Mittwoch, Januar 15

Die Jüngsten werben im Internet für Spielzeug, Knusperflocken oder Rucksäcke. Meist stecken die Eltern dahinter. Für Geld und Aufmerksamkeit filmen einige den Familienalltag – bis hin zum Schlittelunfall.

Anastasia Radzinskaya ist eine der erfolgreichsten Influencerinnen der Welt. Ein paar Zahlen:

Abonnenten auf Youtube: 113 Millionen. Weltweit haben nur fünf Konten mehr Abonnenten.

Durchschnittliche Einnahmen pro Video: etwa 258 500 Dollar.

Geschätztes jährliches Einkommen: etwa 86 Millionen Dollar (2023).

Geschätztes Vermögen: 260 Millionen Dollar.

Alter: 10 Jahre.

Anastasia Radzinskaya wurde in Russland geboren, lebt in Florida und ist mit Videos, die sie beim Spielen zeigen, reich geworden. Seit 2016 ist sie auf dem Youtube-Kanal «Like Nastya» zu sehen, den ihre Eltern gegründet haben, als Anastasia zwei Jahre alt war. Kurz nach der Geburt hatten Ärzte bei ihr eine Infantile Zerebralparese diagnostiziert, eine Schädigung des Gehirns. Da befürchtet wurde, dass Anastasia niemals richtig würde sprechen können, begannen die Eltern, ihre Tochter zu filmen, um ihr Mut zu machen. Die Videos veröffentlichten sie auf Youtube. Später stellte sich die Diagnose als falsch heraus, die Videos jedoch wurden zum Phänomen.

Auf «Like Nastya» sind Spielnachmittage mit Freundinnen zu sehen, Albereien mit dem Vater oder Lernvideos, die zeigen, wie sich Kinder in der Schule oder im Wald richtig verhalten. In einem ihrer jüngsten Filme spielt Anastasia eine Polizistin, die herausfinden will, wer einen Geburtstagskuchen angeknabbert hat. Durch eine Gebissanalyse stellt sich heraus, dass es der Hund war. «This is our guy», sagt Anastasia und zieht die Handschellen hervor. Seit Dezember, als das Video online ging, wurde es 56 Millionen Mal aufgerufen.

Anastasias Haupteinnahmequelle ist die Werbung, die in den Videos geschaltet wird, hinzu kommen Kooperationen mit Unternehmen. Inzwischen hat die Zehnjährige auch einen eigenen Shop, über den sie Spielzeug und Plüschtiere vertreibt.

Nastya helps her friend to behave fairly with other kids

«Das Video kostet mich echt ’ne krasse Überwindung»

Durch das Internet und die sozialen Netzwerke kann man auch im heimischen Wohnzimmer zum Star werden. Wer geschickt ist, kann Zehntausende von Fans ansammeln und durch Werbung Geld verdienen. Dadurch ist ein neues Berufsbild entstanden: das des «Influencers». Der Begriff ist abgeleitet vom englischen Verb «to influence» für «beeinflussen». Unternehmen lieben Influencer, weil sie durch diese direkt ihre Zielgruppe erreichen. Ihre Macht lassen sich die Internetstars fürstlich bezahlen: In Deutschland können Top-Influencer für einen einzelnen Werbebeitrag bis zu 38 000 Euro erhalten.

Seit den frühen 2010er Jahren stehen aber nicht nur Erwachsene vor der Kamera, sondern auch Minderjährige, sogenannte «Kidfluencer». Besonders wild ist das natürlich alles in den USA. Es gibt Spielzeugtester wie Anastasia oder den 12-jährigen Ryan Kaji mit seinem Youtube-Kanal «Ryan’s World». Es gibt Schönheitsköniginnen wie die 6-jährige Elle Lively McBroom oder die 11-jährige Everleigh Rose, mit Lipgloss und Röckchen, lasziven Posen und Kussmund.

Eine weitere Gruppe sind die Familienblogger: «Mileys Welt», «Mamiseelen» oder «Alles Ava». Dort lassen die Eltern das Youtube-Publikum am Familienleben teilhaben. Gefilmt werden: Familienfeiern und das Auspacken von Geschenken, das Aufstehen am Morgen und Zahnarztbesuche, auch Zeugnisse werden vorgelesen. Bewerben Kinder sonst nur Produkte, werden hier intime Momente und ihr Alltag kommerzialisiert.

Influencer müssen ihre Fans bei Laune halten, und je grösser das Publikum, desto grösser auch die Verpflichtungen. So gab die 14-jährige Miley vom Familienkanal «Mileys Welt» vergangenes Jahr die Trennung ihrer Eltern bekannt. «Das Video kostet mich echt ’ne krasse Überwindung», sagt sie. Ihr Vater sei nach Südamerika ausgewandert, gerade sei der Kontakt zu ihm «nicht gut». In einem anderen Video sagt Mileys Mutter, Fans hätten geschrieben und gefragt, warum der Vater nicht mehr in den Videos auftauche.

Treibende Kraft hinter all den Kanälen sind meist die Eltern. Die erfolgreichsten Kinder bringen so viel Geld ein, dass sie mitunter die ganze Familie finanzieren. Die Vermarktung von Kindheit und Familie wird zum Geschäftsmodell.

