Sonntag, September 29

Im Gespräch erläutert der Professor für die Geschichte des Nahen Ostens, weshalb Iran nicht in Libanon intervenieren wird – und was die Tötung des Hizbullah-Chefs für die gesamte Region bedeutet. In Libanon muss Israel laut Litvak nun eine politische Lösung anstreben.

Herr Litvak, sind wir am Samstag nach der Tötung von Hassan Nasrallah in einem neuen Nahen Osten aufgewacht?

Der Ausdruck «neuer Naher Osten» ist zu weit gefasst – die Region verändert sich nicht grundlegend wegen des Tods einer Person. Aber es ist definitiv ein wichtiges Ereignis und ein schwerer Schlag für die sogenannte iranische «Achse des Widerstands». Nasrallah hatte einen besonderen Platz in der iranischen Strategie, doch die «Achse» ist nicht zerstört.

Vor allem hat die Tötung den Hizbullah hart getroffen, der in den letzten zwei Wochen seine gesamte Kommandostruktur verloren hat. Ausserdem wurden in den Pager-Angriffen viele Kämpfer schwer verletzt. Viel wichtiger ist allerdings, dass die Iraner nun gesehen haben: Der Hizbullah ist vollkommen von Israel unterwandert. Iran wird sich deswegen genau überlegen, welche Rolle der Hizbullah künftig spielen wird.

Der Hizbullah war das Kronjuwel in Irans «Achse des Widerstands» – jetzt steht die Schiitenmiliz kurz vor dem Kollaps. Wie wird Iran darauf reagieren?

Ich bin davon überzeugt – und vielleicht liege ich falsch –, dass Iran gegenwärtig nicht direkt intervenieren wird. Die Iraner werden die irakischen Milizen und die Huthi benutzen, um Vergeltungsschläge gegen Israel durchzuführen. Die Iraner werden sehr lange zögern, bevor sie Israel den vollständigen Krieg erklären.

Zur Person

Meir Litvak ist Professor für die Geschichte des Nahen Ostens an der Universität Tel Aviv und Direktor des dortigen Zentrums für Iran-Studien. In seiner Forschung fokussiert er sich auf die Verbindungen von Religion und Politik im Schia-Islam und in der neueren iranischen Geschichte.

Warum hat sich auch jetzt die Kalkulation Irans nicht verändert?

Weil Irans oberster Führer, Ayatollah Ali Khamenei, sein Land nicht in einen grossen Krieg verwickeln will. Die Iraner sind sich der wirtschaftlichen Kosten eines Kriegs sehr bewusst. Allein in der letzten Woche habe ich mehrere Berichte gelesen, die besagen, dass Iran grosse Probleme bei der Stromversorgung hat. Teheran muss Gas aus Turkmenistan importieren, obwohl es die weltweit zweitgrössten Gasreserven besitzt. Der iranischen Wirtschaft geht es jetzt schon schlecht.

Vor allem Irans neuer Präsident Masud Pezeshkian hat sich in diese Richtung geäussert und Khamenei davon überzeugt, die Tötung des Hamas-Chefs Haniya in Teheran nicht zu vergelten. Daran hat sich nichts geändert. Ausserdem ist Irans Bevölkerung nicht dazu bereit, dass iranische Soldaten oder Zivilisten für einen arabischen Führer sterben. Was ich jetzt sage, ist vielleicht nicht politisch korrekt, aber: Iraner wollen nicht für Araber sterben. Die iranische Strategie besteht darin, Araber zu benutzen, um iranische Leben zu retten.

Wie reagieren die arabischen Staaten auf den Tod von Nasrallah?

Die Feierlichkeiten auf den Strassen im Norden Syriens waren vorhersehbar. Die Menschen dort hassen Nasrallah, weil er den syrischen Präsidenten Asad dabei unterstützt hat, sie zu töten. Aber auch aus den anderen sunnitischen Staaten haben wir keine grossen Trauerbekundungen gehört. Klar, Nasrallah hat gegen Israel gekämpft, sehr gut. Aber er hat auch Asad dabei geholfen, die Sunniten in Syrien zu zerschlagen. Es gibt also sehr gemischte Gefühle gegenüber Nasrallah in der arabischen Welt.

Es scheint, als sei die iranische Strategie der Abschreckung gegen Israel zum Teil gescheitert – wird Teheran nun noch stärker daran arbeiten, eine Atombombe zu bekommen?

Zwischen Israel und Iran besteht immer noch eine gegenseitige Abschreckung. Teheran verfügt über 2000 ballistische Raketen, was ein grosses Problem für Israel ist. Einen Krieg gegen Iran zu führen, wäre für uns sehr schwierig. Die iranischen Raketen erfüllen den Zweck der Abschreckung, weshalb eine Atombombe bis jetzt nicht notwendig ist – obwohl es sicher Personen in der iranischen Führung gibt, die nun eine Atombombe entwickeln wollen, weil die proiranischen Milizen in der Region schwächer sind, als sie dachten. Übrigens: Ich glaube nicht, dass Israel der Grund ist, weshalb Iran noch keine Atombombe hat.

Warum nicht?

Meiner Ansicht nach liegt der wichtigste Grund dafür in Saudiarabien, Ägypten, der Türkei, China und Russland. Iran will kein nukleares Wettrennen in der Region, und es will China und Russland nicht vor den Kopf stossen.

Israels Kampf gegen den Hizbullah ist auch nach der Tötung von Nasrallah nicht beendet – die Luftwaffe bombardiert weiter massiv Hizbullah-Stellungen. Wie sieht die israelische Strategie in Libanon aus?

Ich bezweifle leider, dass Israel eine Strategie hat. Auf einer taktischen Ebene ist es klar: Israel will die militärischen Fähigkeiten des Hizbullah, soweit es geht, reduzieren. Gleichzeitig könnte Israel nun versuchen, eine politische Einigung in Libanon zu erreichen – etwa die Implementierung der Resolution 1701 des Uno-Sicherheitsrates. (Die Resolution aus dem Jahr 2006 sieht unter anderem den Rückzug des Hizbullah aus dem unmittelbaren Grenzgebiet vor, Anm. d. Red.) Denn Israel wird nicht wieder Südlibanon besetzen oder Libanon grundlegend verändern.

Der logische Schritt aus israelischer Sicht wäre es, die jetzige Situation zu nutzen, um eine zufriedenstellende politische Lösung zu erreichen. Denn es ist so, wie Clausewitz gesagt hat: Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.

Wer soll die Resolution 1701 durchsetzen? Die Uno-Friedenstruppe Unifil ist dazu offensichtlich nicht in der Lage.

Es muss eine Koalition in Libanon geben, die die Resolution durchsetzt. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, dass sich daran auch enttäuschte Schiiten beteiligen. Nasrallah hatte sich immer das Image des Beschützers von Libanon gegeben, nun wird die Zerstörung grosser Teile Libanons sein Vermächtnis sein. Sollten sich die verschiedenen Religionsgruppen in Libanon und die libanesische Armee zusammenschliessen, könnte es funktionieren. Ich hege zwar keinen grossen Optimismus, aber vielleicht gibt es da eine Möglichkeit. Im Nahen Osten sollte man nicht optimistisch sein.

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