Nach dem Unfalltod eines fünfjährigen Mädchens in einer Zürcher Gemeinde fragen sich viele Eltern, ob ihre Kinder den Schulweg allein bewältigen können. Das ist verständlich. Sie sollten es ihnen trotzdem zutrauen.
Der Fall war tragisch, und er beschäftigt ein ganzes Dorf bis heute: Im vergangenen Spätsommer wurde in Oberrieden am linken Zürichseeufer ein fünfjähriges Mädchen von einem Kehrichtfahrzeug erfasst, als es zur Mittagszeit die Hauptstrasse im Ortskern überqueren wollte. Für die Kindergärtlerin kam jede Hilfe zu spät. Sie starb noch an der Unfallstelle.
Tragisch war der Unfall auch deshalb, da das Mädchen auf dem Fussgängerstreifen überfahren wurde. Die Passage im Dorfzentrum gilt als sicher. Die Strasse verläuft gerade, Auto- und LKW-Fahrer haben freie Sicht, der Fussgängerstreifen führt über eine Verkehrsinsel.
Gewiss, man könnte noch mehr tun für die Sicherheit von Fussgängern, in Oberrieden genauso wie in den übrigen 2130 Städten und Gemeinden der Schweiz. Die Exekutive des Zürcher Dorfes überlegt sich zum Beispiel, auch auf dieser Strasse Tempo 30 einzuführen, ein Rotlicht zu installieren oder eine Überführung zu bauen. Als Sofortmassnahme und bis auf weiteres sichern Verkehrslotsen den Übergang, montags bis freitags, immer zu Schulzeiten.
«Warte, luege, lose, laufe»
Das ist nachvollziehbar. Aber eine Garantie, dass Kindergärtler und Schulkinder dank solchen Massnahmen im Strassenverkehr nicht mehr verletzt werden oder zu Tode kommen, gibt es nicht. Der Weg zum Kindergarten, zur Schule, zum Mittagstisch oder zur Betreuung im Hort wird immer ein Risiko bleiben, selbst auf kurzen Strecken: Der Kindergarten des Opfers in Oberrieden liegt nur wenige Meter von der Unfallstelle entfernt.
Umso wichtiger ist es, dass Vier- bis Sechsjährige die wichtigsten Regeln für ihren Weg in den Kindergarten kennen. Sie sind einfach, einfach zu merken und seit Jahrzehnten unverändert: «Warte, luege, lose, laufe. Niä ränne!» Trams haben immer Vortritt.
Diese simplen Grundsätze sollten Eltern ihren Kindern zutrauen – egal, ob sie von zu Hause zum Kindergarten oder von dort zum Hort und wieder zurück unterwegs sind. Egal, ob im Dorf oder in der Stadt.
Den Weg zum Kindergarten allein zu bewältigen, ist für Kinder in diesem Alter eine grosse Sache. Der erste Schritt hinaus in die Selbständigkeit, hinaus ins Leben! Sie lernen, sich zurechtzufinden im Quartier. Sie entwickeln ein Gefühl für Raum (wie weit ist es noch bis zum Chindsgi?) und Zeit (wann muss ich zu Hause sein?). Sie sehen mit eigenen Augen, dass ein Trottoir kein Spielplatz ist (nicht auf dem Randstein balancieren!).
Das ist eine wichtige Erfahrung. Das können Pädagogen und Verkehrsinstruktoren kaum genug betonen.
Die meisten Kinder verunfallen abseits des Schulwegs
Allein, bei manchen Eltern überwiegt die Sorge, dass ihre Kinder all das nicht schaffen könnten. Gerade in einer Gemeinde wie Oberrieden, die noch immer tief getroffen ist vom Tod des Mädchens auf dem Fussgängerstreifen. Auch das ist verständlich. Viele Eltern verlangen Massnahmen, wie sie in Horgen seit Jahren und in Thalwil seit Oktober praktiziert werden: In beiden Nachbarorten der Zürcher Gemeinde werden Kindergärtler von Erwachsenen begleitet, wenn sie vom Kindergarten zum Hort und wieder zurück marschieren.
Das beruhigt und ist nach dem schlimmen Unfall von Oberrieden nachvollziehbar. Aber auch hier gilt: Absolute Sicherheit gibt es nicht, sosehr sich (Schul-)Gemeinden darum bemühen mögen. Das zeigt auch ein Blick in die Statistik: 2023 verunfallten in der Stadt Zürich 66 Kinder und Jugendliche im Strassenverkehr. Auf dem Schulweg befand sich nur ein Drittel, als ihnen etwas zustiess.