Sonntag, September 8

Leonie Böhm hat das «Blutbuch» auf die Bühne des Schauspielhauses geholt. Die Inszenierung wirkt wie ein Comedy-Verschnitt. Für den Witz sorgen vor allem die Schauspielerinnen und Schauspieler.

Kim de l’Horizon ist mit dem Roman «Blutbuch» gescheitert. Das jedenfalls lässt Kim am Donnerstagabend – gekleidet in einen grün schillernden Zauberrock, eine Kerze in der Hand – von der finsteren Pfauenbühne herab verlauten. Ein Scheitern auf höchstem Niveau, immerhin! Denn das Werk ist ja nicht nur mit diversen Literaturpreisen dekoriert worden, es hat auch einen eigentlichen Kim-Hype ausgelöst.

«Blutbuch» verwandelte Kim de l’Horizon in eine öffentliche Instanz: eine Schwalbe, die einen literarischen Frühling macht. Ein Orakel, das weit über das Ende unseres alten Lateins hinausblickt und die Grenzen des Denkens aufbricht, indem es dieses mit neuen Wörtern segnet. Ein sanitärer Geist in den Kanälen der Erinnerung, der die sprachlichen Verkrustungen wegschrubbt, damit die Sprache wieder fliesst. Und damit auch das Denken.

Kims de l’Horizons Erfolg ist so durchschlagend, dass man nun fürchten muss, eine Generation dichterischer Jungtalente könnte in diese Fussstapfen treten und die Leserschaft mit schrulligen Dialektwörtern wie «Truckli» sowie mit Neologismen wie «jemensch» oder Neuschöpfungen wie «Grossmeer» beglücken. Hoffentlich nicht!

Kim de l’Horizon aber darf das. Gerade an der Grossmeer hängen nicht nur die historischen Verstrickungen des Romans. Die ozeanischen Grandmères, diese mythischen Wasserwesen, die die ganze Geschichte in sich bergen sollen, bestimmen auch die theatrale Adaption des «Blutbuchs». Kim de l’Horizon bestreitet den Theaterabend tatsächlich mit vier Grossmeeren, alle tragen weite Klamotten wie aus Grossmutters Schlafzimmer-Spind, alle haben sie lange Zöpfe; zwei indes sind männlichen Geschlechts.

Man mag sich fragen, weshalb Kim de l’Horizon das «Blutbuch» auf die Bühne begleitet. Wird so nicht die Unabhängigkeit des Texts beschränkt, der sich von der Autorschaft vielleicht lösen will wie Backfische von ihren Eltern? Und wird so nicht auch die interpretatorische Freiheit von Leonie Böhm beeinträchtigt, die das Stück inszeniert hat?

Auf der Rampe mit den Grossmeeren

Es zeigt sich nun, was es auf sich hat mit Kim de l’Horizons Scheitern. Das Schreiben sei ein Versuch gewesen, den Resonanzraum einer sprachlichen Gemeinschaft anzubieten. Stattdessen habe es Einsamkeit gebracht. Umso schöner sei es nun, auf einer Rampe zu stehen, das Publikum zu geniessen – und die Grossmeeren. Diese spazieren nun aus den Kulissen hervor und bringen nicht nur ein Lied mit sich, sondern auch mehr Licht.

Auf der Rampe (Bühnenbild: Zahava Rodrigo) liegen bunte Decken ausgebreitet, daneben aber auch riesige Steinplatten, die zum Teil weit in die Zuschauerränge hinausragen. Das Weiche und das Harte: Es ist symptomatisch für das Reden der Grossmeer, das sich stets um den Körper drehen wird – um seine Chancen und Risiken, seine Beschränkungen und Leiden.

Beim Text handelt es sich nicht direkt um eine Bühnenfassung des Romans. Man habe sich von dessen Materialien einfach inspirieren lassen, erklärt Kim de l’Horizon dem Publikum. «Blutstück» nimmt sich zwar tatsächlich wie ein lockerer, etwas fahriger Pastiche des «Blutbuchs» aus. Aber es besteht einerseits aus vielen neuen Passagen. Andrerseits bleibt Raum für die Improvisation.

Eine erste Grossmeer (Sasha Melroch) erteilt eine Lektion in Anatomie. Unsere Körper bestünden zu sechzig Prozent aus – nein, nicht Wasser, sondern Angst. Es handle sich dabei um ein gesellschaftliches Vermächtnis und Schicksal, das uns alle fest im Griff habe.

