Donnerstag, August 21

Wie entkommt man dem Wahnsinn, wenn dieser in der eigenen Familie liegt? Darüber hat Leon Engler ein Buch geschrieben. Statt nur über ungleich vererbtes Vermögen solle man über ungleich vererbtes psychisches Leiden reden.

Es bietet sich an, Leon Engler für den Helden seines Romans zu nehmen. Also fragt man sich vor dem Treffen mit dem Schriftsteller: Trägt er Narben im Gesicht von dem Autounfall, den der lebensmüde Vater mit dem Jungen auf dem Rücksitz verursacht hat? Strahlt einer mit diesem Familienschicksal eine innere Unruhe aus?

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Solche Fragen sind insofern begründet, als Engler seinen Debütroman autofiktional nennt. In «Botanik des Wahnsinns» schreibt der Erzähler über seine Familie, die über Generationen von Wahnsinn befallen ist: die Grossmutter bipolar, zwölf Suizidversuche, der Grossvater jahrelang in der Psychiatrie. Die Mutter Alkoholikerin, der Vater depressiv.

Der Sohn hat Angst, selber verrückt zu werden. Also liest er Freud, Nietzsche, Lacan, Ingeborg Bachmann, um die Gefahr zu bannen. Er studiert Psychologie, arbeitet in einer Klinik, fragt sich immer wieder: Was ist normal? Engler, der sich selber zum Psychotherapeuten ausbilden lässt, hat einen heiteren, sehr menschlichen Roman geschrieben. Man merkt, er ist mit den eigenen und den Verrücktheiten der anderen vertraut.

Man trifft den 36-Jährigen im Café Einstein Unter den Linden in Berlin, wo die Kellner weisses Hemd und Fliege tragen. Engler denkt oft lange nach, bevor er antwortet. Spuren einer prekären Kindheit findet man keine in seinem Gesicht.

Herr Engler, was ist wahr an Ihrem Roman?

Man sollte den Roman nicht als meine Familiengeschichte lesen. Ich würde einer Autobiografie aber auch nicht mehr trauen als einem Roman, was die Wahrheitsfreiheit angeht. Wir erfinden uns Geschichten, die wir irgendwann für unser Leben halten.

Sie verkaufen das Buch aber immerhin als teilweise autobiografisch.

Natürlich hat mein Roman auch mit meinem Leben zu tun. Gustave Flaubert hat gesagt: Alles, was erfunden ist, ist wahr. Die Familie, von der ich schreibe, trifft man überall an. Ich höre ähnliche Geschichten in meiner Praxis als Psychologe.

In fast jeder Familie gibt es Eltern oder Grosseltern, die psychisch krank oder zumindest angeschlagen sind. Wie sind Sie vorbelastet?

Da ist zum Beispiel mein Grossvater, er war viele Jahre Patient im Steinhof, dem psychiatrischen Krankenhaus in Wien. Als junger Mann erhielt er die Diagnose Schizophrenie, die eine grosse Erblichkeit hat. Die Behandlungsformen zu jener Zeit: Malariakur und Schocktherapie. Ich habe ihn nicht gekannt, aber seine Akte im Landesarchiv in Wien gefunden. Er hat im Steinhof ein bisschen wie Robert Walser gelebt, ist viel spazieren gegangen und ist dort gestorben.

Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass man selber krank wird, wenn dies in der Familie vorgebahnt ist?

Beträchtlich. In Deutschland redet man über die Erbschaftssteuer und darüber, wie ungleich Vermögen verteilt ist. Selten wird gesagt, wie ungleich psychisches Leid vererbt wird. Über 50 Prozent der Kinder psychisch kranker Eltern werden selber krank. Auch die Folgen von Traumata können über Generationen vererbt werden. Das ist eine enorme Rate. Erkrankungen werden über Generationen vererbt. Die Ursachen sind oft psychosozial, aber möglicherweise auch biologisch. Man erforscht das heute epigenetisch.

Traumata stecken gewissermassen in unseren Genen.

In Mäuseexperimenten konditionierte man Tiere, Kirschblütenduft mit Stromschocks zu fürchten – auch ihre Nachkommen reagierten ängstlich auf den Duft. Beim Menschen ist dieser Mechanismus noch nicht eindeutig belegt, doch wir kennen es: Ein Geruch, ein Bild – und begrabene Gefühle und Geschichten finden ihren Weg.

Meinen Sie damit die Wiederkehr des Verdrängten, das sich in Form von psychischen Symptomen äussert?

