Donnerstag, April 24

Ein Historiker des modernen China sagt, Xi Jinping habe den Moment verpasst abzutreten. Der Experte sieht grosse Parallelen zwischen Xi und Mao – mit einem entscheidenden Unterschied.

Herr Delury, China nennt sich in seiner Verfassung eine «demokratische Diktatur des Volkes». Ist China eine Diktatur?

Darüber denke ich ständig nach. Wie erkläre ich China meinen Studenten und Leuten, die noch nie dort gelebt haben? Wie sich Chinas Regierung selbst beschreibt, wie die gelebte Erfahrung vor Ort ist und in welche Richtung China sich entwickelt – je nachdem, worauf man den Blick wirft, fällt die Antwort anders aus. Auf jeden Fall ist China kein totalitärer Staat. Das entspricht einfach nicht der Lebensrealität der Menschen.

Eine Marketingfachfrau in Schanghai würde Ihnen sicher zustimmen. Ein Uigure in Urumqi eher nicht.

Ja, absolut. Es gibt Regionen in China, wo die Menschen unter totalitären Bedingungen leben. In Xinjiang zum Beispiel oder in Tibet. Und es gibt Aspekte des Überwachungsstaats, die von totalitären Ambitionen zeugen, die während der Corona-Pandemie landesweit ausgebaut wurden. Solche Überwachungsinstrumente wurden jedoch auch in Demokratien ausgebaut.

Was heisst das nun? Ist China eine Diktatur?

Sie haben es gesagt: China nennt sich selbst eine Diktatur. Aber wenn China von aussen als Diktatur bezeichnet wird, dann kommt Protest aus Peking.

Weshalb ist das so?

Der Begriff «Diktatur» ist im westlichen Verständnis ein Schimpfwort, aber in China ist der Begriff positiv konnotiert. Es meint die Herrschaft des Volkes oder der Partei, die das Volk repräsentiert. In Anlehnung an die alte marxistische Ideologie ist auch von der «Diktatur des Proletariats» die Rede – im Gegensatz zu Demokratien, die aus offizieller Sicht Chinas nichts anderes sind als die Herrschaft der Bourgeoisie über die anderen Klassen. Kinder lernen in China schon früh, dass die Diktatur des Volks, der Partei, des Proletariats etwas Gutes ist. Es ist nicht gleichzusetzen mit der Diktatur eines einzelnen Parteikaders wie Xi Jinping.

Also bezeichnet sich China als Diktatur, aber Xi nicht als Diktator. Biden hat dies jedoch mehrfach getan – auch die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock. Haben sie unrecht?

Biden und Baerbock haben nicht unrecht. Das ganze System hat sich in den letzten Jahren in Richtung einer personalisierten Diktatur Xi Jinpings entwickelt. Das hat viele Beobachter der chinesischen Politik überrascht.

Sie sind Historiker. Wiederholt sich hier die Geschichte – erleben wir einen zweiten Mao?

Es gibt Parallelen, aber auch einen entscheidenden Unterschied. Maos personalisierte Diktatur stand in ständigem Konflikt mit der Diktatur der Partei. Er hat es fertiggebracht, bis zu seinem Tod den Anschein zu erwecken, dass er die volle Kontrolle hatte. Heute wissen wir aus historischen Dokumenten, dass dem nicht so war. Er scheiterte zuweilen, seine politischen Massnahmen durchzusetzen.

Zum Beispiel?

