Mittwoch, Februar 5

Die Zahl der Menschen mit einer ADHS-Diagnose steigt stetig. Was heute als Problem gilt, war einst womöglich ein evolutionärer Vorteil.

Der Knabe ist leicht ablenkbar und lässt sich von seiner Neugier treiben. Während die anderen bereits das Nachtlager aufschlagen, streift er noch umher. Plötzlich entdeckt er die frische Spur eines Raubtiers. Einmal mehr warnt er seinen Stamm rechtzeitig vor einer potenziellen Gefahr.

Das fiktive Beispiel aus einem prähistorischen Kontext zeigt: Die Kernsymptome der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) – wie die leichte Ablenkbarkeit heute genannt wird – können auch als Abenteuerlust und erhöhte Wachsamkeit bezeichnet werden. Und diese sind durchaus nützlich.

«Betrachtet man Krankheitsbilder aus einer evolutionären Perspektive, erscheinen sie in einem anderen Licht», sagt der Anthropologe Adrian Jäggi. Er lehrt am Institut für evolutionäre Medizin der Universität Zürich und beschäftigt sich mit der Frage, warum Krankheiten entstehen. Ein zentrales Konzept ist der sogenannte «evolutionary mismatch», die genetische Fehlanpassung.

Die Idee dahinter ist, dass der Mensch während 95 Prozent seiner Entwicklungsgeschichte in Jäger-und-Sammler-Gemeinschaften gelebt und sich optimal an diese Lebensweise angepasst hat. «Gut angepasste Eigenschaften können nachteilig werden, wenn ein Organismus in einer Umwelt lebt, die stark von derjenigen abweicht, in der er sich entwickelt hat», sagt Jäggi.

Genetische Spezialisierung führt zu Problemen in der Schule

ADHS ist zu einem grossen Teil genetisch bedingt. Neben einem starken Bewegungsdrang haben betroffene Kinder im Vergleich zu Gleichaltrigen mehr Mühe, ihre Aufmerksamkeit und ihre Impulse zu kontrollieren. Was in einer anderen Umwelt gut angepasste Eigenschaften waren, wie Wachsamkeit und Abenteuerlust, sind im Schulalltag weniger gefragt und führen eher zu Problemen.

Die Kinder sitzen damit in einer Art «evolutionären Falle». Sie brechen häufiger die Schule ab und sind gefährdeter als andere Kinder, Suchterkrankungen und Depressionen zu entwickeln oder gar kriminell zu werden. Und weil die Evolution langsam wirkt, vor allem wenn sich ein Merkmal nur minim auf den Fortpflanzungserfolg auswirkt, braucht eine Anpassung an neue Lebensbedingungen viele Jahrtausende.

Das klingt plausibel, aber empirische Beweise für diese evolutionäre These gibt es bis anhin nur wenige. Die britische Psychiaterin Annie Swanepoel gibt ein vielzitiertes Beispiel, das die These stützt: In einem kenyanischen Volk trägt etwa ein Siebtel der Menschen eine genetische Variante des Dopaminrezeptors, die mit der Eigenschaft Neugier und der konstanten Suche nach neuen Reizen verbunden ist. Man findet sie auch gehäuft bei Menschen mit ADHS.

Die Besonderheit bei dem kenyanischen Volk ist, dass nur ein Teil der Menschen ein nomadisches Leben führt. Andere Familien leben dagegen sesshaft in Dörfern. Man kann sich vorstellen, dass Nomaden von Neugier und Abenteuerlust eher profitieren als Sesshafte. Tatsächlich sind die nomadischen Träger der Genvariante laut der Studie gesund und gut genährt, während die sesshaften weniger gut genährt waren als der Durchschnitt. Das passt gut zu der Idee, dass es sich bei ADHS um eine evolutionäre Falle handelt.

Die evolutionäre Hypothese ist schwierig zu testen

«Es ist gar nicht einfach, evolutionäre Hypothesen zu testen. Eine Möglichkeit wäre, die Fitness, also den Fortpflanzungserfolg, von Menschen zu erfassen, die einen traditionellen Lebensstil führen», sagt der Anthropologe Jäggi.

Denn hätten auch Personen mit Symptomen von ADHS einen durchschnittlichen Fortpflanzungserfolg, so wäre das ein Indiz dafür, dass sie mit ihrer Besonderheit normal angepasst sind, sagt er. Unabhängig vom evolutionären Erfolg wäre es aber auch interessant, zu wissen, wie zufrieden und sozial integriert diese Menschen sind. Das Team von Jäggi hat eine solche Studie begonnen.

Der Wissenschafter der Universität Zürich ist nicht nur an ADHS interessiert, sondern auch an Autismus, Persönlichkeitsstörungen und anderen psychischen Erkrankungen. Denn er vermutet, dass es sich auch dabei um extreme Ausprägungen von Verhaltensweisen handelt, die in der Evolution als gut angepasste Spezialisierungen entstanden sind.