Die Grossmeer, die kein Blatt vor den Mund nimmt, weiss auch, wie wir uns von Zerrissenheit und Angst befreien können: Man müsse eben den «Finger aus dem Arschloch» nehmen, damit «die ganze Scheisse» rauskönne. Diese Therapie wird noch öfters angesprochen werden in den grossmütterlichen Ausführungen, die ohnehin erstaunlich analfixiert sind.

«Ja, verdammt, mit einem freien Arsch durchs Leben gehen», das möchte auch eine zweite Grossmeer (Lukas Vögler). Sie fühlt sich aber schwach und unsicher. Es fehlt ihr an Stolz, Haltung und Rückgrat. So wie sie bei einer Zuschauerin – Hanna in der vordersten Reihe – schöne, lederne Schuhe entdeckt, träumt sie von Stamina und Stehkraft. Und die männliche Grossmeer beginnt sich in Rollenspielen zu üben – sie trainiert den sicheren Gang und machohafte Autorität.

Die Schauspielerinnen und Schauspieler wenden sich noch mehrmals an die Zuschauer – wer das nicht mag, kauft sich wohl am besten billige Tickets für die hinteren Ränge. Lukas Vögler allerdings mischt sehr viel Witz und Charme in seinen Angriff auf Hanna. Vor allem aber setzt er einen künstlerischen Höhepunkt des Abends, indem er Sprache überzeugend in Körpersprache übersetzt. Seine Gestik macht deutlich, wie die Gliedmassen von einer Syntax der Kleider und einer Grammatik der Geschlechterrollen beherrscht werden.

Auch die nächste Grossmeer (Gro Swantje Kohlhof) spielt gross auf. Sie erklärt in zehn Minuten die ganze Weltgeschichte als eine Generationenfolge der Grossmeeren. Der Sündenfall findet nicht im Paradies statt, sondern in einer Ursuppe – an dem Tag, als die Grossmeeren aus dem Wasser schlüpften und dabei einen Körper erhielten. Die Sexualität entdeckten sie bald bei einem zufälligen Blick auf einen nackten Ritter. Allein, der schöne Kämpe erwies sich bald als Spielverderber: Er erklärte die Grossmeeren zu Hexen, die man foltern und auf Scheiterhaufen bringen müsse. Kein Wunder, dass die vierte Grossmeer (Vincent Basse) erstmals auch an die Grosspeeren erinnert. Diese seien schuld daran, dass er so viel Hass und Gewalt in sich spüre.

Den vier Grossmeeren hat Kim de l’Horizon viel zu verdanken. Sie bringen Leben und Witz in das Stück, in dem sich sprachliche Originalität da und dort in Manierismen erschöpft – zu viele Grossmeeren, Trucklis und Arschlöcher. Das Bühnenwerk ist überdies ähnlich gescheitert wie der Roman – was dem Erfolg zum Glück nicht im Wege stehen muss. Das «Blutstück» schafft insofern aber gerade keine solidarische sprachliche Körperschaft, als es die Chemie eines dialogischen Austausches meist vermissen lässt. Es verliert sich vielmehr in einzelnen Monologen mit einer Grossmeer-Protagonistin, die die vier anderen Figuren jeweils zu Zuschauern degradiert.

Faszinierende Ausstrahlung

Auch Kim de l’Horizon selbst wirkt zunächst etwas verloren auf der Bühne. Erst gegen den Schluss der gut 90-minütigen Inszenierung kann Kim sich selbst in Szene setzen. Und glänzt dann prompt in einer berndeutschen Jeremiade. Später mischt sich Kim de l’Horizon unters Publikum, um Verbündete zu suchen gegen transphobe Aggressoren. Zuletzt versucht Kim de l’Horizon ein Happy End heraufzubeschwören und die Welt in einem nicht enden wollenden Monolog plötzlich als Kuriosum zu feiern.

Das «Blutstück» kann nicht gänzlich überzeugen. Die existenziellen Themen werden bloss angetippt und verschwinden dann zu oft unter Klamauk und Comedy. Dramaturgisch liesse sich der Abend ausserdem noch etwas straffen. Trotzdem bleibt einem Kim de l’Horizon als faszinierende Persönlichkeit in Erinnerung. Mit Grazie und Sportlichkeit ebenso gesegnet wie mit Selbstbewusstsein und Intelligenz, verfügt sie durchaus über performative Präsenz. Mit dem Publikum scheint Kim de l’Horizon dabei nicht nur mit Sprachkunst zu kommunizieren, sondern auch als vitale Kunstfigur.

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