mit netto null Emissionen zu erreichen, brauche man alle Massnahmen, die zur Verfügung stünden, sagt McKenna. «Schliessen wir einzelne Massnahmen aus, heisst das nur, dass wir noch mehr von den anderen brauchen.»

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