Bei der posttraumatischen Belastungsstörung sind Vermeidung und Wiederkehr bereits Symptome. Deshalb versucht man in der Traumatherapie den Betroffenen mit dem Belastenden zu konfrontieren. Auf ähnliche Weise befasst sich mein Protagonist mit seinem Stammbaum. Es geht dabei nicht darum, die Ahnen zu verurteilen. Sondern darum, zu verstehen. Es gibt Hinweise, dass sich die Weitergabe durch bessere Lebensbedingungen stoppen lässt. Und beim Menschen gibt es so etwas wie posttraumatisches Wachstum. Man kann also korrigierende Erfahrungen machen.

Viele Kinder psychisch kranker Eltern studieren Psychologie, weil sie glauben, den Eltern so helfen zu können. Oder sie wollen so zumindest besser verstehen, die Eltern und sich selbst. Wurden Sie deshalb Psychotherapeut?

Das spielt sicher mit hinein. Es ist eine Art von Konfrontation, wie das Schreiben auch. Wenn ich jetzt mit Patienten arbeite, sehe ich bei vielen etwas, das mal stärker, mal schwächer auch auf mich zutrifft. Etwas allgemein Menschliches, wie wir es alle kennen: da ein zwanghaftes Verhalten, dort eine depressive Stimmung. Die Frage ist, wo eine Erkrankung beginnt und was noch normal ist. Ist nicht vieles eine normale Reaktion auf eine schwierige Situation?

Bezeichnen wir ein Verhalten zu schnell als krankhaft?

Eine Abweichung von einem sogenannt psychisch normalen Verhalten hat etwas Bedrohliches. Es zeigt die andere Seite der Vernunft. Deshalb hat man im Mittelalter psychisch Kranke vor den Burgmauern in Käfige gesperrt und ausgegrenzt. Jeder kennt die Furcht, zu den Verrückten zu gehören. Gleichzeitig ist es statistisch gesehen völlig normal, etwas verrückt zu sein. Wir sind alle ziemlich verrückte Vögel.

Angeblich zeigen Studien, dass jede zweite Person im Verlauf ihres Lebens einmal psychisch erkrankt. Stimmt das?

Weltweit sind über 300 Millionen Menschen als depressiv diagnostiziert. Auch psychotische Symptome wie Stimmenhören sind in der Bevölkerung weit verbreitet. Angststörungen, Suchterkrankungen. Es scheint Teil des menschlichen Loses, auch einmal am Rand der Vernunft unterwegs zu sein. Und manchmal ist ein abnormales Verhalten gar nicht so unvernünftig.

Eine psychische Erkrankung entwickelt sich meist innerhalb eines Systems: der Familie, der Gesellschaft. Sie lässt sich nicht losgelöst davon betrachten. Wird heute zu stark auf den Einzelnen fokussiert und sein Leiden individualisiert?

Ja, und das kritisiere ich. Eine Depression ist nicht bloss die Summe von Symptomen wie gedrückter Stimmung oder Antriebslosigkeit. Vielleicht ist man depressiv, weil man den Job verloren hat, alleinerziehend ist und die Wohnungsmiete nicht mehr bezahlen kann. Dann hat man allen Grund, depressiv zu sein, und reagiert adäquat auf Lebensumstände. Man beweist, dass man ein fühlender Mensch ist. Weil sich solche Fälle häufen, haben Fachleute in einer der ärmsten Gegenden Grossbritanniens den Begriff des Shit-Life-Syndroms eingeführt. Was wir psychische Erkrankung nennen, weist also manchmal auf ein gesellschaftliches Ungleichgewicht hin, nicht nur auf ein Ungleichgewicht im Gehirn oder in der Kindheit.

Sie kommen aus einer Arbeiterfamilie. Wie unterscheidet sich da das Leiden vom Leiden in einer gutsituierten, bürgerlichen Familie?

Bürgerliche Familien haben eine andere Familiensaga, mit einer starken mündlichen Überlieferung, die zur Identitätsbildung beiträgt und den Selbstwert prägt. Die Geschichte von Arbeiterfamilien ist sprachloser. Diese Erfahrung habe ich selbst gemacht, und ich erlebe es auch im Patientenkontakt immer wieder. Kinder aus Arbeiterfamilien haben eine andere Art des Selbst- und Weltverständnisses, wo eben nichts selbstverständlich ist. Es muss um alles gefürchtet werden, die ganze Zeit, es geht um eine ganz andere Grundnot, ein Urmisstrauen.

Macht sie das anfälliger für psychische Erkrankungen?

Heruntergebrochen kann man sagen: Armut macht psychisch krank. Und psychische Erkrankungen machen arm. Und selbst wenn man sich entgegen der Wahrscheinlichkeit hocharbeitet, gehört man nie wirklich dazu. Man ist jetzt vielleicht neureich, aber hat sich auch dann ständig zu beweisen.

Heute reden alle von dem inneren Kind, das zu kurz gekommen ist und dem es deshalb im Erwachsenenleben an Halt und Selbstvertrauen fehlt. Liegen all unsere Probleme als Erwachsene in der Kindheit begründet?

