Freitag, Oktober 18

Das Buch «Armes Ding» ist ein Produkt wie aus den Werkstätten von Frankenstein und Pygmalion, ein Hexengebräu aus Gruselromantik und Kunstmärchen.

Matias Faldbakken ist eine norwegische Doppelbegabung, der erfolgreiche Maler, der «sich die Form des Romans von Zeit zu Zeit ausleiht». Nach den letzten literarischen Streichen mit «The Hills», einem raffinierten Kammerspiel aus Oslos besserer Gesellschaft, und «Wir sind fünf», einer gruselig realistischen Familiengeschichte, geht es nun weiter mit «Armes Ding». Sein sechster Roman ist eine Mischung aus Volksmärchen und postmodernem Entwicklungsroman, einer zauberhaft ironisch grundierten Stadt-Land-Gruselgeschichte.

Im Original erschien «Armes Ding» bereits 2022, ein Jahr vor dem bizarren Erfolgsfilm «Poor Things» von Giorgos Lanthimos, der manches mit diesem Roman gemein hat: die Entwicklung einer sonderbaren Märchenkreatur und ihre Kollision mit der realen modernen Welt. Faldbakkens neues Buch ist eine gewitzte Variante der Kaspar-Hauser-Geschichte, über das brillant und düster-lustig beschriebene Scheitern eines weiblichen Findlings, zuerst in der Bauernwelt, dann in der Grossstadt.

Attraktion in intellektuellen Kreisen

Im ersten Teil des Romans sind wir im tiefsten ländlichen Norwegen, wo der aus schwierigen Verhältnissen stammende Oskar, «körperlich stark, aber geistig eher langsam», für Kost und Logis auf einem Bauernhof arbeitet. Dort findet und fängt er eine völlig verwahrloste Kreatur von rätselhafter Herkunft, das zunächst weder sprechen noch aufrecht gehen kann. Er pflegt sie, führt sie mit anderen guten Helfern in das Bauernleben ein, wo sie rasch Fortschritte macht, auch sprechen und ein wenig schreiben lernt. In märchenhaft kurzer Zeit wird aus dem wilden Mädchen eine Frau, die den tumben Oskar verführt, der ihr sexuell hörig wird, was auf dem archaischen Hof nicht geduldet werden kann.

In dem kurzen mittleren Teil des Buches sind Oskar und das namenlose Mädchen auf der Flucht durch Wälder, über einen See und in dunkel leuchtender Natur, von der ein stets präsenter, ironisch-auktorialer Erzähler meint, sie «lässt sich kaum beschreiben», um sie dann doch bravourös zu schildern, «dichter Wald, Wald, noch mehr Wald». Schliesslich landen die beiden Ausreisser in Oslo in der Wohnung von Tommy, dem körperlich behinderten, hochintelligent-bösen Sohn der Bauersleute, vor denen auch er in Hass geflüchtet war.

Der dritte Teil von «Armes Ding» spielt in der modernen Metropole, wo sich das schillernde Mädchen nun «Sonder» nennt und zur Attraktion in den dekadent-intellektuellen Kreisen von Tommy wird, während der ländliche Oskar verkümmert und als Stadtstreicher endet. Eifersüchtig flüchtet er sich in Nikotinorgien, während das «Mädchen aus dem Wald» in der hohen Gesellschaft von Oslo Furore macht und eine sexuelle Affäre mit Tommy beginnt. Und, natürlich: «Es musste zu einem Showdown kommen», so kündigt es der listige Erzähler vorzeitig an, um die Spannung hochzudrehen.

Hinkende Syntax und poetische Verzweiflung

Es kommt dann auch zu einer Gerichtsverhandlung gegen das verwilderte und nun domestizierte Mädchen, wobei sie zu ihrer Verteidigung ein von ihr verfasstes «zerbrochenes Gedicht» vorträgt, mit hinkender Syntax und poetischer Verzweiflung. In düsterem, markerschütterndem Kauderwelsch spricht sie von sich und Oskar («wir Kinder aus finsteren Familien»), deutet «Unzucht» und Einsamkeit an, «Missbrauch» und Ausgrenzung in jenem ruralen Norwegen, wo «das Land der dunkle Kontinent ist».

In diesem fulminant krakeligen Schlusstext kondensieren sich noch einmal auf erschreckend ernste Weise jene Themen, von denen vorher im Roman schon auf spielerische Art die Rede war: Zivilisationskritik an der zynischen Urbanität und ihrer Geldkultur; ländliche Naivität wie im Heimatmärchen, die manchmal wie eine Karikatur von Knut Hamsuns Bauernwelt aussieht; das edle Wilde des Landmenschen im Gegensatz zum überkultivierten Intellektualismus der Metropolen.

Matias Faldbakken hat auch in diesem Roman ein faszinierendes Kunstwerk gebastelt, ein Produkt wie aus den Werkstätten von Frankenstein und Pygmalion, ein Hexengebräu aus Gruselromantik und Kunstmärchen, versetzt mit einem guten Schuss von Ironie und Sprachspielerei, die auch in der Übersetzung von Max Stadler überzeugend funkelt.

Matias Faldbakken: Armes Ding. Roman. Aus dem Norwegischen von Max Stadler, btb-Verlag, Berlin 2024, 222 S., Fr. 33.90.

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