Einige Buben und Mädchen zeigen kaum Empathie. Vorzeichen dafür sind schon früh erkennbar – und mit der Hilfe von Psychologen können Eltern gezielt gegensteuern.
Auf den ersten Blick ist Joel ein gewöhnlicher Siebenjähriger, der mit seiner Mutter «Uno» spielt. Doch das Zimmer, in dem die beiden spielen, hat einen Einwegspiegel: Daraus beobachtet sie die leitende Psychologin der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel. Über einen Knopf im Ohr teilt sie Joels Mutter mit, wann sie ihm sagen soll: «Das hast du gut hingekriegt» oder «Schön spielst du gerade.» Es ist der erste Teil einer Therapie, der Mutter und Kind zeigen soll, dass sie miteinander eine schöne Zeit verbringen können.
Davon gab es in den Jahren zuvor nur wenig. Joel, der eigentlich anders heisst, neigt zu Gewaltausbrüchen. Nach dem Sportunterricht hat er einem Kind in den Bauch getreten. Nicht zum ersten Mal. Die Aggressionen des Schülers seien stets zielgerichtet und berechnend, berichten seine Lehrer. Am auffälligsten sei, dass Joel nach den Attacken keinerlei Reue oder Mitgefühl mit seinen Opfern zeige. Zu denen gehören auch die Lehrer selbst. Als gar nichts mehr geht, schalten sie den Kinder- und Jugendschutz ein. Joel fliegt von der Schule.
Joel leidet unter einer speziellen Form einer Störung des Sozialverhaltens. Er weist «kühl-emotionslose Züge» auf. Deshalb sei er nur in geringem Masse fähig, Empathie und Schuldgefühle zu empfinden, sagt die behandelnde Psychologin Christina Stadler. In besonders ausgeprägten Fällen empfinden diese Kinder zudem weniger Angst als unauffällige Gleichaltrige. Stadler erforscht diese Verhaltensauffälligkeit, von Fachleuten «callous-unemotional» oder CU-Züge genannt, an der Universität Basel.
Kinder können Emotionen anderer kaum mitfühlen
Die meisten Kinder lernen, wenn Eltern oder Beziehungspersonen ihnen die Konsequenzen ihres Verhaltens aufzeigen. Bei CU-Kindern ist dies nicht der Fall. Was ebenfalls nicht funktioniert, sind Hinweise wie «Schau mal, du hast dem Jungen weh getan. Jetzt weint er.» Bei unauffälligen Kindern ist ein Streit um ein Spielzeug im Sandkasten meist dann beendet, wenn eines der Kinder zu weinen beginnt. Oft ist es sogar das aggressivere von beiden, das dann einlenkt. Bei CU-Kindern greift dieser Effekt nicht, weil sie Emotionen im Gegenüber kaum mitfühlen können – auch wenn ihr Verstand problemlos erfasst, was ihre Attacken beim anderen Kind auslösen.
Ab einem Alter von vier Jahren können Forscher kühl-emotionslose Züge zuverlässig feststellen. Es gibt aber schon deutlich früher Anzeichen. Britische Wissenschafter untersuchten dafür 2015 in einer grossen Studie, ob fünf Wochen alte Säuglinge eher einem menschlichen Gesicht oder einem roten Ball nachschauten.
Nach 2,5 Jahren bewerteten die Mütter das Verhalten ihrer Kinder auf einer Skala. Diejenigen Säuglinge, die mit ihrem Blick lieber Bällen statt Gesichtern gefolgt waren, zeigten als Kleinkinder häufiger das auffällige Verhalten.
Zur Diagnose taugen die frühen Unterschiede im Verhalten von Säuglingen nicht. Doch dass sich die Kinder schon so früh von anderen unterscheiden, deutet auf einen genetischen Ursprung des Verhaltens hin. Mehrere grosse Studien an Zwillingen bestätigen das: Sie schätzen, dass bis zu zwei Drittel des Verhaltens auf eine genetische Veranlagung zurückgeführt werden kann.
Das heisst aber nicht, dass sich dagegen nichts unternehmen lässt. Eltern von so veranlagten Kindern können mit einer warmherzigen Erziehung und viel Geduld gegensteuern. In der Erziehung von CU-Kindern ist es nötig, dass die Eltern den Kindern wieder und wieder beibringen, ihre Emotionen zu erkennen und ihr Verhalten zu steuern.
Das Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit fehlt
Sind die Eltern mit dem Alltag überlastet, psychisch erkrankt oder leben sie in Armut, so fehlt dafür aber die nötige Energie. In einem solchen Umfeld entwickeln diese Kinder deshalb häufiger ausgeprägte kühl-emotionslose Züge.
Dann können bereits ab dem Kleinkindalter körperliche Aggressionen auftreten, die sich gegen Gleichaltrige oder Tiere richten. «Später kann sich Mobbing gegenüber Mitschülern zeigen», sagt die Psychologin Essi Viding, die am University College London zur psychischen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen forscht.
«Ab dem Grundschulalter lernen diese Kinder, andere für ihre Zwecke zu manipulieren.» Typisch für solche Kinder seien deshalb nur kurzzeitige Zweck-Freundschaften. «Hat ein Freund für ein CU-Kind keinen Nutzen mehr, lässt dieses ihn links liegen», sagt Viding.
Dieser Wesenszug liegt aber auch daran, dass ihnen das Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit fehlt. Er äussert sich auch in ihrer Hirnaktivität, die weniger stark auf soziale Information reagiert als bei anderen Kindern.