Nein. Aber am Ende kommt man immer wieder auf die Familie, auch auf Freunde in der Jugend, also die ersten Menschen ausserhalb des Familienkosmos. Wir sind hochsoziale Wesen und sind die ganze Zeit bemüht, in der Gruppe zu bleiben. Wie können wir dazugehören? Davon ist unser Selbstwert abhängig. Zurückweisungen hinterlassen Spuren. Dazu sind wir physiologische Frühgeburten und brauchen ein anderes Wesen, das sich um uns kümmert. Es gibt die Idee des Survival of the Cutest: Babys sind so süss, damit man sich um sie kümmert. Manche Eltern sind dazu nicht in der Lage.

Haben Sie ein Beispiel?

Eine depressive Mutter zeigt weniger Resonanz, weniger positive Emotionen im Umgang mit ihrem Kind. Bevor ihm die Sprache einen Zugang zur Welt ermöglicht, prägen es frühe Gefühle und Stimmungen. Die Welt erscheint diesem Kind distanziert und leer. Später macht es die Erfahrungen auch mit Dritten, die auf das Kind ablehnend reagieren. Es gerät in einen Teufelskreis der Traurigkeit.

Wird in einer Familie um das Leiden auch rivalisiert, im Sinn von: Wem es besonders schlecht geht, der erhält die meiste Aufmerksamkeit und Zuwendung?

Wenn man in der Familie eine Depression entwickelt, kann das ein Kommunikationsversuch sein. Jemand, der seine bedürftige Seite sonst verbirgt, kann indirekt sagen: Kümmere dich um mich. Einem narzisstischen Menschen kann es vielleicht darum gehen, der Kränkste von allen zu sein, wenn er sonst nicht mehr in seiner Grösse gespiegelt wird. Eine Erkrankung will uns oft etwas mitteilen. Und Jacques Lacan sagt: Die Wirkung einer Erkrankung kann ihrer Ursache vorausgehen, und das Symptom ist die Spur einer zukünftigen Wahrheit. Er sagt auch: Man muss das Symptom lieben. Liebe dein Symptom wie dich selbst, denn es verrät dir etwas über dich selber. Wir kommen viel näher an unseren Kern heran, wenn wir dem Symptom auf den Grund gehen wollen.

Was fasziniert Sie eigentlich am Beruf des Psychotherapeuten?

Therapie ist ein seltsames gesellschaftliches Arrangement. Jemand kommt in einen geschlossenen Raum und erzählt einem anderen Menschen alles über sich und sein Leben. Im Idealfall. Dieses Setting ermöglicht eine tiefe Form der Begegnung. Patient und Therapeut reinszenieren eine prototypische Beziehung mit all den Themen, die sie im Alltag beschäftigen. Als Therapeut kann ich tief ins Menschliche gehen. Ich sitze in der ersten Reihe und assistiere jemandem dabei, aus einer Sackgasse herauszukommen. Das Schreiben ist das Gegenteil, man dreht sich um sich selbst. Als Therapeut verschwinde ich vielmehr. Ein guter Ausgleich.

In der klassischen Psychoanalyse versteht sich der Analytiker als Teil der Praxis-Einrichtung, vergleichbar mit einem Stuhl oder dem Luftbefeuchter. Er ist die weisse Fläche, die sich für Projektionen eignet. Sehen Sie sich auch so?

Die strengen Analytiker früher haben gesagt: Man muss sein wie der Kleiderständer, trägt keinen Ehering und immer denselben Anzug. Oft fragen meine Patienten: Wie geht’s? Dann antworte ich knapp. Denn es geht nicht um mich. Aber natürlich bringen wir uns immer mit ein. Wir sind auch nicht diese Instanz, die sich selbst so enträtselt hat, dass sie über allem steht. Das Wichtigste ist die Beziehung.

Sie nennen das Schreiben eine therapeutische Reise. Verstehen Sie sich heute besser?

Das Schreiben mag etwas Therapeutisches haben, aber nein. Ingeborg Bachmann hat gesagt: Wir haben keine Begriffe, wir haben die Krankheit. Das Verstehen ist uns nicht vergönnt. Ein Rest Rätselhaftigkeit, etwas Unauflösbares bleibt immer. Auch bei mir. Das hat für mich etwas Tröstliches.

Und als Psychologe, was lernen Sie dabei über den Menschen?

Manchmal ist die Arbeit zum Verzweifeln, weil man sich selbst infrage stellt und Krisen hat und sich fragt: Was tue ich da eigentlich? Dann ist man wieder überrascht und beglückt, wenn etwas aufgeht. Aber es ist schon so: Je länger ich das mache, umso komplizierter erscheinen mir die Menschen.

Leon Engler: Botanik des Wahnsinns. Dumont-Verlag, Köln 2025. 208 S., Fr. 33.90.

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