Mittwoch, März 19

Sieben Millionen Kinder sind in der Ukraine vom Krieg betroffen. Viele sind traumatisiert. Olena Roswadowska arbeitet mit ihnen zusammen – und weiss, was diese Kinder jetzt brauchen.

Wenn Väter an der Front sterben, Mütter um ihre Ehemänner trauern und Schulen wegen Bombardierungen geschlossen werden, erreicht der Krieg auch die Kinder. In der Ukraine, wo genau das passiert, leben 7,5 Millionen Kinder, schätzungsweise 1,5 Millionen von ihnen in russisch besetzten Gebieten. Sie erleben Bombenalarme, Stromausfälle und Drohnenangriffe ebenso wie die Erwachsenen um sie herum.

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Was der Krieg mit Kindern macht, weiss Olena Roswadowska. Die Ukrainerin ist Expertin für Kinderrechte und arbeitet seit 2015 mit Kindern zusammen, die vom Krieg in der Ukraine betroffen sind. Sie gründete die Organisation Voices of Children, die ihnen psychologische Unterstützung anbietet. Die Organisation beschäftigt 100 Psychologinnen und Psychologen in der ganzen Ukraine.

Frau Roswadowska, wie wirkt sich der Krieg auf die Kinder in der Ukraine aus?

Kinder müssen sich an ständigen Sirenenalarm gewöhnen, manche verlieren Verwandte oder werden aus ihrem Zuhause vertrieben. Kleine Kinder leiden darunter, nicht mehr in den Kindergarten gehen zu können. Für Teenager ist prägend, dass sie ihre erste Liebe, ihre besten Freunde durch den Krieg verlieren. In einem Alter, wo Beziehungen ausserhalb der Familie zu den wichtigsten werden, sind solche Verluste besonders gravierend.

Wie reagieren Kinder auf diese Schocks?

Am Anfang des Krieges haben wir viele Panikattacken gesehen. Jetzt, wo der Krieg schon länger anhält, sind diese ersten Schockreaktionen länger anhaltenden, tiefen Gefühlen und Traumareaktionen gewichen.

Von welchen Gefühlen reden wir genau?

Wir sprechen von Depressionen, von Apathie. Von Suizidgedanken, Selbstverletzung. Von Essstörungen. Das alles sind Anzeichen tiefgreifender Traumata. Viele Kinder sind in der Schule schlechter geworden, auch das ist eine Traumafolge. Ihr Hirn ist so stark unter Stress, dass sie sich kaum konzentrieren können. Jüngere Kinder werden oft aggressiv, mobben einander. Das liegt daran, dass sich die Konflikte des ganzen Landes in den zwischenmenschlichen Beziehungen von Kindern zeigen: In Schulklassen haben einige Kinder Väter, die an der Front gefallen sind, andere Kinder haben Väter, die nicht in der Armee dienen. Diese Gegensätze müssen die Kinder aushalten.

Seit 2015 arbeiten Sie mit Kindern zusammen, die vom Krieg betroffen sind. Wie hat sich Ihre Arbeit seit dem Grossangriff von 2022 verändert?

Wir sind jetzt in der ganzen Ukraine in Gefahr, es gibt keine sicheren Orte mehr. Vor der Eskalation konnte ich für die Kinder, die im Osten an der Front lebten, in der Westukraine Sommerlager organisieren. So hatten sie immerhin ein, zwei Wochen Frieden. Das geht jetzt nicht mehr. Auch im Westen des Landes kann jederzeit eine ballistische Rakete einschlagen. Wir können dem Krieg nicht mehr entkommen.

Viele Kinder in der Ukraine haben nur noch Online-Unterricht, manche können gar nicht mehr zur Schule. Welche Konsequenzen hat das?

Den Kindern fehlen entscheidende Fähigkeiten. Viele entwickeln Sprachstörungen, weil sie weniger sprechen. Andere lernen nicht, auf andere Kinder zuzugehen, was später zu sozialen Problemen führen kann. Kinder sind auf die Sozialisierung in Gruppen angewiesen, sei das in der Schule oder einfach dadurch, dass sie frei draussen herumrennen dürfen. Beides geht in manchen Gebieten der Ukraine nicht. Das ist fatal.

Was brauchten diese Kinder, um diese Defizite auszugleichen?

Eltern von jüngeren Kindern bitten uns oft um Sprachtherapie, damit die Defizite ihrer Kinder beim Sprechen ausgeglichen werden. Wir bieten auch Mal- und Gruppentherapien an, wo die Kinder lernen, miteinander zu interagieren. Aber die Lage ist schwierig: Wir brauchen viel mehr Personal. Fast alle gut ausgebildeten Therapeuten sind geflüchtet.