Kuscheln mit der Mutter, Werbung für Schuhe

In der Schweiz zählt die Familie Zerzuben aus dem Wallis zu den erfolgreichsten Influencern. Die Mutter, Frieda Hodel, wurde bekannt, als sie 2015 als erste Bachelorette der Schweiz im Fernsehen ihren Traummann suchte; heute hat die 41-Jährige ein Kosmetikinstitut. Ihr Ehemann Fabio Zerzuben ist ein Sales- und Marketingspezialist. Beide machen auf Instagram Werbung und haben jeweils Zehntausende von Followern. Ab und zu sind auch ihre beiden Töchter zu sehen, diese sind fünf beziehungsweise zwei Jahre alt.

Er sei in die Instagram-Welt eher so hineingerutscht, sagt Fabio Zerzuben am Telefon. Zunächst hätten er und seine Frau nur Fotos von sich als Paar veröffentlicht; mit den Kindern habe es sich dann ergeben, dass auch sie ab und zu auf den Fotos aufgetaucht seien. Irgendwann hätten Agenturen und Unternehmen gefragt, ob sich die Zerzubens Werbekooperationen vorstellen könnten, die zu ihrem Alltag als Familie passten. Sie konnten. So sind die Töchter immer wieder einmal auf Werbefotos und -videos zu sehen: Sie kuscheln in gemütlicher Bettwäsche mit der Mutter, schmelzen bei Lindt-Schokolade oder bewerben zum Start ins neue Schuljahr Trinkflaschen, Rucksäcke und Schuhe.

Die Zerzubens sind im Vergleich zu anderen Influencern zurückhaltend, sie haben sich über das, was sie auf ihren Kanälen veröffentlichen, viele Gedanken gemacht. Fabio Zerzuben sagt, nie würden sie die Kinder in privaten Situationen zeigen, etwa wenn sie krank seien. Auch Fotos, auf denen sie leicht bekleidet oder in unvorteilhaften Posen zu sehen seien, vermieden sie. «Die Kinder sollen Teil des Alltags sein, aber generell wollen wir privat und in Sicherheit leben, that’s it.» Tatsächlich sind seine Kinder auf den Fotos und Videos oft von hinten oder mit Sonnenbrille zu sehen, im Wasser tragen sie Badeanzüge oder T-Shirts.

Andere Influencer sind weniger zurückhaltend. Bekannt ist der Fall der Familie Henle aus Bayern, die den Youtube-Kanal «Mileys Welt» betreibt. Als sich vor ein paar Jahren der damals 14-jährige Sohn Cihan beim Rodeln das Schienbein brach, lief die Kamera weiter. Das Video mit dem Titel «Cihans Rodelunfall Spezial» zeigt: die Schreie und das schmerzverzerrte Gesicht des Jungen, alles unterlegt mit dramatischer Musik, den Abtransport ins Spital, später Cihans humpelnde Ankunft zu Hause. Als er im Schnee liegt, gibt es einen Moment, da hält er sich den Arm vor die Augen; als er später im Spital im Rollstuhl geschoben wird, blickt er einmal wütend in die Kamera. 3,5 Millionen Mal wurde das Video angesehen, mehr als 32 000 Menschen haben auf «Mag ich» geklickt.

«Samstag ist Drehtag»

Kinderschutzorganisationen sehen das Phänomen der Kinder-Influencer kritisch. «Ohne Zweifel lässt sich quer durch verschiedenste Kanäle der Kinder-Youtube-Stars von gravierenden Eingriffen in ihre Privat- bis hin zur Intimsphäre sprechen», schreibt etwa das Deutsche Kinderhilfswerk. Es gebe keine Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Momenten; private Rückzugsorte der Kinder würden einem Millionenpublikum bekannt gemacht.

Zwar müssen auch andere Töchter und Söhne im Betrieb der Familie mitarbeiten, etwa dann, wenn sie auf einem Bauernhof aufwachsen. Der Unterschied sei aber, dass in den sozialen Netzwerken eine Marke aufgebaut werde, schreibt das Kinderhilfswerk: Ziehe sich das Kind zurück, sterbe auch die Marke – und damit die Einnahmequelle. Zudem sei fraglich, ob Influencer unter dreizehn Jahren wirklich freiwillig handelten. Bis zu diesem Alter täten Kinder noch alles für ihre Eltern, um die Bindung aufrechtzuerhalten, heisst es beim Kinderhilfswerk.

Welche Konflikte entstehen können, wenn die jungen Internetstars versuchen, eigene Grenzen zu setzen, zeigt der Fall der Österreicherin Ilia, die auf Youtube unter «Ilias Welt» über ihren Alltag berichtet. In einer TV-Reportage sagte die damals Elfjährige: «Am Wochenende ist halt irgendwie die einzige Zeit, wo ich mich mit Freunden treffen kann und so. Und wenn [sie] mich fragen: ‹Hey Ilia, hast du heute Zeit?›, dann muss ich leider meistens immer absagen, weil Samstag ist Drehtag.»

Fabio Zerzuben kennt die Kritik an den Influencer-Eltern. Er sagt, das Wohl seiner Kinder habe für ihn Priorität. Hätten die beiden keine Lust auf einen Werbepost, verschiebe er die Produktion oder biete eine Alternative ohne die Töchter an. Unternehmen warnt er dahingehend vor, dass Kooperationen auch ganz scheitern können. Ist ihm eine Szene zu privat, wandelt er sie ab. Einmal etwa habe ihn ein Windelhersteller für Werbung angefragt, erzählt er. Zerzuben war unwohl bei der Vorstellung, seine Tochter in einer Windel zu zeigen. Er habe daher eine Puppe genommen, für den Hersteller sei das in Ordnung gewesen. Zerzuben sagt: «Es gibt immer einen Plan B.»

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