Die letzte grosse Phase des Maoismus, die Kulturrevolution, war ein Versuch Maos, seine personalisierte Diktatur wiederherzustellen. Er hat die Jungen auf den Sitz der Kommunistischen Partei und ihre Führungsfiguren losgelassen, um seine Oberherrschaft zurückzuerlangen und die Parteidiktatur zu zerstören. Deng Xiaoping ist als Gegenreaktion darauf als neuer Führer hervorgegangen. Er wollte verhindern, dass sich jemand über die Partei erhebt, wie es Mao getan hatte, und führte Amtszeitbeschränkungen ein für den Parteivorsitz. Diese Säule der Deng-Ära hat Xi niedergerissen. 2018 liess er die Amtszeitbeschränkungen aus der Verfassung entfernen. Ich denke, politische Historiker des modernen China werden diesen Moment später als den wohl herausragendsten bezeichnen von Xi Jinpings Herrschaft. Mit diesem grossen Schritt hat er die personalisierte Diktatur wiederhergestellt.

Was ist nun der entscheidende Unterschied zwischen Xi und Mao, den Sie angesprochen hatten?

Xi hat nie versucht, seine personalisierte Diktatur gegen die Parteidiktatur auszuspielen. Er ist so etwas wie eine Verschmelzung von Deng und Mao. Er ist nicht gegen die Partei. Aber er hat die Ideen der kollektiven Führerschaft der Deng-Ära verworfen und will in seinem eigenen Namen regieren. Es ist interessant: Mao, Deng und Xi, das ist ein bisschen wie These, Antithese, Synthese.

Wie stark identifiziert sich Xi mit der Partei und dem «Sozialismus chinesischer Prägung»? Glaubt er selbst daran?

Alles deutet darauf hin, dass die Partei im Zentrum von Xi Jinpings Identität liegt. Xis Vater, der zur Generation von Mao gehörte, war einer der Ersten, der einer Säuberung zum Opfer fiel. Die ganze Familie litt darunter. Aber Xis Vater kam daraus hervor mit einer tiefen Überzeugung über die Bedeutung der Partei. Xi übernahm diese Überzeugung. Mao sah sich selbst als grösser an als die Partei. Xi ist anders. Ihm steckt die Partei in den Knochen. Er denkt, er sei am besten für die Partei, und die Partei sei am besten fürs Land.

Gibt es denn überhaupt keine Spannung zwischen Xis Plänen und den Parteiinteressen? Ist alles harmonisch?

Es gibt Spannung, aber sie ist nicht so intensiv wie in der Mao-Ära. Mao war ein ganz anderer politischer Akteur. Er liebte das Chaos. Xi hingegen will Stabilität und Sicherheit. Aber zurück zu Ihrer Frage: Als Xi 2018 die Amtszeitbeschränkungen aufhob, gab es Murren unter Parteimitgliedern. Ein Gefühl, dass Xi zu weit gegangen war, dass die Partei einen Rückschritt gemacht hatte. Dass eine ordentliche Amtsübergabe nach zehn Jahren nötig ist, damit die Partei die Oberhand behält.

Wo zeigen sich solche Spannungen?

Etwas, was mich komplett überrascht hat, waren die Proteste gegen die Corona-Politik von Xi Jinping vor einem Jahr. Ich meine, es war einfach unvorstellbar, dass die Crème de la Crème der Nation, diejenigen, die selber auf dem Weg sind, hochrangige Parteimitglieder zu werden, Studenten der besten Universitäten, Unzufriedenheit mit Xi Jinping demonstrierten. So etwas hat es seit 1989 nicht gegeben. Viele der Protestierenden und Sympathisanten waren wohl Parteiloyalisten. Die wollen nicht die Kommunistische Partei abschaffen oder das ganze System auf den Kopf stellen. Aber sie mögen nicht, welche Richtung Xi Jinping eingeschlagen hat und wohin sich das Land unter seiner Herrschaft entwickelt.

Ist Xi unbeliebt geworden?