Dies würde erklären, warum die genetischen Grundlagen dieser Merkmale heutzutage so weit verbreitet sind. Hätten sie nur Nachteile, wären sie über die vielen Jahrtausende der Evolution aussortiert worden.

Die Wissenschafter untersuchen die Tsimané in Bolivien

Jäggis Team untersucht nun, ob Verhaltensmuster, die für verschiedene psychische Krankheiten typisch sind, in indigenen Gesellschaften auftreten. Die Forscherinnen und Forscher arbeiten dafür mit einem Volk, das in kleinen Gemeinschaften ziemlich abgeschieden im Regenwald von Bolivien lebt, den Tsimané.

Diese Menschen sind den ganzen Tag auf den Beinen. Sie ernten Gemüse und Getreide, sammeln Früchte, jagen und angeln. Ihre Lebensweise ähnelt jener unserer prähistorischen Vorfahren mehr als unsere heutige.

Camila Scaff, eine Wissenschafterin in Jäggis Team, hat viele Monate bei den Tsimané verbracht und in stundenlangen Gesprächen herauszufinden versucht, wie man nach Verhaltensmustern wie Hyperaktivität oder wenig Interesse an sozialen Kontakten fragt. Als Grundlage dienen ihr die Fragebögen, die auch für die Erhebung von ADHS, Autismus und anderen Erkrankungen verwendet werden.

Einige Verhaltensmuster finden sich bei den Tsimané nicht

«Es geht uns nicht darum, Diagnosen zu stellen. Es wäre nicht angebracht, Menschen aus einer anderen Kultur Diagnosen aus unserem Kulturkreis anzuhängen. Wir wollen aber wissen, ob gewisse Verhaltensmuster dort auch auftreten und ob sie von dem abweichen, was dort als Norm gesehen wird», erklärt sie.

Allerdings ergeben viele Fragen in der Kultur der Tsimané wenig Sinn. Sie erzählt: «Die Leute schauen mich ratlos an, wenn ich frage ‹Mit welcher Häufigkeit entspannst du dich, wenn du Zeit für dich hast?›. Denn erstens sind sie fast nie allein, sie haben kaum Zeit für sich. Und zweitens arbeiten sie den ganzen Tag. Sie haben keine Freizeit, wie wir sie kennen», sagt Scaff. Die Fragebögen mussten daher stark angepasst werden.

Noch liegen keine Ergebnisse der Studie vor. Aber aufgrund der Vorgespräche vermutet Scaff, dass gewisse Verhaltensmuster bei den Tsimané nicht auftreten und dass bei anderen die Norm woanders liegt.

«Bei uns fallen hyperaktive Kinder oft in der Schule als störend auf», sagt die Anthropologin. Doch bei den Tsimané, wo die Schule nicht so lange dauere und im Freien stattfinde, könnten sich die Kinder mehr bewegen. Und wenn ein Kind stören würde, so nähme das der Lehrer hin. Kurz, bei den Tsimané würde ein Kind, das immer stillsitze, eher auffallen. Möglicherweise würde man sich fragen, was mit dem Kind nicht stimme.

Andere Verhaltensweisen dürften in allen Kulturen negative Konsequenzen haben. «Wenn jemand eine ihm anvertraute Aufgabe nicht abschliessen kann, dann werden die Leute nicht mit ihm arbeiten wollen», sagt sie. Aber die Tsimané arbeiteten nicht allein an einem grossen Projekt, und ihr Tagesablauf sei nicht so eng getaktet wie der unsrige. Dadurch ist es weniger gravierend, wenn jemand Mühe hat, bei einer Sache zu bleiben.

Die evolutionäre Hypothese legt den Fokus auf die Stärken

Aber welche Relevanz haben solche Vergleiche für Kinder in unserer modernen Lebenswelt? Swantje Matthies erforscht ADHS und leitet die Spezialsprechstunde für ADHS am Universitätsklinikum Freiburg im Breisgau. Sie sagt: «Die Hypothese kann den Betroffenen helfen, zu verstehen, warum sie anders sind.»

Zudem betont diese Herangehensweise die Stärken von Menschen mit ADHS. Zwar ist für viele in unserer Kultur ADHS mit viel Leid verbunden. «Aber manche nutzen die Symptome auch als ihr Kapital und brillieren vielleicht als Schauspieler oder als Sportlerin.»

Ob das gelingt, ist aut Matthies abhängig vom Schweregrad der Symptome, aber auch davon, ob jemand gelernt hat, mit den Symptomen umzugehen. Und nicht zuletzt hängt es davon ab, ob man ein passendes Umfeld für sich findet.

Das Ziel ist, dass die Menschen eine Tätigkeit finden, in der sie ihre Stärken ausspielen können und ihre Schwächen weniger ins Gewicht fallen. Wenn sie eine passende Nische finden, können sie der «evolutionären Falle» entgehen.

Ein Artikel aus der «»

Exit mobile version