Über eine Million Kinder leben in Gebieten, die regelmässig bombardiert werden. Wie gehen Kinder damit um?

Sie gewöhnen sich an die Sirenen, wie wir Erwachsenen auch. Sie können die Geräusche von Drohnen und Artillerie unterscheiden und hören, ob ein Geschoss auf sie zu- oder von ihnen wegfliegt. Eine Freundin erzählte mir, dass sie kürzlich in Sumi mit ihrer Tochter am Fenster gestanden habe. Als plötzlich ein Kampfjet über die Stadt hinwegflog, warf sich ihre Tochter sofort auf den Boden und brachte sich in eine Schutzposition. Meine Freundin sagte zu ihr: «Oh, ich wusste gar nicht, dass du das kannst.»

Kinder müssen im Krieg wahnsinnig schnell erwachsen werden.

Ja, und gleichzeitig haben sie eine ganz andere Sicht auf die Situation um sie herum als wir. Erwachsene sind traurig und wütend über das, was ihnen widerfährt, weil sie den Krieg mit ihren Erfahrungen davor vergleichen. Kinder tun das nicht – viele kennen gar nichts anderes als Krieg. Sie nehmen die Situation so hin, wie sie ist. Als ich einmal im Winter ein schwer zerstörtes Dorf besuchte, um dort Kinder zu betreuen, dachte ich zuerst: Was für ein schreckliches Schicksal, die armen Kinder. Aber das Erste, was ich von ihnen hörte, war: «Lass uns schlitteln, es schneit so schön!» Kinder finden immer irgendwo Freude.

Trotzdem prägen die traumatischen Ereignisse des Krieges. Wie können Eltern in dieser Situation für ihre Kinder da sein?

Sie können lernen, wie das Trauma ihrer Kinder funktioniert und wie sie mit ihren Kindern in Verbindung treten können. Eltern sollten die Gefühle ihrer Kinder ernst nehmen. Manche Eltern sagen ihren Söhnen: «Wein nicht, du bist doch ein guter Junge!» Wir sagen ihnen, dass sie das nicht tun sollen. Solche Emotionen sind eine ganz natürliche Reaktion auf das, was diese Kinder erleben. Diese Gefühle sollten validiert werden, damit die Kinder sie verarbeiten können.

Fällt es Eltern schwer, für ihre traumatisierten Kinder da zu sein?

Ja, manchmal schon. Oft sind nicht nur die Kinder traumatisiert, sondern auch die Eltern. Dann ist wichtig, dass Eltern mit ihren Kindern darüber sprechen. Dass sie zum Beispiel sagen: «Mama geht es gerade nicht gut, aber wir schaffen das zusammen.» Wenn Sie mit Ihrem Kind offen sind, wird Ihr Kind auch offen mit Ihnen sein.

Muten die Eltern ihren Kindern nicht umso mehr zu, wenn sie ihnen das eigene Leid zeigen?

Nein, sie ermöglichen ihrem Kind, einzuordnen, was um es herum passiert. Wir hatten in einem unserer Zentren ein altes Ehepaar, das mit seinem Enkel kam. Dessen Mutter, die Tochter der beiden, war bei der Bombardierung von Mariupol getötet worden, doch seine Grosseltern verschwiegen ihm das. Irgendwann wurde er traurig und apathisch, redete nicht mehr. Er spürte, dass etwas nicht stimmt. Erwachsene haben oft das Gefühl, dass Kinder klein und schwach sind. Aber das ist falsch. Kinder sind sehr stark. Manchmal sind sie sehr mutig, manchmal sind sie voller Energie. Ihre Sicht auf die Dinge, ihr Verständnis einer Situation ist manchmal sehr tiefgründig. Wir dürfen sie nicht unterschätzen.

Gibt es ein Kind, das Ihnen in all den Jahren besonders geblieben ist?

2015, ganz am Anfang des Krieges, habe ich in einem Dorf an der Front zehn Kinder betreut. Die Kinder waren alle nett zu mir, ausser ein Junge. Er hat angefangen, Spielzeug aus unserem Raum zu stehlen. Ich habe mich entschieden, ihn nicht zu bestrafen. Stattdessen habe ich behauptet, der Bürgermeister würde unsere Treffen verbieten, wenn die Spielzeuge nicht auftauchten. Der Junge ist aufgestanden und hat sofort alles zurückgebracht. Da habe ich gemerkt: Unsere Treffen liegen ihm am Herzen. Was ich mache, ist wichtig. Er wurde nett zu den anderen Kindern, hat sich geöffnet. Inzwischen ist er erwachsen geworden, er ist jetzt Feuerwehrmann. Und wird wahrscheinlich bald vom Militär eingezogen. So wie viele der Kinder, die ich einst betreut habe.

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