Xi war sehr populär in seiner Anfangszeit. Die Menschen störten sich an der schwachen, technokratischen, kollektiven Führung der Hu-Jintao- und der Jiang-Zemin-Jahre. Sie wollten einen starken Mann. Mir sagten einige Chinesen damals, 2011, 2012, dass sie sich jemanden wünschten wie Wladimir Putin. Xi war die Antwort auf diesen Impuls aus der Partei und dem Volk. Sein erster Tiefpunkt war, als er die Amtszeitbeschränkungen aufhob, sein zweiter waren die Proteste Ende 2021. Er wäre als sehr beliebter Herrscher in die Geschichte eingegangen, wenn er nach zwei Amtszeiten zurückgetreten wäre. Wahrscheinlich hätte er aus dem Hintergrund die Strippen ziehen können. Doch er entschied sich, an der Macht zu bleiben.

Wie wichtig ist es für Xi, gemocht zu werden?

Er nimmt die Unzufriedenheit wahr und reagiert darauf. Momentan trifft er alle möglichen ausländischen Staatsführer und Unternehmer, um zu zeigen, dass er für eine offene Wirtschaft steht. Er möchte ein innenpolitisches Signal senden an alle, die hoffen, dass es der Wirtschaft wieder besser geht.

Das zeigt mir, dass China weit davon entfernt ist, ein zweites Nordkorea zu sein. Gibt es so etwas wie eine gut funktionierende Diktatur?

Xi Jinping hat von Beginn seiner Amtszeit weg die Kontrolle verschärft und den Spielraum der Provinzen und der privaten Unternehmen verringert. Das tat er im Zuge des Kampfs gegen die Korruption, der zum einen tatsächlich Korruption bekämpfte, aber auch die Autonomie von lokalen Akteuren beschränkte. Deng hingegen hat die Provinzen von der Leine gelassen und sie zum Experimentieren aufgefordert. Jetzt machen die Provinzen wieder nur, was sie denken, dass die Zentralregierung will, aus Angst vor Bestrafung. Das ist noch kein Regierungsstil Nordkoreas. Aber die Chinesen witzeln schon selber. Sie sagen: «Wir werden immer mehr wie die da drüben.»

Was glauben Sie, schwingt das Pendel der Kontrolle und Unterdrückung irgendwann wieder zurück in Richtung Freiheit?

Unter Xi ist das Pendel nie wirklich zurückgeschwungen. Das ist bemerkenswert. In der Geschichte der Volksrepublik gab es immer wieder Phasen der Entspannung, die sich mit Phasen der Anspannung abwechselten. Aber die letzten Zehn Jahre waren ausschliesslich von wachsender Repression gekennzeichnet. Gegen Tibeter und Uiguren, aber auch gegen Han-Chinesen, Bürgerrechtsanwälte, Nichtregierungsorganisationen. Die Schläge gegen die Zivilgesellschaft waren härter denn je.

Was kommt nach Xi Jinping?

Wenn uns die Geschichte der Volksrepublik etwas gelehrt hat, dann kommt nach Xi jemand, der ziemlich anders ist. Vielleicht ein neuer Deng?

Die Partei bleibt?

Ja. Es gibt keine Stimmen, die die Partei aufbrechen wollen, wie es in den achtziger Jahren der Fall war. Die Kommunisten haben sich jetzt über siebzig Jahre an der Macht gehalten und grosse Resilienz bewiesen. Wie rasch Chinas Regierung die Demokratie in Hongkong ausgemerzt hat, schreckt Aktivisten auf dem Festland ab. Und was wäre überhaupt die Alternative zum Einparteistaat? Viele Chinesen schauen in die USA als das grosse Gegenbeispiel, aber die erleben auch nicht gerade ihren besten Moment. Das dortige Zweiparteien-Modell ist kaum ein Abbild einer gesunden Demokratie.

Zur Person

John Delury – Historiker

John Delury beschäftigt sich mit der modernen Geschichte Chinas, Nord- und Südkoreas. Zurzeit absolviert er einen einjährigen Forschungsaufenthalt an der amerikanischen Akademie in Rom, wo er ein Buch über das chinesische Imperium der Ming- und der Qing-Dynastie schreibt. Er ist Professor am Institut für Sinologie an der Yonsei-Universität und am Underwood International College in Seoul.

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