So hat die Psychologin Viding im Jahre 2017 gezeigt, dass Jungen mit CU-Zügen nur schwach auf das Lachen anderer Kinder reagieren. Bei gesunden Kindern reagiert das Emotionszentrum dagegen stark, wenn sie andere Menschen lachen sehen.
Auch die Amygdala ist bei Kindern mit ausgeprägten kühl-emotionslosen Zügen weniger aktiv. Die mandelförmige Hirnregion spielt unter anderem bei der Erkennung von Gefahren und der Entstehung von Angst eine Rolle. Ihre Aktivität ist auch bei einer späteren Psychopathie ähnlich reduziert. Die landläufige Bezeichnung «Psychopath» wird im Kindesalter aber vermieden, weil sie Eltern und Kinder stigmatisieren würde.
Eltern sind stark herausgefordert
«Die Situation ist für die Eltern im Alltag schon beschämend genug», sagt Christina Stadler. «Joels Mutter wollte sich nicht mehr sagen lassen, wie schlimm alles sei und dass sie versagt habe.»
Joels Mutter war selbst traumatisiert. Sie war von ihrem mittlerweile geschiedenen Mann geschlagen worden, und der Junge hatte alles mit angesehen. Joels Wutausbrüche ängstigten sie. Sie befürchtete, ihr Sohn könnte genauso werden wie sein Vater. «Das setzte die Mutter unter enormen Stress», sagt Stadler.
Zu Hause schaffte sie es deshalb nicht mehr, Regeln durchzusetzen. Joel verbrachte viele Stunden mit Computerspielen. Bat sie ihn, damit aufzuhören, gab es heftigen Streit. Häufig schwoll ihre eigene Wut mit Joels Aggressionen an. Dann war sie zunächst zu streng, lockerte dann die Regeln aber wegen ihres schlechten Gewissens wieder.
Stadler musste Joels Mutter deshalb erst einmal zeigen, ihre eigenen Emotionen in den Griff zu bekommen. Dazu gehörte, ihr das eigene Trauma vor Augen zu führen.
In der Therapie lernen Kinder, ihr Verhalten zu steuern
Joel selbst wurde für die Therapie stationär im Spital aufgenommen. Dort arbeitet Stadler mit Joel und seiner Mutter in der Eltern-Kind-Therapie. In der Therapie soll Joel lernen, seine Emotionen zu erkennen.
Sobald er aggressiv wird, setzt er sich auf einen Time-out-Stuhl. Das ist keine Bestrafung, sondern hilft ihm dabei, im richtigen Moment eine Pause einzulegen. Dieses Verhalten wird in der Therapie immer wieder geübt. Zum Beispiel, indem die Mutter bewusst einen Konflikt provoziert, etwa wenn sie sagt: «So Joel, jetzt musst du aufräumen.» Während der Therapie leitet Stadler die Mutter vom Nebenzimmer her an.
Dies ergänzt Stadler durch weitere verhaltenstherapeutische Massnahmen. Statt Joel bei einem Wutausbruch einfach nur auf den Pausen-Stuhl zu setzen, hat sie gemeinsam mit der Mutter einen verhaltenstherapeutischen Verstärkerplan entwickelt, bei dem er Punkte sammeln kann.
Verhält sich Joel freundlich gegenüber der Mutter, bekommt er zwei Punkte. Einen Punkt erhält er, wenn er bemerkt, dass er aggressiv wird und sich deswegen ein Time-out nimmt. «Sein Verhalten auf diese Weise zu steuern, ist eine enorme emotionale Leistung für Joel», sagt Stadler. Mit den gesammelten Punkten darf sich Joel am Ende etwas wünschen.
Emotionale Anleitung bleibt wichtig
Mithilfe der Verhaltenstherapie hat Joel gelernt, besser mit seinen eigenen Emotionen umzugehen. Die Therapeuten und seine Mutter haben ihm beigebracht, seine Emotionen selbst zu benennen oder auf einem Schieberegler einzuordnen.
Dabei haben Sätze geholfen wie: «Jetzt bist du traurig, weil du nicht gewonnen hast.» Diese emotionale Anleitung ist – auch im Nachgang an die erfolgreich absolvierte Therapie – noch sehr wichtig. Kinder mit kühl-emotionslosen Zügen brauchen diese Zuordnung eigentlich ständig.
Schaffen es Eltern, mit viel Durchhaltevermögen dranzubleiben, sind die Aussichten auf eine Verhaltensänderung gut. Das zeigt eine australische Studie. Noch Monate nach Therapieende waren die Kinder besser in der Lage, ihre Emotionen zu kontrollieren, als vor der Therapie.
Nach fünfmonatigem Stationsaufenthalt ist Joel wieder zu Hause. Es läuft gut. Die gemeinsam erlebte Spielzeit hat ihm und seiner Mutter gezeigt, dass sie eine schöne Zeit miteinander verbringen können. Er besucht auch wieder die Schule.
Das Basler Therapeutenteam war mehrmals zu Hause zu Besuch, um den Verstärkerplan zu besprechen, der am Kühlschrank hängt. Joel und seine Mutter haben ihn konsequent umgesetzt. Mittlerweile hat Joel genügend Punkte gesammelt, um sich einen Wunsch zu erfüllen. Was er sich wünscht? Einen Ausflug mit der Mama.
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»